Der Besuchereffekt: Wenn sich Zootiere unbeobachtet fühlen
Deutschlandweit freuen sich Zoobesucher, die Tiere wiederzusehen. Doch die Freude beruht nicht immer auf Gegenseitigkeit.
Ob die Erdmännchen Ausschau nach den Besuchern halten? Wohl kaum. Bei der Nahrungssuche übernimmt ein Mitglied der Gruppe eine Wächterfunktion und steht dabei aufrecht auf einer Erhöhung.
Gute Nachrichten mitten in der Krise: Anfang April sorgten Ying Ying und Le Le, ein Pandapärchen in einem Zoo und Vergnügungspark in Hongkong, weltweit für Schlagzeilen. Nach zehn Jahren Liebesflaute kam es zur ersten erfolgreichen natürlichen Paarung – und das etwa zwei Monate, nachdem der Park aufgrund der Corona-Pandemie seine Türen für Besucher geschlossen hatte. Zufall? Die Vermutung lag zumindest nah, dass die neue Ruhe ihren Teil dazu beigetragen hatte.
An der Goethe-Universität Frankfurt erforschen Biologen das Verhalten von Zootieren. „Ein wenig Privatsphäre kann bei der Fortpflanzung sicherlich hilfreich sein“, sagt Prof. Dr. Paul Dierkes, der den Fachbereich leitet. Allerdings sei bei den Großen Pandas normalerweise eher die richtige Partnerwahl ausschlaggebend.
Bei den Pandas im Zoo Berlin, den einzigen in Deutschland lebenden Großen Pandas, hat die offensichtlich gepasst: Dort brachte Panda-Dame Meng Meng im vergangenen Jahr Zwillinge zur Welt. Neue Paarungsstimmung kam in den vergangenen Wochen jedoch nicht auf, berichtet Pressesprecherin Katharina Sperling: „Sie sind prinzipiell eher mit sich selbst, vor allem mit der Nahrungsaufnahme, beschäftigt“.
Gaffende Giraffen und entspannte Gänse
Die Giraffen im Kölner Zoo zeigten eine deutliche Verhaltensänderung während der besucherfreien Zeit.
Dafür zeigten andere Tiere im Berliner Zoo sichtbare Reaktionen auf die fehlenden Besucher während der Schließung. Zebras, Antilopen, Robben, aber auch Zwergotter und Großkatzen schienen nach Angaben von Sprecherin Sperling nahezu „verwundert“, wenn andere Personen als ihre Pfleger am Gehege auftauchten.
Neugierige Blicke gab es auch im Kölner Zoo: Beim Besuch eines Kamera-Teams hätten die Giraffen die Gäste sehr aufmerksam beobachtet. „Das machen sie normalerweise nicht“, sagt Pressesprecher Christoph Schütt. Etwas lautstärker ging es bei den Kalifornischen Seelöwen zu: Die Tiere hätten mit deutlich stärkerem Grunzen und Bewegungen reagiert, sobald jemand vorbeischaute. An der Uni Frankfurt verwundert das niemand: „Bei der Durchführung von Verhaltensstudien in diversen Zoos konnten wir feststellen, dass gerade Giraffen und Zebras sehr sensibel auf kleinste Veränderungen im Gehege reagieren“, sagt Biologin Anna Lena Burger, die gemeinsam mit Dierkes in Frankfurt forscht.
So habe die Installation einer kleinen Kamera im Gehege in einem Fall dazu geführt, dass die Giraffen den Stall zunächst nicht mehr betreten wollten. Das hat einen einfachen Grund: Giraffen sind Fluchttiere. „Wenn eine Zoogiraffe über viele Jahre lernt, dass Tierpfleger oder Besucher keine Gefahr darstellen, wird sie sicherlich zutraulicher und weniger schreckhaft“, sagt Dierkes. „Nichtsdestotrotz werden unerwartete und unbekannte Bewegungen oder Situationen in der kritischen Fluchtdistanz immer zu einer instinktiven Fluchtreaktion führen – ganz egal, wie lange das Wildtier schon im Zoo lebt.“
Grundsätzlich reagieren die meisten Zootiere, ähnlich wie Menschen, stark auf Veränderungen der Umwelt, berichten die Forscher. „Zoobesucher stellen unter normalen Bedingungen einen Teil der Umwelt dar, der mit dazu beiträgt, den Tagesablauf von Zootieren zu strukturieren.“ Ob Besucher nun einen Störfaktor oder doch eher eine Bereicherung für die Tiere darstellen, sei weder einfach noch für alle Arten gleichermaßen zu beantworten. Das sieht man an den Seelöwen in Köln: Dass diese sich eher über Publikum freuen, entspräche ihrem „Wunsch nach Aufmerksamkeit“, so Dierkes. Für so neugierige Tiere zählten Besucher im Allgemeinen wahrscheinlich zur Verhaltensbereicherung.
Das gilt wohl auch für Primaten – zum Beispiel in München: „Für die ist es jetzt so, als sei der Fernseher kaputt“, berichtet Beatrix Köhler, Kuratorin und Leiterin der zoologischen Abteilung des Tierparks Hellabrunn im Zoo-eigenen Podcast. Die Tiere hätten bei ihren Besuchen sofort Kontakt zu ihr gesucht. Die größte Enttäuschung herrschte vermutlich im Paviangehege: Die Tiere hätten sicherlich die Schulklassen vermisst, die hin und wieder eine Banane über den Graben werfen, so Köhler.
Die Osterferien läuten für viele Zoos normalerweise die besucherstärkste Saison ein. Stattdessen herrschte auf den Besucherwegen gähnende Leere, wie hier im Tierpark Hellabrunn.
Doch es gab auch Zoobewohner in München, die die menschenleeren Parks scheinbar genossen haben: Die Vögel in der Großvoliere des Tierparks Hellabrunn hätten die Ruhe als angenehm empfunden, so Köhler. Auch die freilaufenden Gänse nutzten den leeren Park: Gänsepaare schliefen zum Teil mitten auf dem Gehweg und errichteten ihren Brutplatz in direkter Nähe.
Mehr Forschung und mehr Vielfalt
In einem Paper des Animal Welfare Science Centre der Universität Melbourne und Zoos Victoria aus letztem Jahr, wurden diverse Studien zum sogenannten Besuchereffekt näher analysiert. Die Forscher fanden vereinzelte Belege dafür, dass bei der Reaktion auf Zoobesucher die Anzahl natürlicher Fressfeinde einer Art eine Rolle spielen könnte. Sie verweisen dabei auf eine Studie, bei der beobachtet wurde, dass zwei Känguruarten unterschiedliche Reaktionen auf Zoobesucher zeigten. Die eine Art, das Rote Riesenkänguru, stammt vom australischen Festland, die andere, eine Unterart des Westlichen Grauen Riesenkängurus, von der Insel Kangaroo Island, auf der es kein Raubtier gibt, das den Beuteltieren gefährlich werden könnte. Das Ergebnis: Die Roten Riesenkängurus waren wachsamer und hielten im Durchschnitt 4 Meter mehr Abstand zu den Zoobesuchern.
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Doch auch Faktoren wie Temperament, Genetik, Umgebung und Erfahrung spielen laut den Autoren des Berichts eine Rolle. Sie betonen, dass es weiterer Forschung auf dem Gebiet bedarf und vor allem verschiedene Tierarten ins Zentrum der Forschung rücken müssten. Das bestätigt auch Biologin Anna Lena Burger von der Uni Frankfurt: „Die Verhaltensforschung in Zoos ist ein noch relativ junger Forschungszweig und die Hauptdarsteller sind nach wie vor in den meisten Fällen Säugetiere.“ Untersuchungen bei Reptilien, Amphibien oder gar Wirbellosen seien im Gegensatz dazu verschwindend gering.
Durch die Schließungen gibt es allerdings nun eine nie dagewesene Möglichkeit für Biologen: Die leeren Zoos bieten optimale Bedingungen, um den Parameter ‚Besucher‘ als isolierten Einflussfaktor auf das Verhalten von Zootieren zu untersuchen. So haben die Forscher in Frankfurt vor ein paar Wochen mit Videoaufnahmen bei den Afrikanischen Elefanten, Giraffen, Hyänen und Geparden im nahgelegenen Opel-Zoo begonnen. Diese Aufnahmen sollen in ein paar Wochen mit den neueren Aufnahmen nach Öffnung des Zoos verglichen werden.
Zwischen Museumsbesuch und Metal
Einige Zoodirektoren wurden in der Krise besonders erfinderisch. In einem Beitrag des Bayrischen Rundfunks erklärte der Betreiber des oberfränkischen Wildpark Waldhaus Mehlmeisel, dass er das Tiergehege mit Musik bespielt hat, damit sich die Tiere nicht an die Ruhe gewöhnen und scheu werden. Der amerikanische Kansas City Zoo setzte unterdessen auf bildende Kunst und schickte drei Humboldtpinguine in das nahegelegene Nelson-Atkins Museum of Art. Die Tiere hätten den Ausflug geliebt, behauptete der Zoodirektor. „Unsinn!“ meint Dr. Klemens Pütz, Pinguinforscher und wissenschaftlicher Direktor des Antarctic Research Trust. „Man hätte sie in jede andere, ihnen fremde Umgebung bringen können und hätte die gleichen Reaktionen erhalten“. Das Strecken des Halses und die aufmerksame Beobachtung der Umgebung seien klare Anzeichen für Aufregung.
Ob sich die Tiere lieber versteckt hätten oder doch ihrer Neugier unterlegen wären, ließe sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen, so Pütz. „In der Gruppe tut man sich leichter – einzelne Pinguine hätten sich unter Umständen auch anders verhalten.“
Eine weitere Enttäuschung für Pinguinfans: Dass die Tiere die Zoobesucher vermisst hätten, wie es der Zoo behauptete, bezweifelt der Biologe. Die Aktion war wohl eher ein Marketingstunt des Zoos als eine wirkliche Freizeitbeschäftigung für das vermeintlich kunstinteressierte Pinguin-Trio.
Alles beim Alten?
Keine neuen Paare, keine überraschenden Schwangerschaften – und auch sonst alles ziemlich beim Alten: Glaubt man den Betreibern, war die Wiedereröffnung der Zoos in Deutschland für ihre Bewohner keine große Sache. Während Familien sich also freuten, die Tiere endlich wiederzusehen, schien den Tieren alles ziemlich schnuppe. Weder im Berliner Zoo, dem Münchner Tierpark Hellabrunn noch im Kölner Zoo hat man besondere Verhaltensweisen beobachtet – und tatsächlich habe man das auch nicht erwartet, heißt es auf Nachfrage.
„Aufgrund der regulären begrenzten Öffnungszeiten und niedrigen Besucherzahlen im Winter, ist ein menschenleerer Zoo für die Tiere sowieso nichts grundsätzlich Neues gewesen“, sagt Christoph Schütt vom Kölner Zoo. Selbst der Mundschutz der Pfleger irritiere die Tiere nicht: „Die Stimme der Pfleger oder auch ihre Gesten sind für viele Tiere eindeutiger als die Gesichtsmimik“, kommentiert Dierkes. Die Auswirkungen der Coronakrise waren und bleiben wohl vor allem für den Menschen eine tierische Ausnahmesituation.
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