Wie dramatisch ist das Insektensterben wirklich?
Nicht jeder mag Insekten. Doch wir brauchen sie – für gesunde Ökosysteme und für unsere eigene Zukunft. Wir alle können etwas gegen das Insektensterben tun.
Unglückliche Zeiten für den Glücksbringer? Viele Insektenarten werden immer seltener.
Mit fast einer Million beschriebener Arten sind sie die mit Abstand größte Tierklasse überhaupt. Allein in Deutschland gibt es gut 30.000 Insektenarten. Für unsere Ökosysteme sind sie unersetzlich: 80 Prozent der Wildpflanzen etwa sind abhängig von der Insektenbestäubung, 60 Prozent der heimischen Vögel und unzählige weiterer Tiere ernähren sich hauptsächlich von den sechsbeinigen Gliederfüßern.
Auch unser eigenes Überleben wäre ohne Insekten kaum denkbar. Sie bestäuben nicht nur einen großen Teil unserer Kulturpflanzen. Sie zersetzen abgestorbene Biomasse, verbessern die Bodenqualität und reinigen Wasser. Insekten sind systemrelevant. Die meisten Menschen denken dabei womöglich in erster Linie an die Honigbiene. Doch der geht es im Vergleich zu vielen anderen Arten ausgesprochen gut, betont Christine Tölle-Nolting vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu). „Die Honigbiene ist ja im Grunde genommen ein Haustier“, sagt die Agrarexpertin. Erheblich schlechter gehe es den Wildbienen und unzähligen anderen Insekten.
Wespenbiene beim Pollensammeln: Etwa die Hälfte der rund 550 in Deutschland lebenden Wildbienenarten ist bedroht.
Wie dramatisch das Insektensterben in Deutschland wirklich ist, darüber wird viel diskutiert. Für Aufsehen sorgte bereits im Jahr 2017 die sogenannte Krefelder Studie. Demzufolge ist die Fluginsekten-Biomasse hierzulande in den letzten 27 Jahren um 75 Prozent zurückgegangen. Rund zwei Jahre später bestätigte die Studie eines Forscherteams der Technischen Universität München das anhaltende Insektensterben.
Weltweit immer weniger Landinsekten
Nicht nur in Deutschland – weltweit gibt es immer weniger Insekten. Zu diesem Ergebnis kommt jetzt die bislang umfassendste internationale Analyse unter der Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung, der Universität Leipzig und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Forscher haben in einer Meta-Studie hierzu 166 Langzeitstudien untersucht, die zwischen 1925 und 2018 an weltweit 1676 Orten durchgeführt wurden.
Die Zahl der landlebenden Insekten wie Heuschrecken, Schmetterlinge oder Ameisen sank demnach im Schnitt um 0,92 Prozent pro Jahr. Was zunächst wenig drastisch erscheint, entspricht immerhin einem Rückgang von 24 Prozent im Zeitraum von 30 Jahren. Am stärksten waren die Verluste nach Worten der Studienautoren in Teilen der USA sowie in Europa, insbesondere in Deutschland. Grundsätzlich beobachteten sie zum Teil große Unterschiede selbst zwischen nahe gelegenen Orten.
Galerie: Frühe Makroaufnahmen von Insekten & Spinnen
Positive Überraschungen gab es dagegen bei Süßwasserinsekten wie Libellen, Wasserläufern oder Köcherfliegen. Ihre Zahl stieg laut Meta-Studie weltweit um jährlich 1,08 Prozent oder 38 Prozent über 30 Jahre. Dies könnte die Folge von Gewässerschutzmaßnahmen in verschiedenen Ländern sein, vermutet das Forschungsteam. In Deutschland seien allerdings auch hier die Zahlen rückläufig.
Dennoch: Für Studienautor Prof. Dr. Jonathan Chase geben die Ergebnisse auch Anlass zur Hoffnung. Die Zahlen bei den Wasserinsekten zeigten, dass man die negativen Trends umkehren könne. „In den letzten 50 Jahren wurde weltweit viel getan, um verschmutze Flüsse und Seen wieder zu säubern“, erklärt der Biodiversitätsforscher. Dadurch hätten sich möglicherweise viele Populationen von Süßwasserinsekten erholt. „Das stimmt zuversichtlich, dass wir die Trends auch bei Populationen umkehren können, die momentan zurückgehen“, so Chase.
Umweltverbände fordern Pestizidverbot
Für den Insektenrückgang werden viele Gründe ins Feld geführt. In dringendem Verdacht stehen nicht nur Pflanzenschutzmittel und intensive Landwirtschaft, sondern unter anderem auch die Lichtverschmutzung, die echte Dunkelheit vor allem in Ballungsräumen kaum noch zulässt.
Umweltorganisationen bemängeln, dass es immer noch keinen ausreichenden Schutz für Insekten in Deutschland gebe. Vor allem Pestizide seien ein enormes Risiko, sagt Antje von Broock vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND): „Der massive Einsatz von Ackergiften tötet weiterhin massenhaft Insekten, schädigt Pflanzen und vernichtet ganze Arten.“
Besonders schädliche Stoffe wie die stark bienenschädlichen Neonikotinoide sind zwar inzwischen größtenteils EU-weit von den Äckern verschwunden. Das hochumstrittene Glyphosat dagegen ist noch bis Ende 2022 zugelassen. Neben einer massiven Reduzierung von Pestiziden in der Landwirtschaft fordert der BUND eine grundsätzliche Kehrtwende in der Agrarpolitik. Von Broock: „Es ist unerlässlich, Lebensräume für den Insektenschutz in der Agrarlandschaft zu schaffen: Hecken, Säume, artenreiche Wiesen oder Flächenstilllegungen sind hierzu unverzichtbar.“
Biotope auf den Dächern
Gleiches gelte für den urbanen Raum mit Parks und Gärten. Denn für bestäubende Insekten wie Bienen und Hummeln seien städtische Grünflächen oft attraktiver als ländliche Monokulturen. Die etwa 17 Millionen Privat- und Kleingärten würden immerhin 2,6 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands belegen, rechnet der BUND vor. Damit können sie für Insekten und andere Arten wertvolle Lebensräume sein – sofern sie naturnah und giftfrei angelegt werden.
Seltener Anblick: Naturbelassene Blühwiesen sind überlebenswichtig für unzählige Insektenarten.
Auch grüne Dächer sollen den Insekten helfen. Die Bundesregierung hat hierzu ein neues Modellprojekt gestartet. Sechs spezielle Dächer im Nordwestdeutschen Tiefland sollen mit Wildpflanzen begrünt werden. „In den Städten gibt es oft eine große Konkurrenz um knappe Flächen“, sagt Bundesumweltministerin Svenja Schulze. „Für den Schutz der Insekten sind grüne Dächer eine Chance. Dabei kommt es darauf an, Gründächer so zu gestalten, dass sie auch Nahrungs- und Nistmöglichkeiten für Insekten bieten.“
Darüber hinaus will die Ministerin noch in diesem Sommer den Entwurf für ein Insektenschutzgesetz vorlegen. Das Gesetz soll unter anderem die Lichtverschmutzung eindämmen, artenreiche Grünflächen und Streuobstbestände fördern und die Gewässerabstände bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln regeln.
Wer sich ein eigenes Bild von der Bestandssituation heimischer Insekten machen will, kann sich vom 31. Juli bis 9. August an einer bundesweiten Zählaktion des Nabu beteiligen. Weitere Informationen unter: www.insektensommer.de
Insekten
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