Neue Erkenntnisse aus dem Regenwald: Amazonien war ein dicht besiedeltes Gebiet
500 Jahre lang haben Außenstehende den größten Regenwald der Welt missverstanden. Das ändert sich nun.

Ein uraltes Wandgemälde an einer Felswand im kolumbianischen Chiribiquete-Nationalpark zeigt Jaguare, große Nagetiere namens Pacas und Piranhas. In der Region wurden mehr als 75.000 Gemälde gefunden, die Szenen aus dem prähistorischen Amazonasgebiet darstellen.
Die Geschichte, wie das Amazonasbecken zu seinem Namen kam, beginnt am 24. Juni 1542. Der spanische Konquistador Francisco de Orellana betete um einen Ausweg aus der grünen Welt, die seine Expedition verschluckt hatte. Sieben Monate lang hatte er sich mit noch zwei Booten vom Fuß der Anden über eine Reihe von Nebenflüssen gekämpft. Nun hatten sie endlich den größten Fluss erreicht, den sie je gesehen hatten. Orellana hoffte, dass er sie zum Atlantik bringen würde. Sein Begleiter, der Dominikanermissionar Gaspar de Carvajal, führte eine detaillierte Chronik ihrer Reise. Er hielt das Staunen der Europäer über die hoch entwickelten Kulturen fest, auf die sie stießen. An den Flussufern lagen große, dicht bevölkerte Siedlungen. Carvajal beschrieb Netzwerke breiter Straßen und Plätze, Befestigungen aus Palisaden und sorgsam bewirtschaftete Höfe. Manche Gemeinden versorgten sie gastfreundlich mit Maniok, Süßkartoffeln, Mais, Schildkröten.
Doch an diesem Junitag, fast tausend Kilometer entfernt vom Ende des riesigen Stroms, griff eine Armee von Kriegerinnen sie an. Die Anführerinnen „kämpften so mutig, dass die indianischen Männer nicht wagten, ihnen den Rücken zuzukehren“. Carvajal überlebte den Kampf mit einem Pfeil in der Seite. Er verglich die Frauen mit den Amazonen der griechischen Mythologie. Seine Berichte über die Südamerikareise, die ersten eines Europäers, taten die spanischen Behörden später als Fantasie ab. Und doch sollte der Begriff „Amazonas“, so unpassend er sein mag, der riesigen und komplexen Region den Namen verleihen. Bis heute wird Amazonien von Mythen geprägt. Erst seit einigen Jahren gehen Archäologen – ich bin einer davon – ihnen auf den Grund.
Der Mythos der Unberührtheit: Menschliche Spuren in Amazonien
Klickt man auf ein Satellitenbild des Amazonasbeckens, kann man leicht glauben, man sähe ein unberührtes Dschungelgebiet. Der Amazonas-Regenwald gleicht einem grünen Mantel aus 344 Milliarden Bäumen, der einen Großteil der nördlichen Hälfte Südamerikas bedeckt. Zoomt man heran, dann entdeckt man ein Labyrinth aus Flusstälern. Mehr als 6200 Flüsse und Nebenflüsse entwässern ein Gebiet, das in etwa so groß ist wie die gesamten USA. Es ist der größte und der artenreichste tropische Regenwald der Erde. Er beherbergt 40 000 Arten von Samenpflanzen, 2400 Fisch-, 1300 Vogel- und 1500 Schmetterlingsarten. Dieser Ort muss vom Menschen weitgehend unberührt sein, lautet eines der hartnäckigsten Missverständnisse. Wissenschaftler haben es in den vergangenen 40 Jahren systematisch widerlegt. Felsmalereien, Steinwerkzeuge und andere Relikte, die in abgelegenen Gebieten in Kolumbien und Brasilien gefunden wurden, bezeugen, dass die menschliche Präsenz im Amazonasbecken mindestens 13 000 Jahre zurückreicht.
Im Laufe der Zeit wuchs die Bevölkerung in dem Gebiet; bis 1492 lebten in der Region nach wissenschaftlichen Schätzungen bis zu zehn Millionen Menschen. Warum man Amazonien so lange missverstanden hat? In den Jahrhunderten nach Orellanas Reise versuchten die Portugiesen, das Amazonasbecken zu kolonisieren und seine Ressourcen auszubeuten. Sie dezimierten die Bevölkerung. Man nimmt an, dass von den Europäern eingeschleppte Krankheiten, etwa Pocken, mehr als 90 Prozent der indigenen Bevölkerung auslöschten. Die Praxis der Sklavenjagden trieb die meisten Überlebenden in entlegene Gebiete im Landesinneren. So wurden aus sesshaften Bauern nomadische Jäger und Sammler. Im 18. Jahrhundert fanden europäische Naturforscher, darunter Alexander von Humboldt, weite Gebiete mit dichter Dschungelvegetation vor, in denen nur wenige Menschen lebten. Sie nahmen an, dies sei schon immer so gewesen. Von Menschenhand geschaffene Erdwälle betrachtete man als natürliche Geländeformationen.

Im Süden Kolumbiens stellen Tikuna-Künstler rosa Delfinmasken aus der Rinde von Yanchama-Bäumen her und tanzen um ein Feuer, während sie Lieder singen, die die Rolle des Tieres in ihrer Kosmologie beschwören. Delfine nehmen seit Generationen einen zentralen Platz in den Mythologien der indigenen Gemeinschaften im gesamten Amazonasgebiet ein.
Indigene Landwirtschaft
Die auffällige Anzahl regionaler Sprachen? Aufeinanderfolgende Einwanderungswellen, glaubte man. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und auf dem Höhepunkt des Kautschukbooms – einer Zeit extremer Gewalt gegen indigene Völker – beschrieben Anthropologen die indigenen Gesellschaften fälschlich als kleine, nomadische Gruppen, die von Jägern und Sammlern abstammten. Das Bild verfestigte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts und prägt bis heute die Vorstellung vieler Menschen von der indigenen Geschichte Amazoniens. Als ich in den 1980er-Jahren mein Studium abschloss, lernte ich zwei amerikanische Anthropologen kennen, die mit indigenen Gruppen im östlichen Amazonasbecken zusammenarbeiteten. Darrell Posey erzählte mir von seiner Dokumentation der Kayapó, die beim Jagen und Sammeln von Früchten und Nüssen „Waldinseln“ in Savannengebie ten anlegten. William Balée beschrieb, wie die Ka’apor mittels Feuer das Wachstum von Palmenhainen förderten. Beide Gruppen gestalteten die Natur eindeutig nach ihren Bedürfnissen.
Diese Idee inspirierte mich, selbst nach neuen Antworten zur Geschichte Amazoniens zu suchen. Inzwischen haben Forscher eine überwältigende Menge neuer Belege zusammengetragen. Durch Untersuchungen des Regenwaldes wissen wir, dass nur 299 Arten die Hälfte der Bäume im Amazonasbecken ausmachen. Diese sogenannten hyperdominanten Arten sind für den Menschen besonders nützlich – zu ihnen gehören die Kohlpalme (Euterpe oleracea), die die Açai-Beeren liefert, der Kautschuk-, Paranuss- und Kakaobaum. Diese Arten sind in der Nähe präkolumbianischer archäologischer Stätten häufig zu finden, was auf eine langjährige Praxis der indigenen Bevölkerung hindeutet, die Amazonaswälder zu pflegen. Sie pflegten nicht nur die Bäume, sondern auch die Böden.
Wissenschaftlern fiel auf, dass indigene Einwohner Feldfrüchte auf Parzellen mit „Terra preta“ anbauten, einem Boden, der mit Holzkohle, organischen Stoffen sowie häufig mit Keramikscherben angereichert ist. Solche Stellen sind nicht nur äußerst fruchtbar – sie bleiben es auch über Jahrhunderte hinweg, ohne dass Dünger hinzugefügt werden muss. Archäologen haben Terra preta im gesamten Amazonasgebiet gefunden. Manche Parzellen datiert man auf ein Alter von 5000 Jahren. Und die großen Siedlungen, die Carvajal und andere frühe Europäer beschrieben hatten? Das Laserscansystem Lidar ermöglicht heute den Blick durch das dichte Blätterdach des Regenwaldes, sodass wir sehen können, wie frühe Gesellschaften das Land geformt haben (s. NatGeo 3/2024). Als ich 2019 in Bolivien arbeitete, nutzten Kollegen Lidar, um komplexe städtische Siedlungen der Casarabe-Kultur zu kartieren, die von etwa 500 bis 1400 n. Chr. existierte.
Die Siedlungen waren durch kilometerlange Dämme miteinander verbunden und umfassten Kanäle, Stauseen und Erdpyramiden. Durch Lidar wurden etwa tausend großflächige, komplexe Siedlungen im gesamten Amazonasbecken entdeckt und damit die Geschichte des Gebiets neu geschrieben. Wir wissen nun, dass hier nicht nur eine, sondern viele verschiedene Kulturen existierten – wie in Europa oder Asien. Heute konzentriert sich meine Arbeit, die von der National Geographic Society mitfinanziert wird, auf die Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften, um Lidar Untersuchungen ihres Landes durchzuführen, besonders in der Nähe von Gebieten, die abgeholzt wurden oder bedroht sind. Durch die Entdeckung archäologischer Stätten können wir bei der brasilianischen Regierung strengere Schutzmaßnahmen beantragen.
Außer Kontrolle: Illegale Aktivitäten
Währenddessen beschreiben Wissenschaftler im Schnitt alle zwei Tage eine neue Spezies im Amazonas becken. Ständig kommen neue Details hinzu, nimmt das neue Bild der Region und ihrer Geschichte schärfere Konturen an. In diesem Sinne entstand die „Perpetual Planet Amazon Expedition“ der National Geo graphic Society und Rolex. Sie unterstützt die Forschungen von 16 Wissenschaftlern, die von den Anden bis zur Atlantikküste in verschiedenen Disziplinen mit lokalen Partnern arbeiten. In unserer dreiteiligen Serie zeigen wir ihre Entdeckungen, fotografisch dokumentiert von Thomas Peschak und seinem Assistenten Otto Whitehead. Seit ich 1986 anfing, im brasilianischen Amazonasgebiet zu arbeiten, wurden zwölf Prozent des Waldes zerstört, großteils durch illegale Abholzung. Der illegale Goldabbau ist vielerorts außer Kontrolle geraten. Das organisierte Verbrechen nutzt illegale Aktivitäten zunehmend, um Geld aus dem Drogenhandel zu waschen. Manchmal sieht die Zukunft düster aus, aber ich bin sicher, dass wir Wege finden können, sie zu ändern. Wissenschaft ler und Politiker können von den indigenen Völkern und ihrer Art und Weise lernen, wie sie die komplexen natürlichen Systeme Amazoniens über Jahrtausende hinweg verwaltet und gestaltet haben. Die erste Lektion: Um eine nachhaltige Zukunft für das Gebiet zu entwerfen, sollten wir einen Blick in die Vergangenheit werfen.

Cover National Geographic 10/24
Die umfangreiche Reportage zum Amazonas lesen Sie im National Geographic Magazin 10/24. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!
