Walsterben an der US-Ostküste: Forscher suchen nach Ursachen

Seit mehr als zwei Jahren sind Wissenschaftler auf der Suche nach dem Grund für das „außergewöhnliche Mortalitätsereignis“.

Von Jason Nark
Veröffentlicht am 19. März 2019, 11:31 MEZ
Seit Januar 2016 haben Wissenschaftler an der Ostküste der USA 88 tote Wale gezählt – mehr ...
Seit Januar 2016 haben Wissenschaftler an der Ostküste der USA 88 tote Wale gezählt – mehr als doppelt so viele wie in den vorangegangenen drei Jahren.
Foto von Paul Nicklen, Nat Geo Image Collection

Es ist ein stürmischer Nachmittag im Winter, als vor der Küste von Virginia Beach ein Boot des Virginia Aquarium and Marine Science Center den Wellen standhält. Die Touristen an Bord strömen zum Bug, als eine Rückflosse die Wasseroberfläche durchbricht. Ein oder zwei Sekunden lang ist das Stakkatoklicken von Kameraauslösern zu hören, bevor der Buckelwal wieder abtaucht, um zu fressen.

Die relativ kleine Rückenflosse täuscht über die tatsächliche Größe dieser Giganten hinweg. Schon Kälber wiegen etwa eine Tonne. Ausgewachsene Tiere bringen es auf bis zu 30 Tonnen. Nur wenig, das im Meer schwimmt, kann ihre riesigen Knochen brechen.

Aber etwa eine Seemeile nördlich, an der Mündung der Chesapeake Bay, schiebt sich ein gewaltiges Frachtschiff gen Süden auf die Wale zu. An diesem Samstag Ende Januar schwimmen die Buckelwale mitten im Verkehr eines Seewegs, auf dem Schiffe zwischen einigen der geschäftigsten Häfen Amerikas verkehren. Sie stellen eine der wenigen echten körperlichen Gefahren für Buckelwale dar.

„Diese großen Schiffe wirbeln das Wasser auf und scheuchen die Fische vor sich her, und darauf haben es die Wale abgesehen“, erklärt Mark Sedeca, der Kapitän der 20 Meter langen Atlantic Explorer, auf dieser Walbeobachtungstour.

Laut Walforschern weisen die Wale, die an der Atlantikküste stranden, mehr Verletzungen durch Zusammenstöße mit Schiffen oder durch verhedderte Fischereiausrüstung auf als je zuvor. Zwischen Januar 2016 und Mitte Februar 2019 zählte die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) 88 gestrandete Buckelwale. New York, Virginia und Massachusetts führten die Liste zahlenmäßig an.

Das sind mehr als doppelt so viele gestrandete Wale wie zwischen 2013 und 2916.

Aufgrund dieses Anstiegs sprach die NOAA im April 2017 von einem „außergewöhnlichen Mortalitätsereignis“. Fast zwei Jahre später hat das Problem nichts an Aktualität verloren.

Es ist das vierte solche Ereignis, das seit 2003 für Buckelwale erklärt wurde – die Bezeichnung ermöglicht es der NOAA, mehr Ressourcen in die Untersuchung der Strandungen zu investieren. Aber während einer Telefonkonferenz kurz nach der Erklärung im April 2017 gab es mehr Fragen als Antworten: Gab es auf den Seewegen mehr Schiffe oder mehr Wale? Trieben die steigenden Wassertemperaturen die Beute der Wale näher an die Küste – und damit auch die Wale selbst? Waren die Tiere aufgrund des Lärms desorientiert?

Freitaucher rettet Walhai
Beim Freitauchen vor der Küste von Lānaʻi entdeckte eine hawaiianische Familie diesen Walhai. Zunächst waren sie von der Sichtung des seltenen und gefährdeten Riesen begeistert. Dann bemerkten sie ein schweres Seil, das sich um seinen Hals geschlungen hatte.

Viermal in Folge

Damals erwiderten die Vertreter der NOAA, dass es „wirklich schwer“ sei, so früh schon Antworten darauf zu haben. Die Ursachen für die drei vorangegangenen Mortalitätsereignisse waren letzten Endes „ungeklärt“ geblieben.

Aber drei Jahre, nachdem der erste Buckelwal im Januar 2016 tot an den Virginia Beach gespült wurde, meinen Wissenschaftler des Virginia Beach Aquarium, den Grund für das Walsterben gefunden zu haben. „Die Schlussfolgerung lautet, dass die zwei übergeordneten Ursachen Begegnungen mit Schiffen und das Verheddern sind“, sagt Alexander Costidis vom Virginia Beach Aquarium, der verantwortliche Koordinator für die Strandungen.

Aber warum genau es dazu kommt, sei „etwas schwieriger“ zu beantworten, so einer der Forscher. Die Wissenschaftler wissen noch immer nicht, warum die Wale näher an den Schiffen schwimmen und ob sie diese überhaupt bemerken oder versuchen, sie irgendwie zu meiden.

Costidis’ Team untersucht jeden toten Wal im Bundesstaat und – sofern machbar – unterzieht die Tiere einer Nekropsie. Wenn nötig, reagiert das Team auch auf Strandungen im benachbarten North Carolina. Die von der NOAA finanziell geförderte Crew hat ihren Sitz in einem Gebäude an einer Bahnlinie, das nur etwa drei Kilometer von der Küste entfernt steht. Man könnte vermuten, dass in dem Gebäude eine Menge Maschinen und Geländeausrüstung untergebracht sind – und nicht etwa Wassertanks voller Unechter Karettschildkröten und Atlantik-Bastardschildkröten, die sich von der letzten Kältewelle erholen.

Wenn man sie fragt, wie eine typische Reaktion auf eine Strandung aussieht, lacht Susan Barco, die Forschungskoordinatorin des Aquariums. „Na ja, als erstes dreht man durch“, sagt sie. Wenn der Wal tot ist, stellt das Team fest, ob er bereits an einem Strand liegt oder an welchen Strand man ihn ziehen könnte, um eine Nekropsie durchzuführen. Eine solche Leichenöffnung ist nichts, worauf sich die Behörden von Küstengemeinden besonders freuen, gerade im Sommer, wenn auch noch Touristen da sind. Nekropsien involvieren scharfe Messer, kiloweise Walinnereien und schweres Gerät, um den Kadaver zu bewegen und später am Strand zu vergraben.

Das Team sucht nach Verletzungen durch Turbinen, Abschürfungen und Spuren stumpfer Gewalteinwirkung, beispielsweise gebrochene Knochen. So versucht es, die Todesursache des Wals zu klären. Allerdings wurden viele Tiere vielleicht erst nach ihrem Versterben von Schiffen getroffen. Einige Wale weisen Barco zufolge auch verheilte Wunden auf, was vermuten lässt, dass sie einen Zusammenstoß mit einem Schiff oder ein Verheddern in Netzen und Ähnlichem überlebt haben. Wenn möglich, führt das Team auch Tests durch, um den allgemeinen Gesundheitszustand des Wals zu überprüfen. Dazu gehört auch die Suche nach Krankheitserregern und das Öffnen des Magens. Außerdem suchen die Wissenschaftler nach Anzeichen einer Grunderkrankung.

„Es gibt Dinge, auf die man schließen kann, aber das ist alles andere als präzise. Wenn man dann noch die Verwesung mit einrechnet, läuft es am Ende oft auf Ratespiele hinaus“, sagt sie.

Prävention gestaltet sich schwierig

Damit Zusammenstöße mit Schiffen verhindert werden können, ist sowohl ein besseres Verständnis für die Biologie der Wale nötig als auch ein gestärktes Bewusstsein für die Thematik bei den Schiffskapitänen. Die NOAA hat bereits Geschwindigkeitsbegrenzungen für Schiffe erlassen, um bestimmte Walarten wie den Atlantischen Nordkaper zu schützen, was auch anderen Walen zugutekommt. Laut den NOAA-Richtlinien dürfen Schiffe ab 20 Metern Länge in gewissen Bereichen maximal 10 Knoten fahren. Ein solcher Bereich ist auch die Mündung der Chesapeake Bay.

„Prävention ist wirklich schwierig. Zuerst muss ein Wal ein Schiff überhaupt bemerken. Dann muss er es als Bedrohung wahrnehmen. Und dann muss er entsprechend handeln“, sagt Barco.

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BELIEBT

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    Die Wale können die Schiffe definitiv hören, erklärt Doug Nowacek, ein Professor für Technologien zum Meeresschutz an der Duke University. Allerdings spielen auch andere Faktoren mit hinein. Laut Nowacek, der das Verhalten und die akustische Wahrnehmung von Walen erforscht, könnten die Tiere durch das Fressen oder das konstante Dröhnen des Schiffsverkehrs abgelenkt sein. Es wurde bereits über den Vorschlag gesprochen, mit akustischen Warnsignalen zu arbeiten, die von Schiffen ausgesendet werden. Nowacek sieht aber kaum Erfolgschancen für dieses Konzept.

    „Was die Wale betrifft, sind sie im Meer die Größten. Ein ausgewachsener Buckelwal hat vor nichts wirklich Angst. Warum sollte er dann glauben, dass ein neues, lautes Geräusch irgendwas anderes ist als einfach ein neues, lautes Geräusch?“, sagt er. „Im Grunde geht es doch darum, die Wale darauf zu trainieren, entsprechend auf das Geräusch zu reagieren. Aber mit den Walen ist das für gewöhnlich so, dass es vorbei ist, wenn sie einmal getroffen werden.“

    Ein Sprecher für den Hafen von New York und New Jersey – der drittgrößte Hafen der USA – verwies bei Fragen über Wale und ihre Interaktionen mit Schiffen auf die Küstenwache, in deren Zuständigkeitsbereich die Schifffahrtsrouten fallen. Die Küstenwache setzt die Richtlinien durch, die von der NOAA festgelegt wurden, erklärte ein Sprecher. Schiffe müssen 90 Meter von Meeressäugern entfernt bleiben und ihre Maschinen abstellen, wenn sich ihnen Wale nähern. Jeder Kapitän muss „davon berichten, wenn er gefährdete Walarten sieht oder das Schiff mit einem Wal zusammenstößt“.

    Laut der NOAA wurden die meisten gestrandeten Wale des aktuellen Mortalitätsereignisses in New York verzeichnet – immerhin 17 Tiere. Direkt dahinter folgten Virginia und Massachusetts. Den Forschern zufolge enden Strandungen fast immer tödlich. Nur selten kommt es vor, dass ein Wal, der sich in Fischereiausrüstung verheddert hat, befreit werden kann und noch kräftig und gesund genug ist, um anschließend wegzuschwimmen und sich zu erholen.

    Rob DiGiovanni ist der Gründer der Atlantic Marine Conservation Society, einer ehrenamtlichen Organisation auf Long Island, die auf Strandungen reagiert. Er erzählt, dass er seit einiger Zeit immer mehr Menhaden rund um die küstennahen Schifffahrtsrouten entdeckt. Die Fische zählen zur bevorzugten Beute der Wale. Dadurch sind diese Schifffahrtskanäle zu einer Art „Rastplatz“ geworden, wie Di Giovanni erklärt. Dort legen die Wale eine Pause ein und fressen.

    „Wir sollten uns wenigstens darüber bewusst sein, dass sie da draußen sind“, sagt er. „Vor einer Schule fahren wir ja auch alle langsamer. Das macht für uns doch keinen großen Unterschied. Und für die Tiere ist es gut.“

    In diesem Jahr sind bislang drei Wale gestrandet, wie die NOAA berichtet, darunter einer in Virginia. Alle drei Tiere waren bereits tot.

    Auf der Atlantic Explorer befolgt Sedaca alle Richtlinien der NOAA: Er entfernt sich nach einiger Zeit von Walen, die an die Oberfläche kommen, und stellt die Schiffsmotoren aus, wenn sie zu nah kommen. Aktuelle Aufnahmen der Rückenflossen gehen an Alexis Rabon vom Aquarium. Sie ist die Schiffskoordinatorin des Walbeobachtungsprogramms und gleicht die fotografierten Flossen mit einer Datenbank bekannter Wale ab.

    „Normalerweise sind sie Einzelgänger. Wenn sie durch unsere Gegend ziehen, ist es also nicht ungewöhnlich, einen allein zu sehen“, sagt sie. „Aber bei ein paar Individuen – wie dem Paar, das wir gestern entdeckt haben – sehen wir auch, dass sie sich quasi mit anderen Tieren zusammentun.“

    Costidis zufolge werden die Wale vom flachen Wasser der Delaware Bay fast schon in den Schifffahrtskanal hineingeleitet.

    Er weiß, dass die einzige Sofortlösung – weniger Schiffsverkehr – „nicht realistisch“ ist. Es kann aber schon helfen, die Schiffe einfach noch weiter zu verlangsamen.

    „Bis zu einem gewissen Grad wird dichter Schiffsverkehr sich wahrscheinlich einfach nie mit Walen vertragen, die sich in Küstennähe großer Metropolen aufhalten.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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