Tiere auf der Flucht vor dem Krieg: Die Rettung der Bärin Masha aus der Ukraine

Nicht nur Menschen fliehen vor der Gewalt in der Ukraine – auch Tiere leiden unter dem russischen Angriffskrieg, der seit über einem Monat im Osten Europas wütet. Tierschützer begeben sich in große Gefahr, um diese unschuldigen Opfer zu retten.

Von Natasha Daly
bilder von Jasper Doest
Veröffentlicht am 8. Apr. 2022, 08:32 MESZ
Die Bärin in ihrem Käfig während des Transports.

Nach einer 30-stündigen Fahrt aus der Westukraine kommt die Braunbärin Masha im Libearty Bear Sanctuary in Zarnesti, Rumänien an. Sie ist eines von tausenden Tieren, die vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine gerettet werden mussten.

Foto von Jasper Doest

Als die Europäische Braunbärin Masha Mitte März 2022 in der rumänischen Stadt Halmeu ankommt, drängen sich am Grenzübergang zur Ukraine die Geflüchteten: Mütter und Kinder, Großmütter und Großväter, junge Frauen, die allein unterwegs sind.

Masha sitzt im hinteren Teil eines Lieferwagens, den der Tierschützer Lionel de Lange gemietet hat, um sie aus dem Land zu bringen. Während sie darauf warten, die Grenze passieren zu können, öffnet er die Tür, um etwas frische Luft in den Wagen zu lassen. Hinter ihnen liegt eine 20-stündige Fahrt.

Es dauert nicht lange, bis die ersten Neugierigen kommen, um sich das Tier anzusehen. De Lange macht sich Sorgen, wie sie reagieren werden. „Oft werden wir für unsere Tierrettungsaktionen kritisiert, weil wir Tieren statt Menschen helfen“, erklärt er. Als er die Leute sieht, die sich dem Lieferwagen nähern, bereitet er sich darauf vor, „dass sie uns die Hölle heiß machen werden“.

Masha steckt ihre Schnauze durch die Tür des Geheges, in dem sie vorübergehend untergebracht ist. Kurz nach ihrer Ankunft weigert sie sich zu fressen und läuft im Kreis herum – ein typisches Stresssymptom von Tieren in Gefangenschaft.

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Masha sitzt an ihrem ersten Tag im Libearty Bear Sanctuary zunächst auf dem Betonboden, bevor sie die ersten Schritte in ihrem neuen Gehege macht. Alle 117 Tiere, die in der Pflegeeinrichtung leben, haben den größten Teil ihres Lebens in Gefangenschaft verbracht – das Gefühl von waldigem Untergrund unter ihren Pranken ist ihnen fremd. Deswegen dauert es laut Cristina Lapis teilweise Monate, bis sie sich trauen, den Betonboden zu verlassen.

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Aber es kommt anders. „Masha konnte ein Lächeln auf einige sehr, sehr traurige Gesichter zaubern“, sagt de Lange. „Ich glaube, die Leute haben verstanden, dass sie in derselben Situation war wie sie selbst: Sie hatte keine Heimat mehr und niemanden, der sich um sie kümmerte.“

Mashas Geschichte ist ein Beispiel für das Leid der nicht-menschlichen Opfer des brutalen Kriegs in der Ukraine – und für die Bemühungen der Tierschützer, die ihr Leben riskieren, um Tiere aus dem Kriegsgebiet zu retten. Manche, darunter auch de Lange, Gründer und Leiter der ukrainischen Hilfsorganisation Warriors of Wildlife, begeben sich auf gefährliche Reisen, um die Tiere in Sicherheit zu bringen. Andere weichen in ukrainischen Zoos und Pflegestationen nicht von der Seite der dort zurückgelassenen Tiere – obwohl es an Futter mangelt und ständig Bomben explodieren.

Alle hätten Angst, so de Lange, „weil wir nicht wissen, was auf uns zukommt“.

Am 21. März kommt Masha schließlich im Libearty Bear Sanctuary in Zarnesti, Rumänien an. In der weltweit größten Auffangstation für Braunbären leben derzeit insgesamt 117 Tiere, die aus Hotels, touristischen Einrichtungen und Zirkussen in ganz Europa gerettet wurden. Masha ist einer der ersten Braunbären, die im Zuge des russischen Angriffskriegs aus der Ukraine evakuiert wurden. Auch Löwen, Tiger und andere in Gefangenschaft gehaltene Tiere aus dem Kriegsgebiet finden derzeit in Rumänien, Polen, Deutschland und anderen europäischen Ländern eine neue, sichere Heimat.

Erst Zirkus, dann Krieg

Im Jahr 2018 rettete de Lange Masha aus einem Wanderzirkus. Nachdem die heute 22-jährige Bärin ihrer Mutter als Jungtier weggenommen wurde, verbrachte sie 18 Jahre ihres Lebens damit, vor Publikum Kunststücke aufzuführen: Sie lief über ein Seil, fuhr auf einem Fahrrad und balancierte Bälle. Die Zeit außerhalb der Manege verbrachte sie in einem engen Käfig auf einem Lastwagen. De Lange und sein Team richteten für Masha ein großes Gehege auf einem Feld in Sambir in der Nähe der westukrainischen Stadt Lwiw ein. Doch im Jahr 2021 kündigte der Landbesitzer den Pachtvertrag und de Lange musste ein neues Zuhause für Masha suchen.

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    Vor der Reise nach Rumänien wartet Masha in einem Käfig in ihrem 370 Quadratmeter großen Gehege in Sambir, Ukraine darauf, für den Transport betäubt zu werden. Vor vier Jahren hatten Mitarbeiter von Warriors of Wildlife sie aus einem Zirkus gerettet, in dem sie 18 Jahre lang Kunststücke vorführen musste und in einem kleinen Käfig gehalten wurde.

    Foto von Richard Ashmore / Magnus News Agency / Warriors Of Wildlife

    Dieses fand Masha schließlich im Libearty Bear Sanctuary, das noch einen Platz für die Bärin frei hatte. „Wir sollten sie am 28. Februar dorthin bringen“, sagt de Lange. „Am Morgen des 24. Februars wurden wir von Schüssen geweckt und der Angriff hatte begonnen.“

    Zwei Tage später war de Lange gezwungen, aus seiner Heimatstadt Cherson im Südosten der Ukraine zu fliehen, in der sich heute aufgrund des Mangels an Essen und Arzneimitteln eine humanitäre Krise abzeichnet. Die Strecke nach Rumänien legte er zu Fuß und per Anhalter zurück. Dort angekommen machte er sich auf die Suche nach einem geeigneten Fahrzeug, mit dem er Masha aus der Ukraine holen konnte. Nachdem er von sechs Mietwagenfirmen eine Absage erhalten hatte, fand er endlich einen geeigneten Lieferwagen, den er mit Hygieneartikeln sowie Nahrungs- und Arzneimitteln mit einem Gesamtgewicht von fast einer Tonne belud, um sie zu den Menschen in der Ukraine zu bringen. Der Mietwagenfirma sagte de Lange: „Ich bringe eine Hilfslieferung in die Ukraine. Aber ich habe ihnen nicht erzählt, dass ich auf dem Rückweg eine Bärin mitbringen würde.“

    Through the fencing at Libearty, Masha spots—for the first time in her life—other brown bears. Taken from her mother as an infant, she had spent her life in isolation. “When she saw the other bears and began to smell them, we were all crying,” Lapis says.

    Am 20. März holte de Lange Masha, die bis dahin von Mitarbeitern von Warriors of Wildlife betreut wurde, in Sambir ab. Nachdem sie die Bärin betäubt und in einen Transportkäfig verfrachtet hatten, begann die 20-stündige Reise zur rumänischen Grenze. Die Strecke bis zum Libearty Bear Sanctuary dauerte weitere zehn Stunden. Bei ihrer Ankunft lief Masha hektisch im Kreis herum und weigerte sich, zu fressen oder ihren Käfig zu verlassen. „Ich glaube, bei ihr kamen Erinnerungen an ihre Zeit beim Zirkus hoch“, sagt de Lange.

    „Der Abend des Ankunftstags war für uns alle schlimm“, sagt Cristina Lapis, Gründerin und Leiterin des Libearty Bear Sanctuary. „Masha wollte weder fressen noch trinken. Sie lehnte sogar Honig ab und zitterte am ganzen Leib.“

    Am folgenden Morgen ging es ihr etwas besser. Vorsichtig machte sie einen Schritt auf das Gras ihres Geheges. Sie entdeckte den Schwimmteich und betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser. Durch den Zaun ihres Geheges beobachtete sie die anderen Bären. „Sie hat 22 Jahre lang keine Artgenossen gesehen“, sagt Lapis. “Als sie die anderen Bären erblickte und ihren Geruch erschnüffelte, mussten wir alle weinen.“

    Masha genießt einen Moment der Ruhe in dem Gehege, in dem sie sich zur Eingewöhnung unter tierärztlicher Beobachtung befindet. Bald soll sie in ein elf Hektar großes Waldhabitat umziehen, das sie sich mit 40 anderen Braunbären teilen wird.

    Foto von Jasper Doest

    Der Krieg in der Ukraine geht unterdessen weiter und Lapis erhält regelmäßig Anfragen bezüglich der Unterbringung weiterer Bären in ihrer Auffangstation. Als nächstes wird ein 15-jähriger Braunbär einziehen, der in einem Käfig vor einem ausgebombten Restaurant gefunden wurde. „Wir können diese Tiere nicht einfach zurücklassen“, sagt Lapis.

    Tierschutz unter Lebensgefahr

    Laut Berichten der Vereinten Nationen sind inzwischen über 3,5 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Masha ist nur eines von vielen Tieren, die bis jetzt evakuiert wurden. Sieben Bären aus dem White Rock Bear Shelter in Kiew wurden am 6. März in einer Pflegeeinrichtung in der Westukraine untergebracht. Ein polnischer Zoo hat mehrere Löwen und Tiger aufgenommen, die bisher ebenfalls in Kiew von Wild Animal Rescue betreut wurden. Viele ukrainische Geflüchtete haben ihre Katzen, Hunde, Kaninchen, Hamster und andere Haustiere mitgebracht. Rumänien, Polen und Ungarn haben vorgeschriebene Impfnachweise und Gesundheitschecks für diese Tiere vorübergehend ausgesetzt, um die Einreise zu erleichtern.

    Doch nach wie vor befinden sich zehntausende Tiere mitten im Krieg in ukrainischen Zoos, Pflegestationen, Tierheimen, auf Bauernhöfen und auf der Straße. Insbesondere in den Gebieten, die unter Artilleriebeschuss stehen, ist die Futtersituation kritisch. Hilfsorganisationen haben zu vielen Regionen keinen Zugang. Zoos und Pflegeeinrichtungen berichten, dass die Tiere durch die Bombardierungen traumatisiert sind. Sie kauern beim Klang der Luftschutzsirenen zusammen, rennen in Zäune und lassen in Panik sogar ihre Jungen zurück. Manche sind vor Schreck gestorben. Im Zoo von Kiew schläft ein Pfleger jede Nacht bei einem verängstigten Elefanten, um ihn beruhigen zu können. In der Hafenstadt Mikolajiw am Schwarzen Meer starben drei Zoomitarbeiter bei einem Bombenangriff.

    Lapis klopft an das Fenster einer unterirdischen Höhle, von der aus sie das Habitat der Braunbären einsehen kann. Im Jahr 1998 traf sie zum ersten Mal auf eine in Gefangenschaft lebende Braunbärin namens Maya. Sie lebte in einem kleinen Käfig vor dem Schloss Bran in Transsilvanien, das auch als Draculas Schloss bekannt ist, und hatte sich aus Stress beide Vorderpfoten abgenagt. Jahrelang besuchte und fütterte Cristina Lapis das Tier. „Als Maya starb, schwor ich, dass ich nicht zulassen würde, dass auch andere Bären so enden“, sagt sie. In Gedenken an Maya gründete Lapis das Libearty Bear Sanctuary.

    Foto von Jasper Doest

    Seit Kriegsbeginn haben Valentina und Leonid Stoyanov, zwei Tierärzte aus Odessa, Dutzende Wild- und Heimtiere retten können. Mit Unterstützung ihrer Instagram- und TikTok-Follower kaufen sie Tierfutter für ihre Schützlinge und die Tiere in Einrichtungen in der Nähe.

    „Unser Leben ist komplett zerstört, wir haben keine Zukunft mehr“, sagt Valentina. „Trotzdem stehen wir jeden Morgen auf und machen weiter. Tausende zurückgelassene Tiere brauchen unsere Hilfe. Sie haben Hunger, sie haben Angst und sie können nichts für diesen Krieg in unserem Land.“

    Als nächstes will de Lange in die Ukraine zurückkehren, um bei der Evakuierung eines Löwen zu helfen, der noch als Haustier in Sambir gehalten wird. Das Tier soll in eine Pflegestation der Warriors of Wildlife am südafrikanischen Ostkap gebracht werden.

    Über die Reise, die Masha in Sicherheit gebracht hat, sagt er: „Als ich in die Ukraine fuhr, war ich glücklich. Ich hatte Angst, aber ich war glücklich. Manche Dinge müssen einfach getan werden – und das war so eine Sache.“

    Die Bären im Libearty Bear Sanctuary leben in Gruppen von etwa 40 Tieren auf einem Grundstück mit einer Gesamtfläche von fast 70 Hektar. „Am Anfang wissen sie meistens nicht, was sie mit ihrer neugewonnenen Freiheit anfangen sollen“, sagt Lapis. „Aber nach einer Weile leben sie genauso, wie wilde Bären es tun."

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