„Jeder Vogel zählt“: Rettung verölter Vögel ist eine Wissenschaft für sich

Mit Spülmittel, Föhn und Fachwissen geben Tierretter ölverklebten Vögeln eine zweite Chance.

Von Haley Cohen Gilliland
Veröffentlicht am 22. Apr. 2020, 11:19 MESZ
Ein ölverklebter Grünreiher wird in das International Bird Rescue Center in Southern California eingeliefert. Dort werden ...

Ein ölverklebter Grünreiher wird in das International Bird Rescue Center in Southern California eingeliefert. Dort werden jedes Jahr zwischen 100 und 400 Vögel behandelt, die in Kontakt mit Rohöl gekommen sind. Schon mindestens seit den 1940ern versuchen Amerikaner, solchen Vögeln zu helfen. In den letzten 80 Jahren – und mehrere Ölkatastrophen später – sind die Überlebenschancen dieser Tiere höher denn je.

Foto von Angie Trumbo, International Bird Rescue

LOS ANGELES. Die Tierärztin Rebecca Duerr holt erschrocken Luft, als sie sanft auf den Bauch des schwarzweißen Vogels drückt, der auf ihrem Untersuchungstisch sitzt. Er ist ungefähr so groß wie eine Krähe, hat tomatenrote Augen, einen gelben Schnabel und einen dünnen Schwanenhals. Das Tier quakt kläglich. „Total dünn“, erklärt Duerr, während ein Kollege das Handtuch über dem Kopf des Vogels festhält, damit er ruhig bleibt.

Acht Tage zuvor wurde das Tier, ein Renntaucher, zum International Bird Rescue Center in die Gemeinde San Pedro in Los Angeles gefahren. Vor Santa Barbara war sein Gefieder durch das Öl verklebt worden, das auf natürliche Weise aus Spalten im Meeresboden austritt.

Einen verölten Vogel zu sehen, ist nie einfach, erzählt Duerr. Seine Federn, einst wasserdicht und gleichmäßig angeordnet, bilden klebrige Klumpen. Wenn die empfindliche Haut der Vögel freiliegt, beginnen sie zu zittern oder bekommen durch den Kontakt mit dem Rohöl Ausschläge. Die grazilen Tiere, die einst mühelos auf dem Wasser schwammen, müssen sich in diesem Zustand abstrampeln, um nicht unterzugehen.

Galerie: Regenbogenpracht: Die Federkleider der Vögel

Tierliebe und umweltbewusste Amerikaner versuchen mindestens seit den 1940ern, Meeresvögel zu retten, die in verhängnisvollen Kontakt mit Öl kamen. Jahrzehntelang taten sie das allerdings ohne ein entsprechendes Training – und ohne großen Erfolg. Fast 80 Jahre und mehrere Ölkatastrophen später haben verölte Meeresvögel heute bessere Überlebenschancen denn je. Diese verdanken sie den Rehabilitationstechniken, die von Gruppen wie der International Bird Rescue (IBR) verbessert wurden.

Das IBR-Zentrum im Süden Kaliforniens behandelt bis zu 400 Vögel pro Jahre, deren Gefieder durch Öl verklebt wurde. Die meisten der Tiere fallen dem natürlich austretenden Öl in Santa Barbara zum Opfer. Die regelmäßigen Einsätze ermöglichen es dem Zentrum aber immerhin, die besten Methoden zu entwickeln und damit auch auf größere Ölkatastrophen vorbereitet zu sein. „Es ist gleichermaßen Vorteil und Nachteil“, sagt Julie Skoglund, die Betriebsleiterin des Zentrums. „Wir sehen dieselben schlimmen Dinge wieder und wieder. Aber das bedeutet auch, dass wir die Vorreiter für das Finden von Lösungen sind.“

Und die werden dringend gebraucht. Meeresvögel sind die am stärksten gefährdete Gruppe unter den Vögeln. Von den 328 weltweit bekannten Arten gelten 102 als gefährdet oder stark gefährdet. Meeresvögel werden nicht nur durch invasive Fressfeinde und den Klimawandel bedroht, sondern auch durch die Netze kommerzieller Fischer, in denen jedes Jahr etwa 400.000 Vögel verenden. Ölkatastrophen können besonders verheerend sein: Durch die Ölpest, die die Deepwater Horizon 2010 verursachte, starben schätzungsweise zwischen 100.000 und einer Million Vögel.

Santa Barbaras historische Ölpest

Das Öl, welches das Gefieder des Renntauchers verklebte, tritt vor Santa Barbara natürlich aus dem Meeresboden aus. Aber 1969 kam es in diesen Gewässern zu einer industriellen Katastrophe, die zur raschen Professionalisierung der Vogelrettung beitrug.

Als Arbeiter auf einer Ölbohrinsel vor Santa Barbara am 28. Januar 1969 ihren Dienst verrichteten, bemerkten sie, dass Öl, Gas und Schlamm unkontrolliert aus einem Ölbrunnen austraten. Sie verschlossen den Brunnen, aber das Öl gelangte durch Risse im Meeresboden weiter ins Freie. Bis das Leck endlich verschlossen werden konnte, war so viel Öl ausgetreten, dass der Vorfall als schlimmste Ölpest der USA in die Geschichte einging. Bis zu 14.000 Tonnen Rohöl waren ins Meer gelangt und hatten sich nach Norden 130 Kilometer weit und nach Süden 380 Kilometer weit bis nach Mexiko ausgebreitet. Die giftige, klebrige Masse tötete mindestens 3.686 Meeresvögel, deren jämmerliche Bilder im ganzen Land durch die Medien gingen.

„Mich erstaunt die ganze Publicity rund um den Verlust von ein paar Vögeln“, erklärte damals der Präsident von Union Oil, Fred Hartley.

BELIEBT

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    Im Januar 1969 explodierte ein Ölbrunnen unter einer von Union Oils Bohrplattformen vor Santa Barbara. Das Ergebnis war die größte Ölpest in der Geschichte der USA. Die Katastrophe motivierte den Senator Gaylord Nelson dazu, 1970 den Earth Day zu etablieren.

    Foto von Vernon Merritt, The Life Picture Collection, Getty

    Zu jener Zeit gab es noch keine Menschen, die sich professionell und beruflich der Rettung verölter Vögel verschrieben hatten. Stattdessen sammelten freiwillige Helfer Renntaucher, Kormorane und andere betroffene Vögel von den Stränden und transportierten sie in Pappkartons zu provisorischen Reinigungsstationen.

    Nur wenige überlebten.

    „Was vielen Menschen von dieser Ölpest in Erinnerung geblieben ist, sind die Bilder diese ölverklebten Vögel, die an den Stränden herumstolpern“, sagt Roderick Nash, ein emeritierter Professor für Wildtiergeschichte an der University of California in Santa Barbara. „Es waren vor allem diese Bilder, die dafür sorgten, dass man von dem Vorfall in Santa Barbara später als ‚Blow-out, der um die Welt ging‘ sprach.“

    Die Bilder von ölverschmierten Vögeln gingen nach der Ölkatastrophe von 1969 durch zahlreiche US-Zeitungen. „Es waren vor allem diese Bilder, die dafür sorgten, dass man von dem Vorfall in Santa Barbara später als ‚Blow-out, der um die Welt ging‘ sprach“, sagt Robert Nash, ein emeritierter Professor für Wildtiergeschichte an der University of California in Santa Barbara.

    Foto von Bettmann, Getty

    Die Verheerung brachte eine neue Umweltgesetzgebung auf den Weg und motivierte den US-Senator Gaylord Nelson dazu, am 22. April 1970 den Earth Day ins Leben zu rufen.

    Kaum ein Jahr später stießen zwei Öltanker in der San Francisco Bay zusammen. Auch dieses Ereignis hatte Tausende toter Meeresvögel zur Folge. Alice Berkner, eine mittlerweile im Ruhestand befindliche Krankenschwester mit einem Herz für Wildtiere, gründete kurz danach die International Bird Rescue. Zahlreiche andere Organisationen wie die Tri-State Bird Rescue folgten. Heutzutage hat das Oiled Wildlife Care Network der University of California in Davis, das sich der Pflege verölter Wildtiere widmet, mehr als 40 Mitgliedsorganisationen allein aus dem Bundesstaat Kalifornien.

    “Die Ursache dieses Umweltschadens ist menschengemacht. Wir haben eine ethische Verpflichtung, unser Möglichstes zu tun, um diesen Schaden zu beheben.
”

    von Michael Ziccardi, Oiled Wildlife Care Network

    Gesundpflegen oder einschläfern?

    Schon kurz nachdem Menschen mit der Rettung verölter Vögel begannen, argumentierten Skeptiker, dass das ein sinnloser Zeitvertreib sei. 1996 veröffentlichte der Ornithologe Brian Sharp eine Studie, für die er zwischen 1969 und 1994 die Überlebensrate von nordamerikanischen Meeresvögeln untersucht hatte, die nach Ölkatastrophen von Helfern gereinigt wurden. Sharp stellte fest, dass die Hälfte der Tiere danach maximal sechs Tage lang überlebte.

    Als 2010 die Explosion auf der Deepwater Horizon den Golf von Mexiko mit einem Ölteppich überzog, schlug die deutsche Biologin Silvia Gaus vor, die betroffenen Vögel einzuschläfern. Die meisten von ihnen wären ohnehin dem Tod geweiht, sagte sie, und es wäre besser, sie nicht dem Stress einer Reinigung auszusetzen.

    Andere ärgern sich über solche Ansichten. Michael Ziccardi, der Direktor des Oiled Wildlife Care Network, gibt zu, dass Einschläfern in manchen Situationen die beste Option ist – beispielsweise, wenn sehr stressempfindliche Arten wie Brillenenten oder Seetaucher betroffen sind. Aber er beharrt darauf, dass das nicht die Standardlösung sein sollte. „Die Ursache dieses Umweltschadens ist menschengemacht. Wir haben eine ethische Verpflichtung, unser Möglichstes zu tun, um diesen Schaden zu beheben.“

    Seit Sharp 1996 seine Studie veröffentlichte, scheint das auch deutlich besser zu gelingen.

    „Bei den großen Ölkatastrophen können zwischen 50 und 70 Prozent der Tiere, die wir einsammeln, wieder entlassen werden“, sagt Ziccardi. „Selbst, wenn ein Teil von ihnen stirbt, überleben also deutlich mehr Tiere, als es der Fall wäre, wenn wir sie einfach direkt einschläfern würden.“

    Die Forschung bestätigt diese Erfolge. Eine Studie von 2008 zeigte, dass Tölpel, die nach der südafrikanischen Ölpest von 1983 gereinigt wurden, nur „marginal schlechter“ weiterlebten als nicht betroffene Vögel. 2014 konnte eine neuseeländische Studie nachweisen, dass die Überlebensrate rehabilitierter Zwergpinguine mit der von Pinguinen einer Kontrollgruppe vergleichbar war. International Bird Rescue verweist außerdem darauf, dass die älteste bekannte Prachteiderente 1996 nach einer Ölpest in Alaska von einem IBR-Team gesundgepflegt wurde.

    Erkenntnisse aus Jahrzehnten der Vogelpflege

    Als der ölverklebte Renntaucher im Januar 2020 in der IBR-Einrichtung in San Pedro ankam, wussten die Angestellten, dass sie das Tier nicht sofort waschen durften, wie es beispielsweise bei der Ölkatastrophe der Exxon Valdez von 1989 geschehen war. Aus 50 Jahren Erfahrung hatten die Helfer gelernt, dass der Vogel bessere Überlebenschancen hätte, wenn er erst etwas Wasser trinken, ein paar Fische fressen und sich ausruhen würde, bevor der stressige Waschprozess begann.

    Erst nach zwei Tagen, als er etwas an Gewicht zugelegt hatte, seiften die Mitarbeiter das Gefieder des Tieres vorsichtig mit Geschirrspülmittel der Marke Dawn ein, das für viele Vogelretter das bevorzugte Entfettungsmittel ist.

    „Wenn man seine Sache gut gemacht hat, wird man sehen, wie das Wasser auf den Federn abperlt wie Regen auf einem Regenschirm“, sagt Kylie Clatterbuck, die Managerin des IBR Center in San Pedro. Dieses Abperlen ist ein Zeichen dafür, dass das Gefieder des Vogels seine wasserabweisende Eigenschaft wieder zurückgewinnt.

    Nach der Waschung wurde der Renntaucher mit einem speziellen Föhn getrocknet und zusammen mit anderen gereinigten Renntauchern in ein türkisfarbenes Becken gesetzt. Laut Duerr war es vor allem ein Wissenszuwachs im Bereich der Tierhaltung, der die Überlebenschancen für verölte Vögel in den letzten Jahrzehnten gesteigert hat.

    Mitarbeiter von International Bird Rescue waschen die verölten Federn eines Renntauchers vorsichtig mit Geschirrspülmittel. Wenn das Wasser beginnt, wieder vom Gefieder abzuperlen, wissen die Mitarbeiter, dass die Reinigung Erfolg hatte.

    Foto von Angie Trumbo, International Bird Rescue

    Einige Vögel scheinen sich besser zu erholen, wenn sie zusammen mit Artgenossen gehalten werden, beispielsweise Renntaucher. Andere Arten wie Brillenenten neigen in Gesellschaft eher zu aggressivem Verhalten.

    Foto von Angie Trumbo, International Bird Rescue

    Das IBR-Team hat beispielsweise gelernt, dass bestimmte Vögel – darunter auch Renntaucher – sich besser zu erholen scheinen, wenn sie mit Artgenossen im selben Verschlag gehalten werden. „Wir haben beobachtet, dass es die Vögel zum Fressen anregt, wenn sie anderen Vögeln beim Fressen zusehen“, sagt Duerr. Andere Arten wie Brillenenten neigen eher zu Aggression, wenn sie ihr Gehege teilen müssen.

    Außerdem hat das Team herausgefunden, dass es besser ist, abgemagerten Vögeln eher magere Fische zu füttern, da sie diese einfacher verdauen können. Nachdem Wasservögel gesäubert wurden, sollten sie außerdem in beheizte Becken gesetzt werden. So müssen sie keine zusätzliche Energie aufwenden, um ihre Körpertemperatur zu halten, und können sich stattdessen auf Trinken, Verdauen und die Gefiederpflege konzentrieren.

    „Wir behandeln heutzutage erfolgreich Fälle, die früher eingeschläfert wurden“, sagt Skoglund, die Betriebsmanagerin. Ein Beispiel dafür ist die Trottellumme, ein pinguinähnlicher Vogel, der an den nordamerikanischen Meeresklippen lebt.

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    Zwischen 2011 und 2012 trafen bei der International Bird Rescue 159 Trottellummen ein. Sie waren eine der Arten, die in Sharps Studie von 1996 am schlechtesten abgeschnitten hatten. Als die Mitarbeiter bemerkten, dass sich der Gesundheitszustand der Lummen nach der Reinigung verschlechterte, versuchten sie, mit zwei Maßnahmen gegenzusteuern: Sie verabreichten den Vögeln nach der Reinigungsprozedur intravenös eine Elektrolytlösung und ausgebildete Mitarbeiter zwangsernährten die gefiederten Patienten. Letzteres ist eine durchaus riskante Prozedur, die ausschließlich von ausgebildeten Pflegern durchgeführt werden sollte. Zusammen zeigten die Maßnahmen allerdings Wirkung: Das Rettungszentrum konnte mehr als die Hälfte der Trottellummen in seiner Obhut wieder in die Wildnis entlassen – 28 Prozent mehr als noch im Vorjahr.

    Auch Renntaucher sind schwierige Patienten. Duerr sorgt sich darum, dass der dürre Vogel aus Santa Barbara seit seiner Reinigung nicht genug Gewicht zugelegt hat, aber die Mitarbeiter werden weiterhin ihr Bestes für das Tier geben.

    Und Nordamerikas Vögel können jede Hilfe gebrauchen: Aktuelle Studien haben gezeigt, dass seit den 1970ern drei Milliarden ausgewachsene Tiere verschwunden sind. Zwei Drittel der verbliebenen Vögel des Kontinents sind durch den Klimawandel bedroht. Das Motto von International Bird Rescue scheint daher aktueller denn je: Jeder Vogel zählt.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Vögel

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    Küken einer stark gefährdeten Meeresvogelart gerettet

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