Heuler im Wattenmeer: Zahl verwaister Seehundbabys steigt

Im Vergleich zu vergangenen Jahren musste die Seehundstation Norddeich an der Nordsee in dieser Saison wieder mehr mutterlose Robben aufnehmen. Experten sehen den Grund dafür im zunehmenden Tourismus – und unnötigen Hilfsaktionen.

Ob es sich bei diesem Seehund um ein selbstständiges Jungtier, einen verwaisten Heuler oder ein Baby handelt, dessen Mutter sich noch in der Nähe befindet, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen.

Foto von Carola Vahldiek / adobe Stock
Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 19. Juli 2022, 11:33 MESZ

Jedes Jahr im Juni setzt auf den Sandbänken weit draußen im Watt der Nordsee der Babyboom ein: Die Seehunde bekommen Nachwuchs. Zwar können die Jungtiere direkt nach der Geburt bereits schwimmen, doch bis sie sich auch selbst versorgen und Fische jagen können, vergehen rund fünf Wochen, in denen sie von der Mutter gesäugt werden müssen.

Wird ein Seehundjunges in dieser Phase – zum Beispiel durch starke Strömungen – von seiner Mutter getrennt, versucht es durch einen spezifischen Laut den Kontakt wieder herzustellen. Dieser klägliche Ruf gibt Robbenwelpen, die den Kontakt zu ihrer Mutter verloren haben, ihren Namen: Heuler. Kehrt die Mutter nicht mehr zurück, bedeutet das für das verwaiste Seehundbaby den sicheren Hungertod – es sei denn, es wird in einer Aufzuchtstation sachkundig aufgepäppelt und auf das Leben in freier Wildbahn vorbereitet.

Eine dieser Stationen, die Seehundaufzuchtstation Norddeich in der niedersächsischen Stadt Norden, schlägt nun Alarm. Denn obwohl die Geburtsphase des Jahres 2022 erst in ungefähr zwei Wochen vorbei ist, hat sie bereits jetzt mehr mutterlose Seehundwelpen aufgenommen als in den Jahren zuvor. „Es gibt viele Heuler dieses Jahr“, sagt Peter Lienau, der die Station leitet und es für möglich hält, dass Norddeich in dieser Saison mehr als 200 Robbenwaisen aufnehmen wird.

Mehr Störungen durch Nordseeurlauber

Laut Lienau ist das erhöhte Heuler-Aufkommen in diesem Jahr auf häufigere Störungen des Säugevorgangs zurückzuführen – und die werden zu 99 Prozent von Menschen, insbesondere Touristen, verursacht. Während des Corona-Lockdowns kamen weniger Feriengäste an die Nordsee. Das verschaffte den Seehunden während der Geburtsphase mehr Ruhe. Das bilden auch die Zahlen der Seehundstation ab: Im Jahr 2019 wurden hier 181 Heuler aufgenommen, 2020 nur 133, 2021 sank die Zahl noch einmal auf 116. Doch jetzt kehren die Urlauber ins Wattenmeer zurück – und mit ihnen die Heuler in die Seehundstation. Mitte Juli 2022 wurden hier bereits 191 Tiere versorgt. 

Die meisten Nordseeurlauber seien Lienau zufolge für den Schutz der Seehunde sensibilisiert, „aber bei vielen Besuchern an der Küste steigern sich auch die Ausnahmen“. Problematisch seien vor allem nichtgeführte Wattwanderungen und das Betreten der Ruhezonen des Nationalparks Wattenmeer. Außerdem würden Sportboote Seehundgruppen aktiv an- und langsamer an den Sandbänken vorbeifahren, um die Tiere besser beobachten zu können. Auch Seekajak-Fahrer stören die Seehunde, obwohl es sich bei den Wassersportlern laut Lineau meist um sehr naturbegeisterte, rücksichtsvolle Naturnutzer handelt. Doch aufgrund ihrer Unkalkulierbarkeit nehmen die Seehunde auch sie als potentielle Gefahr wahr.

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    Weil Seehundmütter ihre Jungen ausschließlich auf Sandbänken säugen, bestimmt das Niedrigwasser die zwei bis drei Zeitfenster pro Tag, an denen dies möglich ist. Jede Mahlzeit ist wichtig, damit der Welpe innerhalb von fünf Wochen sein Geburtsgewicht verdoppeln kann. Beim Säugen rollt die Seehundmutter sich auf die Seite, um dem Jungen den Zugang zu den Zitzen zu ermöglichen, aber schon die kleinste Störung veranlasst sie dazu, sich wieder auf den Bauch zu drehen, um die vermeintliche Gefahr einzuschätzen. Besonders starke Störungen können sie sogar zur Flucht veranlassen. Durch die Säugeunterbrechung nimmt der Welpe zu wenig Nahrung auf und muss den kräftezehrenden Versuch unternehmen, der Mutter zu folgen. Hat er aufgrund von Mangelernährung zu wenig Energie oder wird ihm das Folgen durch Stürme oder Gewitter erschwert, wird er zu einem mutterlosen Heuler.

    Nicht jedes Seehundbaby braucht Hilfe

    Gutgemeinte Hilfsaktionen von Wattbesuchern verschlimmern die Situation noch. So ist das „Bewachen“ eines vermeintlichen Heulers kontraproduktiv, weil es die Mutter von der Rückkehr abhalten kann. „Häufig handelt es sich bei den ‚Störern‘ um unbedarfte, fehl- oder nicht informierte Personen“, sagt Peter Lienau. „Keinesfalls sollte man in die Nähe irgendeines Wildtieres gehen, geschweige denn es anfassen oder im schlimmsten Fall mitnehmen, um es zu retten. Abstand zu den Wildtieren würde diesen tausendfach eine Aufzucht durch die eigenen Eltern oder das Muttertier ermöglichen.“

    Ob ein Seehundwelpe wirklich permanent von seiner Mutter getrennt wurde, einfach nur ganz natürlich nach ihr ruft oder eventuell schon alt genug ist, um für sich selbst zu sorgen, ist für Laien und auch für Experten auf den ersten Blick nicht festzustellen. „Darum sollten Menschen, die einen Heuler entdecken, nicht selbst eingreifen, sondern großen Abstand“, sagt Michael Kruse, Leiter der Nationalparkverwaltung. Diese Fachleute prüfen jeden Fund individuell und sperren den Fundbereich – wenn möglich über mehrere Stunden – ab, um ausschließen zu können, dass der Kontakt zwischen Jung- und Muttertier wiederhergestellt werden kann. Erst dann wird der Seehundwelpe in eine Aufzuchtstation gebracht, wo er zehn bis zwölf Wochen betreut wird, bevor er wieder in die freie Wildbahn entlassen werden kann.

    Damit die Heulerzahl in diesem Jahr nicht weiter steigt und in den kommenden Jahren wieder sinkt, appelliert Peter Lineau an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. „Bevor man irgendwelche Flächen betritt, befährt oder befliegt, gibt es eine Holschuld zur Eigeninformation“, sagt er. Am besten sei es für die Wildtiere, wenn man jederzeit einen Abstand von mindestens 300 Metern einhält – und sie in Ruhe lässt.

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