Chemikalien könnten den weltweiten Bestand an Orcas halbieren
Erbschäden durch PCBs stellen eine langfristige Bedrohung für Schwertwale dar.
Sie leben in gesprächigen Familiengruppen und jagen in Teams. Manchmal arbeiten sie sogar synchron zusammen, um große Wellen zu erzeugen, die glücklose Beutetiere von ihren Eisschollen schwemmen können. Die intelligenten Orcas mit ihrer charakteristischen zweifarbigen Zeichnung haben so einiges überlebt: Massentötungen, den Fang mit Netzen und Lassos sowie Lufttransporte in Meeresthemenparks.
Nun lassen neue Forschungsergebnisse, die in „Science“ erschienen, jedoch befürchten, dass mehr als die Hälfte des weltweiten Schwertwalbestandes in 30 bis 50 Jahren vollständig zusammenbrechen könnte – und das alles aufgrund toxischer Chemikalien, die bereits verboten sind.
Die langlebigen Polychlorierten Biphenyle (PCBs) sind organische Verbindungen, die früher unter anderem in Kondensatoren, Ölfarben und Kühlmitteln zum Einsatz kamen. Schlussendlich wurden sie als so gefährlich eingestuft, dass ihre Herstellung seit den Siebzigern schrittweise verboten wurde. Erst 2001 trat mit dem Stockholmer Übereinkommen ein weltweites Verbot in Kraft. Trotzdem zählen die Orcas der nördlichen Hemisphäre heutzutage zu den am stärksten kontaminierten Tieren der Welt.
Selbst jetzt noch verändern PBCs vermutlich das Verhalten der Tiere, schädigen ihr Immunsystem und beeinträchtigen ihre Fortpflanzungsfähigkeit so stark, dass Forscher fürchten, viele Familiengruppen könnten die nächsten paar Jahrzehnte nicht überleben.
„Eine Gruppe von Chemikalien, von der wir dachten, dass sie keine Bedrohung mehr darstellen würde, ist immer noch in Konzentrationen vorhanden, die auch weiterhin ein beträchtliches Risiko darstellen werden“, sagt der Hauptautor der Studie Jean-Pierre Desforges vom Arctic Research Centre der dänischen Universität Aarhus.
Desforges bezeichnet die Ergebnisse als „beängstigend“ – teils auch, weil PBCs nur eine von diversen Bedrohungen für die Orcas sind, und oft noch nicht mal die schlimmste.
PCB-Anreicherung an der Spitze der Nahrungskette
Die Verbreitung von PBCs nahm nach dem Verbot zunächst ab. Ihre Konzentration in der Umwelt blieb im Laufe der Jahre jedoch relativ konstant. Teils liegt das daran, dass die Verbindungen noch immer in den Vorgängermodellen von Produkten wie Transformatoren, Kabelisolierung und Schiffsfarben vorkommen. Ganze 80 Prozent der weltweiten Lagerbestände an PCB wurden bisher noch nicht zerstört.
Zudem zersetzen sich PCBs nur langsam und finden ihren Weg in die Moleküle lebender Tiere, sodass sie sich auch im Nahrungsnetz ausbreiten. Orcas zählen zu den Spitzenprädatoren – sie befinden sich am oberen Ende der Nahrungskette und fressen Fische, Robben, Seelöwen, Haie oder andere Wale. Natürliche Feinde haben sie keine. Demnach verwundert es nicht, dass die Karzinogene sich in ihrem Speck anreichern.
Das Verbreitungsgebiet der Schwertwale erstreckt sich über die ganze Welt, von Brasilien bis ins Mittelmeer und von der Arktis bis zur Antarktis. Im Gegensatz zu vielen Landraubtieren wie Eisbären ist es für die Orcas schwer, die PCBs wieder loszuwerden. Einige der Wale weisen mittlerweile eine 25 Mal höhere Konzentration auf, als nötig wäre, um sich auf ihre Fruchtbarkeit auszuwirken. Die Muttertiere geben die Schadstoffe sogar bei der Geburt oder über ihre Milch an ihren Nachwuchs weiter.
„Anhand von Belegen aus ein paar Jahrzehnten der Forschung bleiben PCBs auf dem ersten Platz der besorgniserregenden Schadstoffe für die Wildtiere an der Spitze der Nahrungskette in der nördlichen Hemisphäre“, sagt Peter Ross. Der auf Meeressäuger spezialisierte Toxikologe von Ocean Wise, einem Forschungsprogramm des Vancouver Aquarium in British Columbia, ist einer der Co-Autoren von Desforges’ Studie.
In diesem Wissen trugen Desforges und seine Kollegen Daten über PCBs von 351 Orcas aus aller Welt zusammen und legten damit die bislang umfassendste Datenbank dieser Art an. Sie nutzten Wachstumstrends für die Populationen sowie Risikoanalysen für bestimmte PCB-Konzentrationen, um die Überlebenschancen der Tiere auf ein Jahrhundert hin zu berechnen.
So fanden sie heraus, dass 10 der 19 von ihnen untersuchten Bestände bereits schrumpfen und dass die PCB-Belastung die Tiere im Laufe der Zeit noch weiter dezimieren wird. Besonders hart trifft es die Orcas, die in der Nähe von hochindustrialisierten Gebieten rund um die Straße von Gibraltar und Großbritannien leben. Dort werden mutmaßlich nicht mal mehr zehn Tiere übrigbleiben. Auch die Bestände in Japan, Hawaii und im Nordostpazifik sind bedroht, da die Orcas dort viele Meeressäuger fressen, die selbst mit hohen PCB-Konzentrationen belastet sind. Die Populationen in höheren Breitengraden – rund um Island und Norwegen sowie an den Polen – haben ein geringeres Kontaminationsrisiko.
Allerdings verweisen die Forscher auch auf die Grenzen der Studie. Sie basiert auf Computermodellen, und die Auswirkungen auf die Tiere wurden aus Studien zu anderen Tierarten extrapoliert.
„Das ist eine gute Übung, aber man muss sie mit einer gewissen Vorsicht betrachten“, sagt James Meador, ein Umwelttoxikologe der NOAA, der an der Studie nicht beteiligt war.
Aber selbst Meador bezeichnet die Studie als einen „Weckruf“, da PBCs die anderen Gefahren für die Orcas noch verschärfen.
Gefahr von allen Seiten
Um das zu verstehen, muss man nur einen Blick in den Pazifischen Nordwesten und den Puget Sound werfen. Die Meerenge liegt nur ein paar Kilometer von Meadors Büro in Seattle entfernt.
Die vom Aussterben bedrohte Orca-Population der Southern Resident Killer Whales, die dort lebt, gehört zu den am besten studierten der Welt. Mit Hilfe von Fotobüchern und den einzigartigen Zeichnungen jedes Tieres können die Forscher jedes Individuum identifizieren und den Familienstammbaum bis auf eine von insgesamt drei Herden namens J, K und L zurückverfolgen.
Laut Desforges Studie haben diese Orcas nur ein mittleres PCB-Risiko. Dennoch ist diese Population, die noch im 19. Jahrhundert vermutlich mehrere hundert Tiere umfasste, mittlerweile auf 74 Exemplare zusammengeschrumpft. Die Bedrohung für den Bestand wird als so groß angesehen, dass Washingtons Gouverneur in diesem Sommer ein Notfallteam zusammengestellt hat, um die Krise nach Möglichkeit abzuwenden.
Nicht zuletzt, weil Orcas auch ein komplexes Gefühlsleben haben, sind die Probleme dieser zivilisationsnahen Tiere oft von öffentlichem Interesse und besonders schwer mit anzusehen.
In diesem Sommer verlor ein 20 Jahre altes Orcaweibchen namens J35 – Spitzname Tahlequah – ihr Kalb etwa eine halbe Stunde nach der Geburt. Danach hielt sie ihr totes Junge ganze 17 Tage lang mit der Schnauze an der Wasseroberfläche. Schlussendlich legte sie auf diese Weise mehr als 1.600 Kilometer zurück.
Während die Welt das Trauerritual des Orcas mitverfolgte, beobachteten die Wissenschaftler ein anderes Tier – die dreijährige J50 –, das langsam zu verhungern schien. Die Forscher verabreichten ihr Antibiotika und nutzten eine umgedrehte Petrischale an einem langen Stab, um Atemproben von ihrem Blasloch zu nehmen. Lokale Stammesgruppen zerkleinerten Lachs und versuchten, sie zu füttern. Mitte September verschwand sie schließlich.
Gerade erst haben Experten ein weiteres Tier namens K25 fotografiert, das deutlich an Gewicht verloren hat.
Mindestens drei Tiere dieser Population sind derzeit trächtig, aber kein Vertreter der Southern Resident Killer Whales konnte in den letzten paar Jahren ein Kalb am Leben halten. Von 2008 bis 2014 nutzten die Forscher einen schwarzen Labradormix namens Tucker, um Walfäkalien zu lokalisieren. Anhand der Exkremente wiesen sie letztes Jahr nach, dass fast 70 Prozent aller bekannten Trächtigkeiten nicht in einem gesunden Kalb resultierten.
„Wir befinden uns am Tiefpunkt der letzten 30 Jahre“, sagt Lynne Barre, die Koordinatorin für das NOAA-Programm zur Wiederherstellung des Orcabestandes.
Obwohl viele Faktoren zu dem Rückgang beitragen, gibt es drei große Schlüsselfaktoren. Die Schwertwale der Southern Resident Killer Whales ernähren sich im Gegensatz zu anderen Orcas, die auch auf Robben und Seelöwen Jagd machen, fast ausschließlich von Königslachsen. Der Bestand an diesen Fischen ist in den letzten Jahren jedoch eingebrochen – und die Orcas brauchen pro Tag bis zu 200 Kilogramm Nahrung. Der Lärm des Schiffsverkehrs stört zudem die Echoortung der Tiere, die auf der Nahrungssuche immer weiter ins Meer hinausschwimmen müssen.
Wenn Wale hungrig sind und hart arbeiten, verbrauchen sie ihr gespeichertes Fett. Dadurch werden die PCBs und andere giftige Chemikalien aus ihrem Speck freigesetzt und gelangen in den Blutkreislauf. Dort können die Schadstoffe das Immunsystem schädigen und das Krankheitsrisiko erhöhen. Infolgedessen kann die Fruchtbarkeit abnehmen – oder die Schadstoffe agieren als Neurotoxine und können zu Orientierungslosigkeit führen, was die Nahrungssuche noch weiter erschwert. Wenn die hungernden Tiere an Masse verlieren, erhöht sich auch der Prozentsatz an PCBs in ihrem Körper und verschlimmert die Auswirkungen.
„All diese verschiedenen Gefahren interagieren miteinander“, sagt Barre.
Risiko für weitere Bestände
Orcas können so alt wie Menschen werden, was bedeutet, dass einige der heute noch lebenden Tiere schon zu Hochzeiten der PCB-Nutzung und nach dem Zweiten Weltkrieg lebten. Da diese Schadstoffe langfristig wirken, können selbst ausgewachsene Tiere, die als Kälber oder im Mutterleib kontaminiert wurden, noch heute die Auswirkungen spüren.
Das bedeutet, dass selbst jene Bestände, die von außen gesund scheinen, in Gefahr sein könnten, sagt Ross.
Die Zahl der Wale des Puget Sound nimmt zwar weiterhin ab, aber die sogenannten Transient-Schwertwale, die ganz in der Nähe leben und sich von Robben und Seelöwen ernähren, sind stabil – obwohl sie oft noch stärker mit PCBs belastet sind. Der Zahl der Orcas in Kanada und Alaska nimmt sogar zu.
Da PCBs aber fast jede Körperfunktion beeinträchtigen können, „sprechen Zahlen manchmal keine eindeutige Sprache“, erklärt Ross.
So hatten in den späten Achtzigern beispielsweise Seehunde ein großes Comeback in Europa, nachdem es in den Sechzigern aufgrund von PCBs und Pestiziden zu einem Populationseinbruch gekommen war. Kurz, nachdem Regierungsvertreter die Krise für beendet erklärt hatten, starb über die Hälfte der Robben an einem Virus. Ross zufolge war ihr Immunsystem nach Jahren der Belastung wahrscheinlich geschwächt.
Laut Desforges und Ross war das Verbot von PCBs für die Orcas definitiv ein Lebensretter. „Ohne diesen Schritt gäbe es heute wahrscheinlich gar keine Orcas mehr“, so Ross.
Aber beide Forscher sind sich einig, dass die Länder der Welt schnell handeln und die noch vorhandenen Schadstoffe beseitigen müssen. Derweil müssen auch die anderen Bedrohungen für die Orcas – besonders die Nahrungsknappheit, die Lärmverschmutzung und die Auswirkungen des Klimawandels – zeitnah bekämpft werden, um einige Bestände noch zu retten.
„Wir haben mehr als genug Informationen, um zu handeln“, sagt Ross. „Die Zeit wird zeigen, ob wir das auch schnell genug tun.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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