Besetzt und umkämpft: Der langsame Tod des Hambacher Forsts

Das ökologisch wertvolle Waldgebiet weicht seit Jahren Stück für Stück einem Braunkohletagebau. Wie steht es um die Zukunft seiner Fauna und Flora?

Von Michelle Z. Donahue
bilder von Alban Grosdidier
Veröffentlicht am 17. Apr. 2018, 15:12 MESZ

Als Michael Zobel vor vier Jahren anfing, geführte Naturwanderungen in den Hambacher Forst anzubieten, war er froh, wenn eine Handvoll Leute auftauchte.

Im November 2017 kamen fast 400 Menschen. Zobel führte sie auf ausgetretenen Pfaden entlang, vermied es aber, sie in das Herz des Waldes zu bringen. Die Gruppe war über die sozialen Medien auf den Beginn einer weiteren Rodungssaison aufmerksam geworden und war gekommen, um die womöglich letzten Tage des uralten Waldes zu erleben.

Zobel will nicht versehentlich beschädigen, was vom Forst noch übrig ist – die letzten Überbleibsel eines Waldökosystems, welches das Rheintal zwischen Aachen und Köln seit dem Ende der letzten Eiszeit bedeckt. Aber er bringt seine Gruppe an den Rand des Waldes, die Rodungslinie, damit die Besucher mit eigenen Augen sehen können, was mit dem Forst passiert.

„Es kommen eine Menge Leute her, die dann aber sagen, dass sie an den geführten Wanderungen nicht teilnehmen können, weil es sie traurig macht, was noch übrig ist“, so Zobel. „Früher konnte man stundenlang spazieren gehen, ohne irgendjemanden zu treffen.“

Seit 1978 befindet sich das Land, auf dem der Hambacher Forst steht, im Besitz des deutschen Energiekonzerns RWE. Jedes Jahr rodet das Unternehmen einen weiteren Teil am Rande des Waldes, um seinen Braunkohletagebau auszuweiten, aus dem jährlich im Schnitt 49,6 Millionen Tonnen Kohle gewonnen werden. Mittlerweile ist der Wald auf knapp zehn Prozent seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft.

Der Wald bestehe vornehmlich aus Eichen und Hainbuchen und sei der einzige seiner Art in Europa, erklärt Zobel. Da die Menschen aus der Umgebung mindestens seit römischer Zeit Holz als Brenn- und Baustoff aus dem Wald entnommen haben, gilt er im Gegensatz zu beispielsweise Polens Bialowiezer Heide nicht als Urwald. Dennoch ist es ein seltener Wald: Laut einer Studie aus dem Jahr 2013 entfallen auf Eichen-Hainbuchen-Wälder wie den Hambacher Forst nur 33.557 Hektar oder 4,1 Prozent der 816.000 Hektar an geschützten deutschen Waldlebensräumen. Insgesamt gelten elf Millionen Hektar Fläche in Deutschland als bewaldet.

Als RWE das Gebiet des Hambacher Forsts 1978 aufkaufte, erstreckte sich der Wald noch auf mindestens 5.500 Hektar. Derzeit sind davon noch etwa zehn Prozent übrig. Obwohl man messen kann, welcher Prozentsatz des Waldes jedes Jahr verschwindet, während sich der Braunkohletagebau ausweitet, gibt es noch einen anderen, weniger greifbaren Verlust: die ökologischen Daten eines so alten und seltenen Ökosystems.

DATENMANGEL

Seit 20 Jahren arbeitet Zobel nun schon als Naturführer und Waldpädagoge und weiß daher über praktisch jede Pflanze, jeden Baum und jedes Tier im Hambacher Forst Bescheid. Er zeigt den Besuchern Fledermäuse wie die gefährdete Bechsteinfledermaus (Myotis bechsteinii) oder alte Astlöcher, in denen sie nisten könnten – und Dachse. Und natürlich darf bei keiner Wanderung in einem deutschen Wald ein Gespräch über die dortigen essbaren und giftigen Pilze fehlen.

Aber Zobel ist kein Wissenschaftler. Obwohl Wälder mit einer Zusammensetzung wie der des Hambacher Forst in anderen Teilen Europas – besonders in Tschechien, Italien und Schweden – untersucht wurden, scheint es über den deutschen Vertreter keine umfassenden ökologischen Studien zu geben.

Keiner der deutschen Waldforscher, die für diesen Artikel kontaktiert wurden, hatte genauere Kenntnisse über den Forst oder sein Ökosystem oder wusste von irgendwem, der dort Studien durchgeführt hat. Auch der RWE-Sprecher Guido Steffen sagte, dass seines Wissens nach keine anderen wissenschaftlichen Studien im Hambacher Forst durchgeführt wurden.

„Das Problem ist, dass die deutschen Wälder nicht besonders gut untersucht wurden. Die meiste Forschung findet heutzutage für die Industrie statt – wie schnell kann ein Baum wachsen oder welche Qualität hat er für die Holzverarbeitungsindustrie“, erklärt Peter Wohlleben, ein Förster und der Autor des Buches „Das geheime Leben der Bäume“. Mit ihm befreundete Entomologen könnten keine Finanzierung für Forschungsprojekte über neu entdeckten Insekten finden, und die Bemühungen zum Erhalt der Biodiversität in Deutschland gingen kaum über Lippenbekenntnisse hinaus. „In Wahrheit wissen wir über diese Ökosysteme nicht besonders viel“, sagt er.

Wohlleben argumentiert, dass die Bodengeschichte eines Waldes, der nie zu landwirtschaftlichen Zwecken gerodet wurde, in ganz Europa so selten ist, dass jedes verbleibende Fragment erhalten werden sollte. Denn ein Wald beginne schon weit unter der Erde, wie er sagt, da Bäume beispielsweise über Netzwerke aus Pilzfäden kommunizieren. Daher könne ein Wald niemals vollständig wiederhergestellt werden, wenn er einmal gerodet wurde. Selbst Wälder, die auf einstigen Ackerflächen aus dem Mittelalter stehen, hätten ihm zufolge einen deutlich anderen Boden als solche Wälder, die seit jeher ungestört wuchsen.

Diverse Studien unterstützen seine Behauptungen: Die Forschungen des Cambridge-Wissenschaftlers Merlin Sheldrake verdeutlichten den Beitrag von Wurzelnetzwerken zwischen Mykorrhizapilzen und Bäumen, die auch als „Wood Wide Web“ bezeichnet werden. Andere Studien verweisen auf die verringerte Biodiversität in regenerierten Wäldern, selbst noch Jahrhunderte nach der Rodung.

„Wir denken an Vögel und Säugetiere – große und hübsche Lebewesen –, aber es gibt auch Milben, Würmer, Bakterien und Pilze, die für einen Wald ebenso wichtig sind, aber nicht untersucht wurden“, sagt Wohlleben. „Einst bedeckten Laubwälder 80 Prozent der Fläche Deutschlands, jetzt sind nur noch ein paar dieser Wälder übrig. Jedes kleine Fleckchen, das noch bleibt, ist wichtig.“

Christian Dietz ist ein Fledermausforscher, der biologische Erhebungen durchführt und Umsiedlungspläne für Fledermäuse in alten Wäldern wie dem Hambacher Forst entwirft. Ihm zufolge ist das Management alter Eichenwälder selbst bei Forsten, die offiziell unter Schutz stehen, von Ort zu Ort ganz unterschiedlich, was den Schutz der heimischen Fauna erschwert.

„Manche Landeigentümer schützen und verwalten ihre alten Wälder sehr gut, aber andere betreiben an ihren alten Baumbeständen Raubbau, selbst in geschützten Bereichen“, so Dietz. „Und viele spezialisierte Arten können die Lücke zwischen neuen Verlusten und dem langfristigen Ersatz [von Bäumen] nicht überleben.“

UMKÄMPFT UND BESETZT

Eine weitere Eigenheit des Hambacher Forsts, den manche Einheimische und Aktivisten auch liebevoll als „Hambi“ bezeichnen, sind seine Besetzer, die sich im Wald semi-häuslich eingerichtet haben. Während der Rodungssaison von Oktober bis April wohnen die Aktivisten in Baumhäusern, die sie in einigen der größten verblieben Bäumen gebaut haben – teils in 25 Metern Höhe.

Durch diese und andere Aktionen der Aktivisten beschloss das Oberverwaltungsgericht Münster Ende 2017, dass die Rodung vorläufig gestoppt werden müsse. Ende März wurde der Hauptbetriebsplan für den Tagebau bis 2020 jedoch genehmigt, sodass die Rodung im Herbst 2018 weitergehen kann. Sofern also keine neue Aussetzung beschlossen wird, wird RWE im Oktober wieder anfangen, Bäume zu fällen.

Die Gerichtsprozesse drehten sich hauptsächlich um die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie aus dem Jahr 1992, die 1.000 gefährdete Tierarten und 200 seltene Lebensräume schützt. Im Hamacher Forst leben 13 dieser Arten, darunter die Bechsteinfledermaus und acht weitere Fledermausarten, zwei Krötenarten, der Springfrosch und die Haselmaus.

RWE hat argumentiert, dass es den Hambacher Forst lange vor der Existenz der Richtlinie erwarb und mit der Rodung begann, weshalb der Wald nicht durch sie geschützt sei. Bisher haben die Gerichte zugestimmt.

Steffen sagt, dass das Unternehmen sich der Auswirkungen des Tagebaus auf die umliegende Landschaft durchaus bewusst ist und sich eifrig darum bemüht, die Walddecke zu ersetzen und von der Rodung betroffene Arten umzusiedeln. Ihm zufolge wurden mehr als zehn Millionen Bäume gepflanzt und im Laufe von vier Jahren wurden Gutachten zur Flora und Fauna erstellt, um Pläne für jene Tiere wie die Bechsteinfledermaus und die Haselmaus zu entwerfen, die nicht einfach von selbst umsiedeln können.

RWE habe laut Steffen große Anstrengungen unternommen, um den Tieren zu helfen, die von dem Tagebau betroffen sind: Man hat Baumkorridore gepflanzt, damit die Tiere einen Weg in andere Waldbereiche finden können, Fledermauskästen angebracht und ganze Ameisenkolonien ausgehoben, um sie in aufgeforsteten Bereichen nördlich des Tagebaus wiederanzusiedeln.

Der Fledermausexperte Dietz hält eine erfolgreiche Lösung aber für nicht ganz so einfach.

„Die Schlafplatzmigration mit Hilfe von Fledermauskästen funktioniert für Myotis bechsteinii, zumindest regional. Aber es ist deutlich schwieriger, die Nahrungsgründe und Überwinterungsplätze zu ersetzen. Einige der im Wald heimischen Arten überwintern in großen Bäumen“, so Dietz.  „Und wie immer gilt: Je größer die Verluste und je mehr Arten dort leben, desto geringer ist die Chance, die Habitate und Bestände zu ersetzen.“

ZUKÜNFTIGER SEE?

Mitte der 2020er soll der Tagebau eingestellt werden und aus der Grube soll ein See mit einer Größe von 35 Quadratkilometern werden. Rund um den See sollen Samen und Schösslinge des alten Hambacher Baumbestandes gepflanzt werden.

Auch die Aktivisten haben Samen und Sprösslinge aus dem Hambacher Forst gesammelt, um sie andernorts anzupflanzen und so einen Teil der genetischen Identität des Waldes zu erhalten, selbst wenn der Wald verschwunden ist. Laut einem Hambacher Aktivisten, der sich nur als „Jus“ vorstellte, teilen die Besetzer die Samen mit den Leuten, die für Zobels geführte Wanderungen herkommen. Die Bäume aus dem Forst hätten sich schon über ganz Europa verbreitet.

Steffen zufolge sei die Kohle unter dem Wald von entscheidender Bedeutung, um Deutschlands Energieunabhängigkeit zu garantieren und die neuen Ziele für grüne Energie zu erreichen. Das letzte deutsche Atomkraftwerk soll 2022 vom Netz gehen und RWE beharrt darauf, dass seine Kohleenergie notwendig sein wird, um die Versorgungslücke zwischen dem Wegfall der Atomenergie und einer ausreichenden Abdeckung durch Wind- und Solarenergie zu gewährleisten. Steffen schätzt, dass nach der Schließung des Tagebaus noch etwa 400 Millionen Tonnen Braunkohle im Boden verbleiben werden.

„Ich kenne den Hambacher Forst schon seit Jahrzehnten, schon vor dem Tagebau. Es war ein großartiger Wald“, sagt Steffen. „Es ist schade, dass er abgeholzt werden muss. Wir machen das ja nicht, weil wir gerne Bäume fällen, sondern weil es wirtschaftlich notwendig ist. Deutschland braucht Energie.“

Zobel vermutet, dass vom Hambacher Forst mittlerweile so wenig übrig ist, dass der verbleibende Rest wohl stark degradiert ist. Trotzdem hofft er, dass man diesen Rest noch erhalten kann.

„Ich träume davon, dass nichts mehr gerodet wird und wir dann darüber nachdenken können, was passieren muss“, sagt Zobel. „Wie können wir diesem Wald dabei helfen, zu überleben? Vielleicht können wir das Loch wieder aufschütten und versuchen, den Wald neu zu pflanzen. Im Vergleich zum Rest der Welt ist der Hambacher Forst nur ein kleines Problem, aber es existiert eben.“

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