Über 99 % Weibchen – Riesige Kolonie von Meeresschildkröten vor dem Aus?

In der größten Kolonie von Suppenschildkröten im Pazifik entwickelt sich eine Krise, die fatale Folgen haben könnte.

Von Craig Welch
Veröffentlicht am 17. Jan. 2018, 17:27 MEZ
Eine Meeresschildkröte schwimmt im seichten Wasser.
Eine Meeresschildkröte schwimmt im seichten Wasser.
Foto von Thomas P Peschak, National Geographic Creative

Als die Wissenschaftler auf Ingram Island landeten, hatten sie den Plan gefasst, den Schildkröten ihre intimsten Geheimnisse zu entlocken.

Suppenschildkröten verbringen Jahre damit, an dieser Futterstelle im Norden Australiens umherzuschwimmen und sich mit Seegras vollzustopfen, um sich dann zu ihren Nistplätzen zu begeben. Dort paaren sie sich und legen ihre Eier ab. Die Wissenschaftler wollten einfach nur wissen: Welche der Reptilien waren männlich und welche waren weiblich?

Man kann das Geschlecht einer Meeresschildkröte nicht immer nur durch einen geübten Blick bestimmen, also begann ein Schildkröten-Rodeo. Die Forscher standen auf kleinen Felsvorsprüngen und rannten auf schwimmende Schildkröten zu, um sich auf sie zu stürzen und sie an ihren Panzern zu greifen. Nachdem sie die entsprechende Schildkröte dann sanft ans Ufer gelenkt hatten, nahmen sie DNA- und Blutproben und machten einen winzigen Einschnitt, um die Geschlechtsdrüsen der Tiere zu inspizieren.

Steigende Temperaturen sorgen für Männchenmangel bei Schildkröten
Die steigenden Temperaturen vor den australischen Küsten haben womöglich verheerende Folgen für den Bestand an Suppenschildkröten: Sie sorgen dafür, dass aus fast all ihren Eiern Weibchen schlüpfen.

Da das Geschlecht einer Meeresschildkröte durch die Temperatur des Sandes bestimmt wird, in dem die Eier sich entwickeln, hatten die Wissenschaftler vermutet, dass sie ein paar mehr Weibchen finden würden. Schließlich war die Temperatur des Meeres und der Luft durch die Klimaerwärmung gestiegen, was bei diesen Tieren die Entwicklung weiblicher Exemplare begünstigt. Stattdessen entdeckten sie, dass weibliche Meeresschildkröten der größten und wichtigsten Suppenschildkrötenkolonie des Pazifiks den Männchen nun zahlenmäßig 116:1 überlegen waren.

„Das ist extrem – und zwar die Art von extrem mit Großbuchstaben und Ausrufezeichen“, sagt die Schildkrötenwissenschaftlerin Camryn Allen von der National Oceanic and Atmospheric Administration in Hawaii. „Wir reden von einer Handvoll Männchen, die auf Hunderte und Aberhunderte von Weibchen kommen. Wir sind geschockt.“

Die neue Studie wurde von Allen und ihren Kollegen in „Current Biology“ veröffentlicht. Sie ist nur die jüngste in einer Reihe von Studien, die darauf schließen lassen, dass die steigenden Temperaturen zu einem Überhang von Weibchen in den weltweiten Populationen der Meeresschildkröten führen. Es ist allerdings der detaillierteste Blick darauf, wie bedeutsam dieses Problem schon heute ist. Die Studie wirft neue Fragen darüber auf, wie die Risiken für Meeresschildkröten und andere Tierarten aussehen, die von den Temperaturen abhängig sind – von Alligatoren und Leguanen bis zu dem kleinen Ährenfisch Menidia beryllina, einem wichtigen Fisch in vielen Flüssen und Mündungsgebieten.

„Wir arbeiten hier mit einer der größten Schildkrötenpopulationen der Welt und jeder denkt, dass das bedeutet, dass die Dinge gut stehen“, sagt der Meeresbiologe Michael Jensen. Er ist der Hauptautor der neuen Studie und ein Forscher am Southwest Fisheries Science Center der NOAA in La Jolla, Kalifornien. „Aber was passiert in 20 Jahren, wenn hier keine ausgewachsenen Männchen mehr herkommen? Gibt es noch genug, um die Population zu erhalten?“

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    An einem Strand schlüpft eine Meeresschildkröte.
    Foto von Jason Edwards, National Geographic Creative

    „Es war deutlich schlimmer als befürchtet“

    Suppenschildkröten können bis zu 185 Kilogramm schwer werden und haben herzförmige Panzer. Sie legen ihre Eier hauptsächlich an zwei Orten ab: einer Inselgruppe nahe Brisbane im südlichen Abschnitt des Great Barrier Reef und auf Raine Island, einer abgelegenen Insel etwa 1.200 Kilometer weiter nördlich. Ein paar Jahre, nachdem die kleinen Schildkröten geschlüpft sind, vermischen sich die Tiere von beiden Orten und schwimmen in den seichten Wassern des Korallenmeers. Dort bleiben sie um die 25 Jahre oder länger, bis sie zu einem der beiden Orte zurückkehren, um sich zu paaren. Über Jahrzehnte hinweg kehren sie immer wieder zu denselben Futterstellen zurück.

    Jensen wollte wissen, ob der Klimawandel das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Schlüpflingen bereits verändert hatte. Durch die genetischen Tests konnte er Schildkröten jeden Alters von einer Futterstelle zu ihren spezifischen Nistgründen zurückverfolgen. Dennoch fehlte bei diesen demografischen Daten ein wichtiger Aspekt: das Geschlecht. Man kann das Geschlecht einer Schildkröte erst dann bestimmen, wenn sie ausgewachsen ist. (Ausgewachsene Männchen haben etwas längere Schwänze.) Bis dahin können Jahrzehnte vergehen. Daher führen Wissenschaftler zu diesem Zweck oft eine Laparoskopie durch, bei der sie einen dünnen Schlauch in das Tier einführen, um seine Geschlechtsorgane zu betrachten. Allerdings ist das ein invasiver Eingriff und nicht besonders praktisch, wenn man Hunderte von Tieren untersuchen will. Jensen war mit seinem Latein am Ende. (Lesenswert: Welche Tiere aufgrund des Klimawandels wahrscheinlich zuerst aussterben)

    Auf einer Schildkrötenkonferenz in Mexiko traf er dann zufällig Allen, eine ehemalige Koalawissenschaftlerin. Allen hatte über Testosteronkonzentrationen Schwangerschaften bei baumbewohnenden Beuteltieren verfolgt. Als Nächstes ging sie dazu über, das Geschlecht von Meereslebewesen anhand ihres Hormonspiegels zu bestimmen. Sie brauchte dafür nur ein wenig Blut.

    Das Duo tat sich mit anderen Forschern zusammen, darunter auch der australische Schildkrötenexperte Ian Bell, und nahm Blutproben von den Schildkröten des Great Barrier Reef. Außerdem führten sie ein paar Laparoskopien durch, um die Verlässlichkeit von Allens Methode zu bestätigen. Sie verglichen ihre Ergebnisse mit den Temperaturdaten für die Niststrände und untersuchten Schildkröten unterschiedlichen Alters. Die Ergebnisse waren eine Überraschung.

    „Es war deutlich schlimmer als befürchtet“, sagt Allen.

    Es scheint, als wären auf Raine Island in den letzten 20 Jahren fast ausschließlich Weibchen geschlüpft. Das ist keine Banalität. Die knapp über drei Hektar große Insel und die dazugehörigen kleinen Koralleninseln beheimaten eine der größten Suppenschildkrötenkolonien der Welt. Mehr als 200.000 Schildkröten kommen dorthin, um ihre Eier abzulegen. Während der Hochsaison können sich dort bis zu 18.000 Schildkröten auf einmal tummeln – und das sind nur die Weibchen.

    Da die Wissenschaftler auch das ungefähre Alter der untersuchten Schildkröten bestimmen konnten, machten sie noch eine weitere Entdeckung. In einem Abschnitt des nördlichen Great Barrier Reef, in dem die steigenden Temperaturen in den letzten Jahren zunehmend zu Ausbleichungsereignissen bei Korallen geführt haben, hatte sich das Verhältnis von Weibchen zu Männchen mit der Zeit massiv verschoben. Die Schildkröten, die dort in den 70ern und 80ern geschlüpft waren, waren ebenfalls schon vornehmlich Weibchen, aber nur in einem Verhältnis von 6:1. (Lesenswert: In 30 Jahren könnten unsere Korallenriffe verschwunden sein)

    „Das ist eine bahnbrechende Arbeit“, sagt Brendan Godley, ein Experte für Meeresschildkröten und Professor für Naturschutzwissenschaften an der Universität von Exeter. Er war an der aktuellen Studie nicht beteiligt. Der Umfang und der multidisziplinäre Ansatz machen diese Forschungsergebnisse extrem wertvoll, sagt er.

    Von genau so großer Bedeutung ist das, was Jensen und Allen weiter südlich gefunden haben. Den Schildkröten, die dort im südlichen Riffabschnitt in der Nähe von Brisbane schlüpften – wo die Temperaturen nicht signifikant angestiegen und die Korallen noch recht gesund sind –, geht es deutlich besser. Dort beträgt das Verhältnis von Weibchen zu Männchen aktuell nur 2:1.

    „In Kombination mit einem akkuraten Modell zeigt das, dass an den kühleren Stränden im Süden noch Männchen schlüpfen, aber dass im tropischeren Norden fast ausschließlich Weibchen schlüpfen“, sagt Godley. „Diese Ergebnisse zeigen ganz klar, dass der Klimawandel viele Aspekte der Wildtierbiologie verändert.“

    Es ist noch mehr Arbeit nötig, um das wechselnde Verhältnis der Geschlechter von Suppenschildkröten in anderen Teilen der Welt zu untersuchen – wie hier auf den Galapagosinseln.
    Foto von Chris Newbert, Minden Pictures, National Geographic Creative

     

    Aber wie weit ist dieses Phänomen verbreitet – und wie folgenschwer?

    „Die Temperaturen ändern sich unglaublich schnell“

    Derzeit weiß das niemand.

    Da sich männliche Meeresschildkröten oft mit mehr als einem Weibchen paaren und sich generell auch öfter als Weibchen paaren, könnte ein leichter Überhang an Weibchen von Vorteil sein. Eine kürzlich erfolgte Untersuchung von 75 Schildkrötennistplätzen auf der ganzen Welt ergab, dass das Verhältnis von Weibchen zu Männchen ungefähr 3:1 beträgt. Tatsächlich schlüpften bei einigen Populationen schon vor 100 Jahren weniger Männchen als Weibchen. Die Frage ist allerdings: Wie sehr hat sich dieses Verhältnis verändert, wie viel ist zu viel?

    Meeresschildkröten existieren schon seit 100 Millionen Jahren, und während dieser Zeit stiegen und fielen die Temperaturen. Nach Jahrzehnten des Rückgangs durch Jagd, Wilderei, Verschmutzung, Krankheiten, menschliche Ausbreitung, Verlust von Lebensraum und die kommerzielle Fischerei (in der Schildkröten oft als Beifang enden), haben viele Schildkrötenpopulationen auf der Welt kürzlich wieder Anzeichen einer Erholung gezeigt.

    „Aber die Temperaturen ändern sich unglaublich schnell“, sagt Jensen. „Für eine evolutionäre Anpassung der Tiere sind viele Generationen nötig. Aber diese Tiere haben eine Lebensspanne von 50 oder noch mehr Jahren, und die Situation verändert sich schon während ihrer Lebenszeit dramatisch.“

    Allein auf Raine Island hat der ansteigende Meeresspiegel schon dazu geführt, dass Nistplätze samt den abgelegten Eiern überflutet wurden. Durch die Erosion des Strandes entstehen kleine Klippen, von denen ausgewachsene Suppenschildkröten hinunterfallen. Wenn sie auf ihrem Rücken landen, können sie sich nicht wieder aufrichten und sterben. Australische Behörden investieren Millionen von Dollar, um die Insel auszubessern und das Leben der Schildkröten zu verbessern.

    Dennoch: Wissenschaftler warnen schon seit mindestens 35 Jahren davor, dass der Klimawandel das Gleichgewicht zwischen Männchen und Weibchen aller sieben Arten von Meeresschildkröten – Suppenschildkröten, Unechten und Echten Karettschildkröten, Lederschildkröten, Wallriffschildkröten, Oliv-Bastardschildkröten und Atlantik-Bastardschildkröten – gefährden könnte. Die Reptilien sind so temperaturempfindlich, dass ein Anstieg von wenigen Grad an manchen Orten dazu führen könnte, dass ausschließlich Weibchen schlüpfen. Das könnte letztendlich zum Verschwinden ganzer Populationen führen. Wenn die Temperaturen noch weiter ansteigen, wird es noch schlimmer: Dann könnten die Eier in ihren Nestern wortwörtlich kochen.

    Die Antwort auf die Frage, ab welchem Punkt die Anzahl der Männchen zu gering wird, um eine Population zu erhalten, ist schwieriger zu beantworten. Je nach Art und Standort kann sie unterschiedlich ausfallen. Außerdem kann der ausschlaggebende Faktor – die Temperatur – durch lokale Faktoren beeinflusst werden. Im Chagos-Archipel im Westen des Indischen Ozeans wird ein gesundes Verhältnis von Weibchen zu Männchen durch mehrere externe Einflüsse erhalten: Regengüsse, die den Sand abkühlen, der Schatten der Blätter von Bäumen, die an der Küste wachsen, sowie schmale Strände, durch die die dortigen Echten Karettschildkröten ihre Eier näher am Wasser ablegen müssen. Wissenschaftler warnen davor, dass die Meeresschildkröten in der Karibik durch die dortige Abholzung gefährdet sind, da der fehlende Schatten zu einem Mangel an Männchen führen könnte.

    „Das wirklich Erschreckende“

    All das macht die Forschung am Great Barrier Reef umso überzeugender, sagt der Experte für Meeresschildkröten Nicolas Pilcher, der an der Studie nicht beteiligt war. Dort bieten die meisten Strände keinen Schatten, weshalb der Zusammenhang zwischen Temperatur und Geschlecht deutlicher ist. Die Zahl der betroffenen Schildkröten geht vermutlich in die Hunderttausende. Bisher hat keine andere Studie an so einem wichtigen Ort ein so überproportionales Verhältnis von Weibchen zu Männchen aufgezeigt – teilweise deshalb, weil niemand herausgefunden hatte, wie das zu schaffen ist.

    „[Die Studie] ist insofern einzigartig, als dass die Population auf Raine Island so groß ist, dass die Auswirkungen der (potenziellen) Verluste gewaltig sein werden. Außerdem haben die Autoren ihre Daten ‚zurückverfolgt‘ und gezeigt, dass es früher eine gleichmäßigere Verteilung der Geschlechter gegeben hat“, sagt Pilcher.

    Allen macht sich vor allem Sorgen darum, was die Ergebnisse für tausende andere Populationen von Meeresschildkröten auf der ganzen Welt bedeuten könnten, die noch nicht auf diese Weise untersucht wurden – was im Grunde alle sind. Sie und Jensen wollen ihre Technik nun auch an anderen Nistplätzen anwenden und haben in Guam, Hawaii und Saipan bereits Proben genommen. (Lesenswert: Die Zeit für Rettung der Korallenriffe läuft ab)

    „Im nördlichen Great Barrier Reef gibt es eine der weltweit größten und genetisch vielfältigsten Populationen von Meeresschildkröten“, sagt Allen. „Das wirklich Erschreckende ist aber, dieses Problem auf Populationen zu übertragen, die bereits extrem klein sind.“

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