Yosemite - Der Traum aller Kletterer

Im kalifornischen Yosemite Valley reizt eine junge Generation von Kletterern neue Grenzen aus. Ihre Kraft und ihr Können lassen selbst die größten Bergsteiger erblassen.

Von Mark Jenkins
Foto von Jimmy Chin

Der Mann klebt an der senkrechten Flanke des Half Dome, einer glatten, 650 Meter hohen Granitwand im Yosemite-Tal. So hoch über dem Grund, dass ihn nur die Adler sehen. Er ist allein. Mit seinen Fingerspitzen krallt er sich an einen Vorsprung, der nicht viel breiter ist als eine Zwei-Cent-Münze. Seine Schuhe finden auf einer ähnlich schmalen Fläche Halt, auch sie sind kaum mehr als eine Unebenheit im Fels. Aus seinen Ohrhörern tönt ein Rap von Eminem.

Alex Honnold will schaffen, was noch niemandem vor ihm gelungen ist: die reguläre Route an der Nordwestflanke des Half Dome ohne Seilsicherung – free solo – zu durchsteigen. Nur noch knapp 30 Meter bis zum Gipfel, da widerfährt ihm, was einem Kletterer nie passieren darf: Er verliert sein Selbstvertrauen. Seit zwei Stunden und 45 Minuten schon ist der 23-jährige Athlet ganz auf die Wand und seinen Körper konzentriert, hat ohne einen Fehler Hunderte präzise Bewegungen ausgeführt. Und kein einziges Mal gezögert. Doch jetzt ist er mental erschöpft. Fühlt sich wie gelähmt. Wenn seine Fingerspitzen nicht ausreichend greifen, schon wenn er daran zweifelt, wird er in den Tod stürzen. Er erinnert sich noch genau: «Ich dachte, dass mein Fuß nie halten würde. ‹Das war’s›, so schoss es mir durch den Kopf.»

Zwei Tage zuvor, als er die gleiche Route mit Seil stieg, gab es dieses Gefühl nicht. Alles lief so glatt, dass er sich sicher war, hier problemlos free solo klettern zu können. Im Jahr 1957 war der 1475 Meter über dem Talgrund liegende Half Dome erstmals auf dieser Strecke bezwungen worden. Der Kalifornier Royal Robbins und seine Kletterpartner benötigten fünf Tage. Sie trieben ungefähr hundert Felshaken in das Gestein, an denen sie ihre Seile befestigen konnten – das nennt man technisches Klettern. Nur eine Generation später, 1976, begingen die aus Colorado stammenden Bergsteiger Art Higbee und Jim Erickson den Half Dome fast völlig frei in nur 36 Stunden – ihre Seile dienten ihnen lediglich zur Sicherung.

Jetzt steht Alex Honnold vor einem neuen, seinem wohl größten Rekord. Der Kletterer schmiegt sich an den Granit. Sucht die Balance. Greift behutsam erst mit der einen, dann mit der anderen Hand in seine chalkbag mit Magnesia, einem weißen Pulver, das den Schweiß absorbieren soll. Hält mit den Füßen den Stand auf diesem kaum sichtbaren Felsvorsprung. Spannt die Muskeln noch mehr, hebt den einen Fuß und presst ihn gegen die winzige Kante, findet Halt. Streckt seine Hand nach dem nächsten Vorsprung, klammert sich an diesem winzigen Absatz fest. Dann, nur ein paar Minuten später, ist er auf dem Gipfel. Zwei Stunden und 50 Minuten!

Im Yosemite-Tal werden Helden geboren. Woher sie auch kommen, ob aus den Alpen oder den Anden – irgendwann streben alle ernsthaften Felskletterer danach, sich an den Giganten dieses Nationalparks zu messen. El Capitan: ein blanker Schiffsbug aus Stein, so gewaltig, dass die 30 Meter hohen Ponderosa-Kiefern an seinem Fuß wie Stecklinge aussehen. Cathedral Rock: eine dunkle Festung, die immer im Schatten liegt. Half Dome: ein Granitfelsen in Gestalt eines halbierten Apfels, dessen Nordwestflanke die kühnsten Kletterer herausfordert. Für sie ist dies der Initiationsritus.

Wer heute im Yosemite-Tal ein Lager von Kletterern besucht, trifft dort immer noch auf Aussteiger. Genauso aber auf Ärzte und Anwälte. Man hört ein Dutzend verschiedener Sprachen: Tschechisch, Chinesisch, Thailändisch, Italienisch. Ein junger deutscher Ingenieur ist noch ganz hin und weg von seiner fünftägigen Besteigung des El Capitan, den sie hier nur „El Cap“ nennen. Eine junge Dänin, barfuß, mit Nasenpiercing, Dreadlocks und Tätowierung, balanciert auf einer slackline, einem zwischen zwei Bäumen gespannten Schlauchband. Felsklettern ist kein Nischensport mehr. Und anders als in den ersten Jahren betreiben es heute fast so viele Frauen wie Männer.

Ihr Vorbild ist Lynn Hill, 1961 in Detroit geboren, eine der besten Sportkletterinnen überhaupt. «Ich war 15, als ich zum ersten Mal im Camp 4 herumhing», sagt die heute 50-Jährige. «Damals war ich so ziemlich das einzige Mädchen.» Sie war in der High School Turnerin gewesen und empfand auch beim Klettern keinerlei Angst. Noch keine 17, hatte sie schon den Half Dome bestiegen. Wegbegleiter erinnern sich an sie als kräftigste, hartnäckigste, begabteste Kletterin, die ihnen je begegnet war. Nachdem sie ihre Fähigkeiten im Yosemite-Tal perfektioniert hatte, zog Hill weiter und gewann Dutzende Wettbewerbe in Europa. 1994 kehrte sie mit einem kühnen Vorhaben zurück: Sie wollte die „Nose“ genannte Route am El Capitan in einem Tag frei durchklettern. «All diese Besserwisser meinten, das sei unmöglich», sagt die Athletin. «Ich wusste es besser.»

„The Nose“, 889 Meter lang, ist die wohl berühmteste Kletterroute überhaupt. Wer sie bezwingen will, muss leiden. Muss Hände und Füße, ja: Finger und Zehen in senkrechte Felsspalten zwängen. Muss dann, nach zwei Dritteln der Strecke, rückwärts hängend einen Überhang bezwingen und der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen. Hill war entschlossen, dieses sogenannte Great Roof ohne irgendwelche Hilfe zu bewältigen. Dazu musste sie sich an kleinste Vorsprünge klammern und sogar kopfüber hängen. Immer wieder rutschten ihre Füße an der glatten Wand ab. Nur dank «graziler Tai-Chi-Tanzschritte», wie sie es nennt, gelang es ihr, jenseits des Great Roof anzukommen. Meist hing ihr ganzes Gewicht allein an ihren Fingerspitzen. Nach 23 Stunden war sie auf dem Gipfel. Für viele die größte Kletterleistung des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Geschwindigkeit – darum geht es der neuen Generation von Kletterern vor allem. Das ist der Trend. Die meisten Routen sind inzwischen bestens bekannt, Ausrüstung und auch das Können haben einen großen Sprung nach vorn gemacht. Und das Tempo ist heute ein viel wichtigeres Maß für die Fähigkeiten eines Kletterers als die Erkundung neuer Strecken.

Als Allen Steck und John Salathé 1950 erstmals die Route durchstiegen, die heute ihren Namen trägt, benötigten sie noch fünf Tage. Bei der Erstbegehung der „Nose“ quälte sich der Spaßvogel und Querkopf Warren Harding 1957 und 1958 sage und schreibe 47 Tage lang, verteilt auf anderthalb Jahre: Er arbeitete sich mühsam Abschnitt für Abschnitt vor und befestigte jeweils Haken im Fels. Heute brauchen langsame Kletterer drei bis fünf Tage. Die Nächte verbringen sie in „Portaledges“: winzigen Zelten, die an der Felswand hängen. Schnelle Athleten sind innerhalb eines Tages oben. Der Rekord für die „Nose“ liegt bei unvorstellbaren zwei Stunden, 36 Minuten und 45 Sekunden, aufgestellt im vergangenen November von Dean Potter gemeinsam mit Sean „Stanley“ Leary, zwei Legenden des internationalen Klettersports.

Vier Millionen Menschen besuchen das Yosemite Valley jedes Jahr. Darunter zwar nur ein paar tausend Kletterer, aber sie sind es, die den Mythos des Tals in die Welt tragen. Wie der 53-jährige Ron Kauk, einer der Väter des modernen Sportkletterns. Im Actionfilm „Cliffhanger“ doubelte er den Schaupieler Sylvester Stallone. «Ich kam als 15-jähriger Schüler hierher», sagt er – «und bin geblieben.»

Kauk hat einige der schwierigsten Routen im Tal erschlossen, wobei er sich fast immer mit einem Seil sichert. Das und sein Können haben ihn wohl vor dem Schicksal von 83 Kletterern bewahrt, die seit 1955 hier tödlich verunglückt sind. Überdies zwei der besten Solokletterer, die es hier je gab: Der Brite Derek Hersey stürzte 1993 an der Steck-Salathé-Route ab; der Kalifornier John Bachar, Kauks früherer Kletterpartner, im Jahr 2009, als er bei Mammoth Lakes free solo kletterte. «Wer Mist macht, der stirbt», so formuliert es mein Begleiter Dean Potter ganz unsentimental. Die junge Legende Alex Honnold ist dennoch überzeugt, dass diese Art des Kletterns im Yosemite-Tal ihre Grenzen noch längst nicht erreicht hat. «An sich sollte man ohne Seil deutlich schneller sein als mit Ausrüstung», sagt er. Viele Routen an anderen Felswänden als dem Half Dome sind überhaupt noch nie free solo begangen worden. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis jemand es versucht.

Sehen Sie hier das Video zu Jimmy Chin und der Entstehung seiner Fotostrecke im Yosemite-Tal:

(NG, Heft 5 / 2011)

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