Der „berühmteste Wolf der Welt“ und sein tragischer Tod

Das Alphaweibchen herrschte über ein Yellowstone-Rudel und konnte Hirsche im Alleingang erlegen. Doch außerhalb des Nationalparks war es ungeschützt.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 14. Apr. 2018, 06:00 MESZ

2012 wurde der „berühmteste Wolf der Welt“ außerhalb des Yellowstone-Nationalparks von einem Trophäenjäger erschossen. Das Weibchen war unter der Bezeichnung ‘06 bekannt. Sein Tod löste einen internationalen Aufschrei aus, der mit dem nach der Tötung des Löwen Cecil 2015 vergleichbar war. Allerdings machte er auch auf die Notlage der Wölfe aufmerksam und auf den Bedarf nach größerem Schutz, wie Nate Blakeslee in seinem Buch „American Wolf“ erklärt.

Blakeslee sprach mit uns über die Wiedereinführung der Wölfe im Yellowstone und die dadurch entstandenen Folgen, warum der Streit um die Wölfe Teil eines größeren Konflikts ist und was den Jäger motivierte, der ‘06 erschoss.

Der Hauptcharakter in Ihrem Buch ist ‘06 (von Forschern auch als 832AF bezeichnet). Stellen Sie uns dieses unglaubliche Tier vor.

‘06 war das Alphaweibchen eines der prominentesten Rudel des Yellowstone-Nationalparks. Sie fiel Wolfbeobachtern 2009 das erste Mal auf, als sie als einsamer Wolf umherzog. Wölfe müssen ihr Familienrudel verlassen, um ihren Platz in der Welt und einen Partner zu finden sowie ein eigenes Revier zu etablieren.

Sie war schon eine ganze Weile umhergewandert, als man sie in einem Bereich des Parks namens Lamar Valley entdeckte, einem Mekka für Wolfbeobachter im Yellowstone. Man beobachtete, wie sie sich mit einer Reihe von Männchen paarte, aber nie sesshaft wurde. Sie hatte eine Menge Mut und war sehr abenteuerlich und zog deshalb die Aufmerksamkeit der Leute auf sich.

Es ist gefährlich für Wölfe, so allein umherzuwandern und zu versuchen, ein Revier zu finden. Die meisten verschlägt es am Ende zu dem Rudel zurück, in dem sie geboren wurden, oder sie werden von Rivalen getötet. Aber sie hatte ein Talent dafür, Ärger aus dem Weg zu gehen. Außerdem war sie sozial sehr gewandt und geschickt darin, Revierstreitigkeiten zu umschiffen.

Die Wolfbeobachter beschrieben sie als Jägerin, wie man sie nur einmal in jeder Generation findet. Die Wölfe in den nördlichen Rockys fressen hauptsächlich Wapitis, die zur Familie der Hirsche gehören, aber riesige Tiere sind. Ein Weißwedelhirsch wiegt um die 68 Kilogramm. Wapitis werden bis zu 315 Kilogramm schwer, was sie fünf- bis sechsmal schwerer als die Wölfe macht, von denen sie gejagt werden.

Jedes Mal, wenn ein Wolf einen Wapiti jagt, riskiert er sein Leben, weil die Raubtiere regelmäßig durchbohrt oder getreten werden. Im Normalfall ist ein ganzes Rudel nötig, um einen Hirsch zu reißen.

Aber ‘06 hat ein Talent dafür entwickelt, sie ganz allein zu erlegen. Sie war ein ungewöhnlich großes Weibchen und wog etwa 45 Kilogramm, und sie war außergewöhnlich stark. Sie hatte außerdem eine sehr schöne Färbung mit so einer Art eulenähnlicher Maske um die Augen, die sie auffällig machte.

Das Thema Wölfe polarisiert ungemein. Erzählen Sie uns von den zwei entgegengesetzten Lagern und ihren Ansichten.

Als die Wölfe in den nördlichen Rockys wiedereingeführt wurden, war das eine extrem kontroverse Entscheidung. Die Viehwirtschaft ist dort ein Riesengeschäft. Die Vorfahren der Rancher habe die Wölfe dort ausgerottet und die Rancher hatten kein Interesse daran, die Tiere zurückkehren zu sehen.

Auch geführte Hirschjagden sind in den nördlichen Rocky Mountains ein großes Geschäft. Das Gebiet Crandall östlich des Yellowstone gilt als eines der besten Hirschjagdgebiete der Welt. Dort sind acht bis neun Unternehmen tätig, die geführte Touren anbieten. Da kommen Menschen aus dem ganzen Land und die Führer können pro Jagd Tausende Dollar verlangen. Sie wussten: Wenn die Wölfe zurückkämen, würde es weniger Wapitis geben, was ihren Lebensunterhalt gefährden könnte.

Auf der anderen Seite hat man die Fürsprecher des Wolfes, die Umweltschützer und die Biologen. Sie wussten, dass der Yellowstone arg aus dem Gleichgewicht geraten war. Es gab viel zu viele Wapitis und Beutetiere, weil vor 70 bis 80 Jahren alle Raubtiere ausgerottet worden waren. Sie wollten das Ökosystem wieder in sein natürliches Gleichgewicht bringen, das bestand, bevor die Europäer kamen und die Wölfe jagten.

Nachdem man die Wölfe wiedereingeführt hatte, entstand auch ein neuer Kundenkreis von Ökotouristen und Wolfbeobachtern. Dienstleister kamen auf, die Touren für Leute veranstalteten, die Hirsche und Wölfe sehen wollten. Der Kampf zwischen diesen beiden rivalisierenden Lagern spitze sich genau zu jener Zeit zu, als ‘06 berühmt wurde.

Der Begriff „trophische Kaskade“ wird benutzt, um die Auswirkungen zu beschreiben, die ein Spitzenprädator wie ein Wolf auf das Ökosystem hat. Erklären Sie uns, was genau das bedeutet – und beschreiben Sie, wie die Wiedereinführung des Wolfes in den Yellowstone dazu führte, dass Flora und Fauna aufblühten.

Als man den Wolf zurückbrachte, veränderte und verbesserte das die Landschaft rasant auf eine Art und Weise, die selbst die Biologen nicht vorhergesehen hatten. Zunächst gab es im Yellowstone viel mehr Wapitis, als im Park eigentlich Platz hatten. Die Wölfe reduzierten diese Zahl wieder auf ihren historischen Wert, bevor die Europäer in den Yellowstone kamen.

Außerdem begannen dann andere Arten, sich gut zu entwickeln. Die Hirsche konnten sich nicht mehr in großer Zahl in den Tälern zusammenrotten und dort in Ruhe grasen. Sie mussten viel vorsichtiger sein und mehr Zeit in größeren Höhen verbringen.

Eine Auswirkung dieses Umstandes war es, dass sich die Vegetation erholte. Die Espen und Weiden kehrten zurück, was wiederum die Biber in den Park zurücklockte, die sich hauptsächlich von Weiden ernähren. Biber verändern das Profil eines Flusses und vertiefen ihn, indem sie Dämme und Becken bauen, was wiederum besser für Fische ist.

Die Wölfe haben außerdem die Kojotenpopulation des Yellowstone reduziert, die die dichteste in ganz Amerika war. Die Kojoten hatten dafür gesorgt, dass es viel zu wenige Nagetiere im Park gab. Als die Wölfe einmal anfingen, einige der Kojoten zu töten – nicht aus Hunger, sondern um ihr Revier zu verteidigen –, schnellte auch der Bestand an Nagetieren wieder in die Höhe.

Das Ergebnis war, dass auch andere Tiere, die sich von Nagern ernähren – zum Beispiel große Greifvögel, Füchse und Dachse – zurückkehrten. Der Renaissance all dieser Arten war ein direktes Resultat der Wiedereinführung des Spitzenraubtiers.

Sie schreiben: „Wölfe waren nur der jüngste Krisenherd in einem Kampf, der im Westen der USA schon seit Jahrzehnten brodelt. Der wirkliche Kampf fand um öffentliches Land statt.“ Erklären Sie uns die Hintergründe.

Große Bereiche des US-amerikanischen Westens gehören der Regierung. Das bedeutet, dass die Regeln in Washington gemacht werden, nicht in der Hauptstadt von beispielsweise Idaho, Wyoming oder Montana – den Staaten im Umkreis des Yellowstone. Das hat im Laufe der Jahre für Verbitterung gesorgt, besonders, als die Umweltbewegung populärer wurde und Washington mehr darauf einging.

Einige der traditionellen Arten der Landnutzung im Westen – Waldrodung, Bergbau, Jagd, Viehzucht – verkörpern sehr mächtige Interessen. Der große politische Kampf der letzten Generation drehte sich also darum, wer die Regeln machen sollte und für welche Zwecke öffentliches Land genutzt werden sollte. Das wurde als Sagebrush Rebellion bekannt: Die Abgeordneten der westlichen Bundesstaaten begehrten gegen die Bürokraten in Washington auf, die ihrer Meinung nach ihre Befugnisse überschritten.

‘06 wurde schlussendlich außerhalb der Grenzen des Yellowstone von einem Jäger getötet. Sie haben den Mann aufgespürt, der sie erschossen hat. Hat er Ihnen erzählt, warum er das getan hat?

Im Wyoming dürfen Regierungsbeamte den Namen einer Person, die einen Wolf erschossen hat, nicht öffentlich machen – auch nicht den Ort, an dem der Wolf geschossen wurde. Damit soll die Privatsphäre der Person geschützt werden, weil das durchaus kontrovers ist. Sein Name stand nie in irgendeinem Zeitungsartikel über den Tod von ‘06, aber ich konnte ihn in Crandall in Wyoming ausfindig machen.

Das ist eine ziemlich kleine Gemeinde, in der jeder jeden kennt. Überraschenderweise hatte er sich bereit erklärt, mir ein Interview zu geben. Ich wusste, dass meine Leser wissen wollen würden, was für ein Mensch so ein Tier erschießen würde und warum.

Auf seine Bitte hin nenne ich ihn im Buch Steven Turnbull (nicht sein echter Name). Er ist mittleren Alters und ein echter Jagd-Aficionado. Er ist sehr auf Hirsche fixiert und verbringt damit fast so viel Zeit wie die Wolfbeobachter im Park mit den Wölfen. Sein ganzes Leben dreht sich um die Jagd. Ich vergleiche ihn mit einem Ski-Freak, aber mit Gewehr und Bogen anstatt mit Skiern oder einem Snowboard. [Lacht]

Er und viele andere Menschen in Crandall finden, dass es ein Fehler war, die Wölfe zurückzubringen, weil das zu einem drastischen Rückgang von Wapitis in der unmittelbaren Nähe des Yellowstone führte. Crandall war deshalb so beliebt, weil im Winter die Wapitis dorthin kamen, wenn es zu kalt und zu verschneit war, um im Yellowstone zu leben. Das machte es natürlich leicht, sich einen Hirsch zu schießen. Nach der Wiedereinführung der Wölfe wurde das aber deutlich schwieriger.

Turnbull wusste nicht, dass er den berühmtesten Wolf der Welt erschoss und dass es sich um ein Tier handelte, dass mit einem Halsband markiert war. Im Winter kann man die Halsbänder aus der Ferne nur schwer sehen, weil das Fell der Wölfe so dicht ist.

Aber er war begeistert, dass er in der ersten legalen Jagdsaison in Wyoming einen Wolf erlegt hatte. Für ihn war es der Höhepunkt seiner Karriere als Trophäenjäger, ein Tier zu schießen, das seit Langem niemand mehr legal erlegen konnte. Er fand auch, dass er seiner Gemeinde einen Gefallen getan hat. Er sagte, dass es absolut legal war und dass er es wieder tun würde.

Er ist nicht ideologisch gegen Wölfe, wie es viele Menschen in der Gegend sind und wie man es von einem Jäger wie ihm erwarten würde. Er hat mir erzählt, dass er sie für faszinierende Wesen hält, die ihren Platz in der Landschaft haben. Aber er ärgerte sich über die niedrigere Zahl von Hirschen. In unserem letzten Interview hat er mir erzählt, dass er zum ersten Mal in seinem Leben keine Genehmigung bekommen hat, um einen Hirsch zu schießen. Das hat ihn extrem verärgert und eines der letzten Dinge, die er zu mir sagte, war: „Ich bin gegen Wölfe. Ich will sicher sein, dass das klar ist.“

Was hat Sie an Wölfen am meisten inspiriert?

Es wurden viele Bücher darüber geschrieben, wie man mit dem Wolf am besten umgehen sollte. Ich wollte ein Buch mit einer narrativen Linie schreiben, die dem Leben diesen einen Wolfes in romanhaftem Detail folgt. Das Argument des Buches ist zum Teil auch, dass jeder Wolf so ist, nicht nur der eine, der berühmt wurde. Jedes Wolfsleben ist eine Abenteuergeschichte.

Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

Simon Worrall auf Twitter und seiner Website folgen.

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