Antarktischer Eisschild doch nicht so stabil wie gedacht

Der östliche Teil des Antarktischen Eisschilds fluktuierte in der Vergangenheit stark. Das löst Bedenken über einen dramatischen Rückgang in der Zukunft aus.

Von Douglas Fox
Veröffentlicht am 24. Dez. 2017, 12:00 MEZ
Der Antarktische Eisschild ist die größte eigenständige Eismasse der Welt.
Der Antarktische Eisschild ist die größte eigenständige Eismasse der Welt.
Foto von George Steimetz, National Geographic Creative

Bei der Erforschung des antarktischen Meeresbodens haben Wissenschaftler ein paar überraschende Episoden aus der Geschichte des Kontinents aufgedeckt: Der östliche Teil des Antarktischen Eisschilds erlebte in ferner Vergangenheit eine Reihe dramatischer Rückgänge. Oft waren diese Prozesse von katastrophalen Überschwemmungen durch Schmelzwasser durchsetzt, die ihren Ursprung unterhalb des Eisschilds hatten und tiefe Narben im Meeresboden hinterließen. (Lesenswert: Antarktis von mehr Schmelzwasser bedeckt als vermutet)

Das Eis über der Ostantarktis ist vielerorts mehr als 3,5 Kilometer dick und gilt seit Langem als stabiler und langlebiger als der Westantarktische Eisschild. Daher ging man auch davon aus, dass er die globale Erwärmung unbeschadet überstehen würde. Aber die neuen Forschungsergebnisse, die von Sean Gulick von der Universität Texas, Amelia Shevenell von der Universität von South Florida und ihren Kollegen veröffentlicht wurden, sprechen eine andere Sprache. Sie verstärken eher die Befürchtungen, dass die großen Eismassen der Ostantarktis gefährdeter sind, als man einst dachte.

In den letzten Jahren haben Wissenschaftler den Boden der Ostantarktis mit Hilfe von Radarinstrumenten vermessen, die das Eis durchdringen. Sie fanden heraus, dass es in diesem Bereich des Kontinents genau wie in der Westantarktis große Bereiche gibt, die mehrere hundert Meter unter dem Meeresspiegel liegen. Weil sich diese Bereiche des Eisschilds auf so einer tiefen Ebene befinden, können warme Meeresströmungen sie einfacher schmelzen.

„In diesen Becken gibt es eine Menge Eis“, sagt Robert DeConto, ein Glaziologe von der Universität von Massachusetts Amherst. „Das wird einen wirklich großen potenziellen Beitrag zum Meeresspiegel[anstieg] leisten.“

Eines der größten Becken ist das Aurora-Subglazialbecken. Ein Großteil des dort vorhandenen Eises fließt durch den Totten-Gletscher ins Meer, der rapide abschmilzt. Um die Geschichte dieses Teils des Eisschilds zu erforschen, sammelte das Team von Gulick und Shevenell direkt vor der Küste Hinweise.

BLICK IN DIE VERGANGENHEIT

Im Februar 2014 zogen die Forscher auf dem Eisbrecher Nathaniel B. Palmer an der Sabrina-Küste im Osten der Antarktis entlang. Alle paar Sekunden hallte ein dumpfes, lautes Geräusch durch die Gegend – der gedämpfte Klang der unter Wasser liegenden Luftkanonen, die vom Schiff gezogen wurden. Die Schallwellen drangen bis zu 460 Meter tief in den Meeresboden ein, bis sie zurückgeworfen wurden. Die Detektoren an der Oberfläche fingen diese Echos dann auf.

Die so entstehenden seismischen Profile offenbarten Hunderte Schichten aus Schlamm, Sand und Kies, die im Laufe von Millionen Jahren durch die langsamen Gletscherbewegungen von der Antarktis abgetragen und ins Meer gespült wurden. Tiefe Schichten ließen erkennen, dass das antarktische Eis erstmals vor etwa 50 Millionen Jahren entstand – nur 15 Millionen Jahre nach dem Aussterben der Dinosaurier und „deutlich früher, als wir dachten“, sagt Shevenell.

Die Abfolge der Schichten ermöglichte es Shevenell und ihren Kollegen, die wechselnden Perioden der Ausdehnung und des Rückzugs des Eisschilds seit der Zeit seiner ursprünglichen Entstehung zu rekonstruieren.

Während kalter Perioden erstreckte sich das Eis an die 160 Kilometer oder noch weiter über seine heutigen Grenzen hinaus. In wärmeren Zeiten schrumpfte es auf weniger als seine heutige Fläche zusammen und zog sich tief ins Aurora-Subglazialbecken zurück.

Am meisten war das Team jedoch von den tiefen Narben fasziniert, die sich viele Meter tief im Meeresboden befanden. Die V-förmigen Kerben in den Schichten aus Sand und Schlamm wirkten wie „glaziale Rinnen“: Gräben, die durch die Schmelzwasserbewegungen unter dem Eisschild in den Meeresboden getrieben wurden.

Die Eisdecke im Osten der Antarktis galt einst als stabil, aber Wissenschaftler sorgen sich nun zunehmend um ihre Anfälligkeit gegenüber steigenden Temperaturen.
Foto von George Steimetz, National Geographic Creative

Die Wissenschaftler kennen glaziale Rinnen vor allem aus Nordamerika und Europa, wo sie entstanden, als vor etwa 10.000 Jahren am Ende der letzten Eiszeit die Eisschilde zerbrachen. Aber solche Gräben vor der Antarktis zu sehen, „hat uns völlig überrascht“, sagt Shevenell.

Mit einer Breite von 800 Metern und einer Tiefe von 150 Metern könnten diese Rinnen einst so viel Wasser wie der Mississippi getragen haben – zumindest für die Dauer eines geologischen Moments. Die Forscher glauben, dass sie womöglich durch Katastrophen entstanden, als sich gewaltige Schmelzwasserseen auf der Gletscheroberfläche plötzlich durch Risse im Eis entleerten. (Lesenswert: Nachtaufnahmen offenbaren Risse im Schelfeis der Antarktis)

„Für eine kurze Zeit rauscht eine Wassermenge wie die der Niagarafälle zum Grund der Eisdecke“, sagt Slawek Tulaczyk. Der Glaziologe der Universität von Kalifornien, Santa Cruz, war an der neuen Studie nicht beteiligt, untersucht aber den Wasserfluss unter Eisdecken. Wenn das Wasser auf das weiche Sediment unter dem Eis trifft, „frisst es sich hinein und höhlt ganz einfach einen Tunnel aus.“ (Lesenswert: Der mysteriöse blutige Wasserfall der Antarktis)

DIE VERGANGENHEIT ALS PROLOG?

Eine oder mehrere dieser Fluten traten während der Zeit vor 30 bis sechs Millionen Jahre auf, wie die neue Studie ermittelt hat. Sie ereigneten sich wahrscheinlich während der elf Übergangsperioden, als die Eisdecke sich weit über ihre heutige Größe hinaus ausgedehnt hatte. Dann setzte eine schnelle Klimaerwärmung ein. Durch die warmen Sommer bildeten sich auf der Oberfläche der Eisdecke riesige Schmelzwasserseen und sie schrumpfte.

Heutzutage ist die Luft über der Antarktis zu kalt, um das Eis an der Oberfläche zu schmelzen. Es schrumpft eher von unten her – und zwar dort, wo das Eis von tiefen, warmen Meeresströmungen gestreift wird.

Aber laut DeConto wird das nicht zwingend so bleiben. „Man begreift immer mehr, dass es in der Antarktis nicht nur um die Interaktion zwischen dem Meer und dem Eis gehen wird“, sagt er, „und dass atmosphärische Prozesse eine Rolle spielen könnten, wenn die Konzentration der Treibhausgase hoch genug ist.“

Wann könnte so etwas passieren? DeConto warnt davor, zu drastische Schlüsse aus den Fluten zu ziehen, die vor Millionen von Jahren auftraten, als der Boden unter der Antarktis noch ganz anders ausgesehen haben könnte. Aufgrund der Veränderungen im Erdorbit könnte der Kontinent während der Sommerzeit damals außerdem mehr Sonneneinstrahlung und mehr Wärme als heute abbekommen haben.

Dennoch gibt es eine Sache, die laut DeConto an den neuen Ergebnissen beunruhigend ist. Während eines Großteils jener Zeit, in der die Antarktis immer wieder so viel Eis einbüßte, war der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre ähnlich hoch wie aktuell – womöglich sogar ein kleines bisschen höher. Bis zum Ende des Jahrhunderts, so DeConto, „werden wir uns weit jenseits dieses Bereichs bewegen“.

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