Wie der Eiswurm im Gletscher mit den Regeln der Biologie bricht

Eiswürmer überleben bei extremer Kälte im Eis von Gletschern. Das macht sie zu faszinierenden Forschungsobjekten – doch viel Zeit bleibt der Wissenschaft nicht.

Von Douglas Main
Veröffentlicht am 20. Aug. 2021, 10:43 MESZ
Eiswürmer sammeln sich an der Oberfläche des Paradise-Gletschers an der Südseite des Mount Rainier im US-Bundesstaat ...

Eiswürmer sammeln sich an der Oberfläche des Paradise-Gletschers an der Südseite des Mount Rainier im US-Bundesstaat Washington. Die Tiere fühlen sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt am wohlsten.

Foto von Scott Hotaling

Auf den ersten Blick ist ein Gletscher kaum mehr als ein karger, toter Eisklotz. Doch auf den zweiten steckt mehr Leben in ihm, als man denkt, denn Gletscher sind überraschenderweise das Zuhause unzähliger winziger Organismen und somit ein vielfältiges Ökosystem.

Einer der bemerkenswertesten Bewohner dieses Lebensraums ist der Eiswurm. Der im westlichen Nordamerika beheimatete Vertreter namens Mesenchytraeus solifugus ist nicht ganz 1,3 Zentimeter lang und hat etwa den Durchmesser eines Fadens Zahnseide. Er ist ausschließlich in den küstennahen Talgletschern des Pazifischen Nordwestens, British Columbias und Alaskas zu finden. Eine ähnliche Spezies wurde zwar in Tibet entdeckt, über sie ist bisher aber so gut wie nichts bekannt.

Mesenchytraeus solifugus fühlt sich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt am wohlsten, wird es nur wenige Grad kälter, friert er ein, steigt die Umgebungstemperatur auf über 10° Celsius, stirbt er.

“Je kälter es wird, desto mehr Energie haben [die Eiswürmer].”

von Daniel Shain, Forscher an der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey

Wenn sich an Sommernachmittagen und -abenden Schatten über das Eis zu legen beginnen, erscheinen die kleinen Würmer in Massen von 100 bis 200 Stück pro Quadratmeter an der Oberfläche, um Algen, Mikroben und anderen Detritus, also Schweb- und Sinkstoffe sowie abgestorbene Organismen, zu fressen. Bei Sonnenaufgang graben sie sich wieder in das Eis ein, den Winter verbringen sie komplett in dessen frostigen Tiefen.

Die entfernten Verwandten der Erdwürmer überleben nicht nur in eiskalten Wasserschichten zwischen Eis und Schnee – sie fühlen sich dort sogar richtig wohl. Das ist paradox, denn was ohnehin für die meisten Lebewesen einen lebensfeindlichen Ort darstellt, bedeutet für Kaltblüter wie Würmer ohne weiteren Wärmeschutz eigentlich den sicheren Tod. Warum ist das bei den Eiswürmern anders? Wissenschaftler sind dieser Frage auf den Grund gegangen, deren Antwort nicht nur von überraschender Relevanz, sondern auch von äußerster Dringlichkeit ist.

Daniel Shain, Forscher an der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, erforscht Eiswürmer seit 25 Jahren. Er ist überzeugt, dass uns das Wissen darüber, wie es den Tieren trotz extremer Temperaturen gelingt, zu überleben, dabei helfen könnte, die Grenzen des Lebens auf der Erde und darüber hinaus auszuloten.

Doch die Gletscher schmelzen und mit ihnen verschwinden auch die Eiswürmer. „Wir wollen so viel wie möglich über sie erfahren, bevor es zu spät ist“, erklärt Shirley Lang, Biologin am Haverford College in Pennsylvania. „Wenn die Gletscher weiterhin so schnell schmelzen, wie es derzeit der Fall ist, habe ich keinen Zweifel daran, dass es Eiswürmer eines Tages nicht mehr geben wird.“

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    Wenn die Temperaturen fallen, verlangsamen sich die Körperfunktionen und das Energielevel sinkt – das ist ein biologisches Gesetz. Warmblütige Lebewesen müssen dann Energie verbrennen, um ihre Körpertemperatur einigermaßen konstant zu halten, Kaltblüter werden, wenn es zu kalt wird, träge oder verfallen sogar in eine Starre. Nicht so die Eiswürmer.

    „Je kälter es wird, desto mehr Energie haben sie“, erklärt Daniel Shain. „Es ist paradox.“

    Gemeinsam mit seiner ehemaligen Doktorandin Shirley Lang hat Daniel Shain zu diesem Thema in den vergangenen Jahren eine Reihe von Forschungsarbeiten veröffentlicht. Im Mittelpunkt stand dabei ein körpereigenes Nukleotid-Molekül mit dem Namen Adenosintriphosphat (ATP). ATP bringt als Energieträger die Energie direkt in die Körperzellen und ist wichtig für die Durchblutungs- und Stoffwechselregulation sowie körperliche Regenerationsprozesse. Gebildet wird es durch das komplexe Enzym ATP-Synthase, das in nahezu allen Organismen identisch ist. ATP ist zu fast 100 Prozent effizient – eine außerhalb der Natur unerreichte Quote. Biochemiker versetzt es ins Staunen, Daniel Shain nennt es „eine außergewöhnliche Maschine“.

    Doch bei den Eiswürmern gibt es eine kleine Änderung an dieser „Maschine“: ein wenig Extra-DNA sorgt in ihnen für zusätzliche ATP-Synthase, wodurch die Produktion von ATP beschleunigt wird. „Als hätte man den Turbo angeschaltet“, so Shain.

    Er sagt, es sei schwer, den genauen Entwicklungsprozess zu erklären, doch möglich wäre, dass die Würmer einen Teil des Genmaterials von Pilzen übernommen haben, die in großer Höhe wachsen. Sollte dies der Fall sein, handelt es sich hierbei um eine außergewöhnliche Art des genetischen Diebstahls, denn gestohlene DNA fügt sich normalerweise nicht in die Mitochondrien ein – genau hier wird ATP aber hergestellt.

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    Zusätzlich zu dieser genetischen Besonderheit verfügen Eiswürmer auch über einen modifizierten Thermostat in ihren Zellen, der dafür sorgt, dass die ATP-Produktion auch bei niedrigen Temperaturen weiterläuft. Die Kombination dieser beiden speziellen Eigenschaften führt dazu, dass die Konzentration von ATP in den Zellen der Eiswürmer um ein Vielfaches höher ist als bei anderen Lebewesen, was wiederum erklärt, wieso ihr Energielevel auch bei extremer Kälte hoch bleibt.

    Shirley Lang hat noch eine andere Theorie, die sie überprüfen möchte. Diese basiert auf der Tatsache, dass Eiswürmer randvoll mit Melanin sind. Dieses Pigment befindet sich im menschlichen Körper in der Haut und schützt diese vor UV-Strahlung. Bei den Eiswürmern wurde Melanin jedoch überall im Körper festgestellt: im Gehirn, im Verdauungstrakt, in den Muskeln. Es gibt Forschungsergebnisse, laut denen Melanin unter gewissen Umständen dazu in der Lage sein soll, aus Sonnenstrahlen Energie zu gewinnen. Shirley Lang vermutet, dass genau dieser Prozess im Körper der Eiswürmer ablaufen könnte. Sie hofft, diesbezüglich bald mit ersten Tests beginnen zu können.

    Das Ökosystem Gletscher verschwindet

    Nicht nur sein bemerkenswerter Energiehaushalt macht den Eiswurm so interessant, sondern auch seine Zugehörigkeit zu einem Ökosystem, das noch weitgehend unerforscht ist. Laut Scott Hotaling, Biologe an der Washington State University, gehören zu diesem auch Rädertierchen, Bärtierchen, Algen, Pilze und andere mikroskopisch kleine Lebewesen sowie Vögel, denen diese als Futter dienen.

    Der Forscher und seine Kollegen haben mindestens fünf Vogelarten beim Fressen von Eiswürmern beobachten können. Laut Hotaling sind die wirbellosen Tiere an Orten wie dem Mount Rainier im US-Bundesstaat Washington zum Beispiel für Schwarzstirn-Schneegimpel eine wichtige Nahrungsquelle, die sie in großen Massen aufschnappen und mit ihnen ihre Jungen füttern.

    Die Vögel könnten auch eine Rolle bei der Verbreitung der kleinen Würmer über mehrere Gletscher gespielt haben. Die Wissenschaftler stellten fest, dass zwischen den Tieren an verschiedenen Orten genetische Unterschiede bestehen. Laut Daniel Shain gehören die Würmer in Alaska vermutlich einer anderen Art an als die meisten derer, die im Pazifischen Nordwesten zu finden sind.

    Die Forschungsergebnisse von Scott Hotaling deuten darauf hin, dass die Würmer, am Gefieder oder den Füßen der Vögel festgeklebt, als blinde Passagiere von ihnen zu anderen Gletschern getragen wurden. Eine Eiswurm-Population auf Vancouver Island steht zum Beispiel in enger Verwandtschaft mit einer anderen im südlichen Alaska. Das lässt vermuten, dass einer oder mehrere von ihnen in der Vergangenheit von Vögeln unabsichtlich zu diesem Ort transportiert wurde.

    Die Zeit, die bleibt, um die Rätsel der Eiswürmer zu lösen, wird jedoch knapp. Einige der Gletscher, die sie bewohnt haben, wie etwa der Lyall- und der Lewis-Gletscher im North-Cascades-Nationalpark in Washington, sind bereits verschwunden. Andere schmelzen. Der Nisqually-Gletscher an der Südseite des Mount Rainier hat sich zwischen 2003 und 2015 im Schnitt alle zehn Tage um fast einen Meter verkürzt.

    Die Evolutionsgenetikerin Joanna Kelley hat zusammen mit Scott Hotaling versucht, das Genom des Eiswurms zu sequenzieren. Dies stellte sich jedoch als schwierig heraus, unter anderem, weil das Melanin in den Tieren an der DNA festklebte und die Technologie, die bei der Sequenzierung zum Einsatz kommt, behinderte.

    Die beiden hoffen, dass es ihnen gelingen wird, den Geheimnissen der Würmer auf die Spur zu kommen, bevor es zu spät ist. „Ich spüre, dass wir uns beeilen müssen, wenn wir diese Tiere erforschen wollen“, sagt Scott Hotaling.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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