Gletscherschmelze offenbart Hinweise darauf, wie unsere Vorfahren mit Klimaschwankungen umgingen
Manche Archäologen graben mit Schaufeln nach der Geschichte – andere lassen diese Arbeit vom Klimawandel erledigen.

2006 gab es in Norwegen einen ungewöhnlichen warmen Herbst. Zu dieser Zeit zog es den Archäologen Lars Pilø, der Co-Direktor des Gletscherarchäologie-Programms der Kreisverwaltung von Oppland, in die Berge. Wenn der Klimawandel die Gletscher zum Schmelzen bringt, was wird dann aus den Artefakten, die dadurch zum Vorschein kommen? 2011 starteten Pilø und ein internationales Team ein Programm, um im Gebirge Jotunheimen und in den Bergen von Oppland nach Artefakten zu suchen, die sie aus dem schmelzenden Eis und Schnee retten konnten.
Im Laufe der folgenden Jahre fanden die Archäologen Tausende Gegenstände, von denen einige bis zu 6.000 Jahre alt sind. Da das Eis wie ein riesiger Gefrierschrank wirkt und die Gegenstände gewissermaßen konserviert, sieht man vielen Funden ihr Alter gar nicht an. (Lesenswert: Ein Jahrhundert alte Gletscherstudie kann Hinweise auf den Klimawandel liefern)
„Ab dem Moment, da diese Artefakte aus dem Eis auftauchen, sind sie sofort den Elementen ausgesetzt“, sagt James H. Barrett, ein Umweltarchäologe der Universität von Cambridge.
Die Archäologen beschrieben ihre Funde in einer Studie, die am 24. Januar im Fachmagazin „Royal Society Open Science“ erschien.
VIELSAGENDE FUNDE
Jedes Jahr wanderte das Team in die norwegischen Berge und arbeitete dort von Mitte August bis Mitte September. In zwei Gruppen untersuchten die Forscher die Ränder des schmelzenden Eises und hielten nach Gegenständen Ausschau, die sich aus dem Eis gelöst hatten.

„Diese [Gegenstände] liegen so weit ab vom Schuss, dass man sie niemals finden würde, wenn man nicht speziell danach sucht“, sagt Pilø.
Unter den über 2.000 entdeckten Gegenständen, die teils Jahrtausende alt sind, befinden sich Pfeile, Kleidung, Schneeschuhe und die Überreste von Packpferden. Die Archäologen fanden heraus, dass es aus manchen Zeitabschnitten mehr Artefakte gab als aus anderen. Das gibt Hinweise darauf, wie Veränderungen des Klimas sowie sozialer und wirtschaftlicher Faktoren sich im Laufe der Zeit auf die Gesellschaft auswirkten.
Spannenderweise fanden die Forscher zahlreiche Artefakte aus der kleinen Eiszeit der Spätantike im 6. und 7. Jahrhundert. Die fallenden Temperaturen sorgten für schrumpfende Erträge in der Landwirtschaft, sagt Barrett. Daher versuchten die Menschen, den Nahrungsmangel durch die Rentierjagd auszugleichen.
Durch Funde vom 8. bis zum 10. Jahrhundert konnte das Team Rückschlüsse darauf ziehen, wie sich die Jagdtechniken im Laufe der Zeit veränderten. Neben den traditionellen Techniken mit Pfeil und Bogen machten die Jäger zunehmend Gebrauch von ausgeklügelten Fallen. Da die Artefakte aus dieser Zeit auch durch ihre Masse auffallen, muss es ein großes Bevölkerungswachstum sowie verbesserte Mobilität und intensiveren Handel gegeben haben. (Lesenswert: Seit 75 Jahren vermisste Leichen dank Gletscherschmelze gefunden)
„Wir glauben, dass diese Art der intensiven Bejagung [...] nicht nachhaltig war“, sagt Pilø. „Sie waren drauf und dran, die Rentiere auszurotten.“
Aber ab dem 11. Jahrhundert fand das Team dann nicht mehr allzu viele Objekte, mit Ausnahme von ein paar Waffen aus der Wikingerzeit. Die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts sorgte wahrscheinlich ebenfalls dafür, dass die Aktivitäten in den Bergregionen zurückgingen, sagt Brit Solli vom Osloer Museum für Kulturgeschichte.
„UNERWARTETE NUTZNIESSER“
Pilø zufolge ist die Gletscherarchäologie ein relativ neues Feld. Während man sich bei der traditionellen Archäologie viel mit Kellen und Spaten durch den Boden wühlt, muss man bei der Gletscherarchäologie kaum graben. Stattdessen gehen die Forscher am Rande des schmelzenden Eises entlang und halten nach Objekten Ausschau, die aus dem Eis ragen. Diese markieren sie dann mit Bambusstäben.
Da das Team mit schweren Rucksäcken unterwegs ist, werden so oft wie möglich Packpferde eingesetzt. Gelegentlich müssen sie mit dem Hubschrauber an besonders abgelegene Orte fliegen. Das spart zwar Zeit und Kraft, aber produziert auch Treibhausgase, die zur globalen Erwärmung beitragen.
Pilø zufolge sind Gletscherarchäologen die „unerwarteten Nutznießer der globalen Erwärmung“. Wenn sie nicht zur Stelle wären, wenn diese Artefakte durch die Gletscherschmelze zum Vorschein kommen, könnten die gestrandeten Objekte durch die Umwelteinflüsse zerstört werden und für immer verloren gehen.
„Es ist eine völlig andere Welt als die traditionelle Archäologie“, so Pilø. „Aber es ist eine sehr dankbare Aufgabe.“
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