Weibliche Schimpansen spielen mit „Puppen“

Angeborenes und erlerntes Verhalten könnten zusammen auf geschlechtsspezifische Unterschiede beim Spielverhalten einwirken.

Von Brian Handwerk
Veröffentlicht am 5. Sept. 2018, 15:22 MESZ
chimpanzee children choose boy girl toys
Ein junger Schimpanse im Mahale-Mountains-Nationalpark in Tansania.
Foto von Michael Poliza, National Geographic/Getty Images

Junge weibliche Schimpansen der Kanyawara-Familiengruppe im Kibale-Nationalpark in Uganda nutzen Stöcke als rudimentäre Puppen und kümmern sich so um sie, wie die Schimpansenmütter der Gruppe sich um ihren echten Nachwuchs kümmern. Das Verhalten, das bei Männchen nur selten beobachtet wurde, ist im Verlauf der 14-jährigen Studie mehr als einhundertmal verzeichnet worden.

„Die Stöcke dienen keinem direkten Zweck. Sie tragen sie nur herum – manchmal ein paar Minuten lang, manchmal auch stundenlang“, erklärte der Studienleiter Richard Wrangham 2010 in einer E-Mail an National Geographic. Der Primatologe der Harvard University ist einer der Leiter des Kibale Chimpanzee Project.

„Die Träger der Stöcke nehmen sie tagsüber mit in ihre Nester, was bei anderen Gegenständen nicht der Fall ist. Die Individuen spielen in ihrem Nest auch mit ihren Stöckchen.“

ANGEBOREN ODER ERLERNT?

Die Studie ist der erste bekannte Fall, bei dem im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung ein Unterschied im Spielverhalten mit Gegenständen zwischen den zwei Geschlechtern derselben Tierart beobachtet wurde. Das Phänomen ist vor allem von menschlichen Kindern sowie Südlichen Grünmeerkatzen und Rhesusaffen in Gefangenschaft bekannt, wie Wrangham sagte.

Junge weibliche Affen in Gefangenschaft bevorzugten mitunter Puppen als Spielzeuge, während ihre männlichen Artgenossen Spielzeuge wie Spielautos bevorzugten.

 „Der Umstand, dass männliche und weibliche Affen in Gefangenschaft jeweils typisch männliche und typisch weibliche Spielzeuge für Menschen bevorzugten, lässt vermuten, dass es irgendeinen biologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt, der für diese Bevorzugung unterschiedlicher Spielzeugarten sorgt“, schrieb Sonya Kahlenberg in einer E-Mail. Die Co-Autorin der Studie arbeitet als Biologin am Bates College in Maine, USA.

„Was wir nicht wissen, ist, wie sich das bei Primaten in der Wildnis verhält.“

Die Studie verlieh Kahlenbeg einen besseren Einblick in das Verhalten und deutet darauf hin, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Spielverhalten zumindest teilweise biologisch sind.

Das liegt auch daran, dass junge Schimpansen in der Wildnis ihre Eltern nie mit Gegenständen wie Stöcken spielen sehen.

ZUSAMMENSPIEL

Allerdings seien angeborenes und erlerntes Verhalten keine sich gegenseitig ausschließenden Kategorien, wie der Studienleiter Wrangham hinzufügte.

Es sei möglich, dass biologische Faktoren, die geschlechtsspezifisches Spielverhalten beeinflussen, einen evolutionären Vorteil darstellen, indem sie zukünftige Mütter beispielsweise darauf vorbereiten, ihren Nachwuchs zu tragen, während sie klettern oder essen. Allerdings ist dieses spezielle Verhalten womöglich nicht verbreitet genug, um einen großen Vorteil zu bieten.

Wrangham zufolge sei es aber auch denkbar, dass das Umhertragen von Stöcken nur ein verspielter Ausdruck kognitiver Fähigkeiten ist, die zwar Menschen und Schimpansen, aber nur wenigen anderen Tieren zu eigen sind.

„Diese Fähigkeit wäre dann ein Vorstellungsvermögen – ein geistiges Bild zu formen, das nicht real ist, aber dennoch die Realität repräsentiert.“

Angeborenes und erlerntes Verhalten könnten auch im Zusammenspiel funktionieren, wie Walter Gilliam hinzufügt, der Direktor des Edward Zigler Center in Child Development and Social Policy der Yale School of Medicine.

„Diese spannende Studie scheint die Idee zu untermauern, dass [das Spielen mit Puppen] wahrscheinlich teilweise in der Biologie begründet liegt, teilweise in der Sozialisation und zum größten Teil wahrscheinlich in der Interaktion zwischen beiden – dort könnte der echte Zauber liegen.“

„Das ist definitiv sehr nützlich, wenn wir das, was wir bei Menschen und bei von Menschen aufgezogenen Primaten sehen, auch bei Primaten sehen, die von Primaten aufgezogen wurden“, sagte Gilliam, der an der Studie nicht beteiligt war.

„Wie auch immer die Mischung aus Genen und Umwelt aussieht, sie scheint in allen drei Fällen eine Rolle zu spielen.“

VONEINANDER LERNEN

Einige Verhaltensweisen von Schimpansen scheinen nur in bestimmten Gruppen aufzutreten – zum Beispiel das Knacken von Nüssen oder die Verwendung von Stöcken zum „Angeln“ von Termiten. In solchen Fällen scheint das Verhalten von den Erwachsenen an den Nachwuchs weitergegeben worden zu sein.

Das Herumtragen von Stöcken wurde bei tatsächlichen Schimpansenmüttern noch nicht beobachtet. „Stattdessen scheint es sich um ein Verhalten zu handeln, das in der Kindheit der Schimpansen auftritt“, sagte die Co-Autorin Kahlenberg, deren Studie in „Current Biology“ erschien.

„Daher lernen die Jungtiere es wahrscheinlich voneinander. Diese Art der ‚jugendlichen Tradition‘ wurde bei Schimpansen zuvor noch nicht vermerkt, aber ist natürlich von Menschen bekannt. Man denke nur an Spielplatzspiele wie zum Beispiel Himmel und Hölle, die die Kinder voneinander lernen.“

Das an Puppenspiel erinnernde Verhalten mit den Stöcken bei den Kanyawara-Schimpansen wurde bisher noch nicht bei anderen Populationen beobachtet, daher tritt es womöglich nur in dieser Gruppe auf. Falls das stimmt, hat die Praktik wahrscheinlich auch kulturelle Wurzeln, wie Wrangham sagt.

„Das heißt, dass weibliche Schimpansen [ihr Verhalten] wahrscheinlich mehr als männliche auf Jungtiere ausrichten. Aber nur an wenigen Orten wie Kanyawara kamen die jungen Weibchen auf die geniale Idee, Stöcke als ‚Puppen‘ zu benutzen“, sagte er.

PARALLELEN ZU MENSCHEN?

Diese spezielle Verhaltensweise war am häufigsten bei fünf bis acht Jahre alten Schimpansen zu beobachten, was in Hinblick auf die Entwicklung etwa sechs bis neun Jahre alten Menschen entspricht, wie Wrangham sagt.

Tatsächlich werfe die Studie Gillian zufolge einige spannende Parallelen zu Menschen auf.

„Menschenkinder lieben es, in erwachsene Rollen zu schlüpfen, die sie in ihrem Umfeld erleben. Das machen sie oft mit symbolischen Gegenständen“, sagte er.

„Auch wenn die [jungen] Schimpansen ihre Mütter keine Stöcke herumtragen sahen, beobachten sie sie Babys tragen“, so Gillian.

„Es scheint durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen, dass sie sozial erlernte Verhaltensweisen durch dieses symbolische Verhalten mit dem Stock nachahmen.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht

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