Norweger bauen Boutique-Hotels für bedrohte Meeresvögel

Veränderungen in ihrem Ökosystem drängen die gefährdeten Dreizehenmöwen von den Küstenklippen in die Städte.

Von Cheryl Katz
Veröffentlicht am 14. Apr. 2020, 15:46 MESZ
Dreizehenmöwen bauen ihre Nester in einer norwegischen Stadt. Aufgrund verschiedener Faktoren verlassen die Vögel ihre angestammten ...

Dreizehenmöwen bauen ihre Nester in einer norwegischen Stadt. Aufgrund verschiedener Faktoren verlassen die Vögel ihre angestammten Nistplätze und ziehen ihre Küken nun in küstennahen Städten auf.

Foto von S.E. Arndt, Picture Press, Redux

TROMSØ, NORWEGEN. Baukräne ragen wie gewaltige gelbe Störche über der Skyline dieser 77.000 Einwohner großen Stadt 344 Kilometer nördlich des Polarkreises auf. Der Zustrom an Abenteurern und Naturtouristen, die einen Blick auf die Nordlichter oder die schmelzenden Gletscher erhaschen wollen, löste einen regelrechten Bauboom in der Stadt an Norwegens Nordküste aus. Dort schießen Hotels aus dem Boden, um den erwarteten 2,3 Millionen Besuchern pro Jahr Übernachtungsmöglichkeiten zu bieten.

Aktuell ist der menschliche Touristenstrom aufgrund der Corona-Pandemie versiegt. Aber ein paar Besucher kommen weiterhin in die Stadt und suchen nach einer passenden Bleibe. Bei den Gästen handelt es sich um Dreizehenmöwen – jene Vertreter der Möwenfamilie, die am stärksten an das offene Meer gebunden sind. Obwohl sich ihr Bestand lange positiv entwickelt hat, könnte ihre Zukunft nun ungewiss sein.

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Für gewöhnlich nisten Dreizehenmöwen an steilen Klippen über dem Meer und reisen nur selten landeinwärts. Aber in den letzten paar Jahren hat sich das jeweils von März bis September geändert. Aufgrund der Erwärmung der Meere, der zunehmenden Stürme und anderer Faktoren ist ihre Reproduktionsrate in ihrem natürlichen Lebensraum zurückgegangen. Deshalb haben sich die Vögel neue Bleiben gesucht – an Einkaufszentren und Bürogebäuden in Tromsø und anderen Städten entlang der norwegischen Nordküste. Dort sind die Einwohner nur mäßig begeistert über ihre lauten, schmutzigen neuen Nachbarn.

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Foto von © NGP

„An den Klippen passiert irgendetwas, das es ihnen erschwert, ihre Küken dort aufzuziehen“, sagt Tone Kristin Reiertsen, eine Meeresvogel-Ökologin vom Norwegischen Institut für Naturforschung in Tromsø. „Die Klippen der Dreizehenmöwen werden immer leerer.“

Diese ungewöhnliche urbane Invasion könnte eine letzte Chance für die Möwen in dieser Region sein. Seit den 1980ern ist ihr Bestand an der norwegischen Küste laut Reiertsen um drei Viertel geschrumpft.

Inspiriert von den Hotelbauprojekten in der Stadt haben Reiertsen und einige ihrer Kollegen einen Plan ersonnen, um die arktischen Meeresvögel zu retten: Sie bauen Boutique-Hotels nur für Dreizehenmöwen – damit die Vögel ihren Nachwuchs in der Stadt aufziehen können, ohne die menschlichen Bewohner zu stören.

Erschwerte Kükenaufzucht

Weltweit stecken die Meeresvögel in einer Krise: Klimawandel, Überfischung, Verlust von Lebensraum und andere menschliche Faktoren haben dazu beigetragen, dass die globalen Bestände in den letzten 70 Jahren um fast 70 Prozent geschrumpft sind. In der Arktis ist die Lage besonders dramatisch. Die Dreizehenmöwen, die einst ein vertrauter Anblick an den Klippen und Küsten im Norden Großbritanniens, auf Färöer und Grönland sowie in Island und Norwegen – wo mehr als die Hälfte der Brutpopulation lebt – waren, wurden von dieser Entwicklung mit am härtesten getroffen.

„Es gibt große Bedenken, was die Dreizehenmöwen in Europa angeht“, sagt Mark Mallory. Der Umweltwissenschaftler und Experte für arktische Meeresvögel arbeitet an der Acadia University im kanadischen Nova Scotia. „Ihre Zahl hat gewaltig abgenommen.“

Die Art wird von der Weltnaturschutzunion mittlerweile als gefährdet eingestuft. Wenn ihr Bestand weiterhin mit derselben Geschwindigkeit schrumpft, könnte sie in Norwegen binnen 40 Jahren ausgestorben sein.

Reiertsen und andere Wissenschaftler versuchen, den Grund für die Stadtmigration der Möwen herauszufinden. Ihnen zufolge spielt die Meereserwärmung dabei eine entscheidende Rolle. Seit den 1980ern ist die Oberflächentemperatur um mehr als 1°C gestiegen. Schon diese kleine Veränderung drängt die Nahrungsquellen der Möwen – Krebse, Lodden und andere Fische – in andere Meeresbereiche und damit außer Reichweite der Vögel.

Stadtbewohner installieren Stacheln zur Vogelabwehr, um zu verhindern, dass die gefährdeten Möwen ihre Nester an Gebäuden bauen. Viele finden trotzdem einen Weg. Ihre Küken können sich an den Stacheln dann schwer verletzen.

Foto von Sigurd Benjaminsen

Die Folgen diese Entwicklung sind komplex. Die Dreizehenmöwen, die eigentlich sehr menschenscheu sind, wandern womöglich in die Städte ab, um dort Schutz vor Nesträubern wie Seeadlern zu finden. Wenn deren Nahrungsgrundlage vor der Küste schwindet, könnten sie zunehmend Jagd auf die Möwenküken machen.

Noch dazu wird das Wetter während der Brutsaison immer schlechter. Winddaten von der norwegischen Küste zeigen einen Trend bei der Zunahme der Windgeschwindigkeit im Juli und August – genau der Zeitraum, in dem sich die Küken noch im Nest befinden, sagt Reiertsen. Dieses Wetter „macht es für die Vögel sehr schwierig, ihre Küken großzuziehen, weil sie nicht an der Klippe landen können, um sie zu füttern.“

Der einzige Ort, an dem sich die Dreizehenmöwen dieser Tage anscheinend erfolgreich fortpflanzen können, sind menschengemachte Klippen: mehrstöckige öffentliche Gebäude in Städten, die kilometerweit von ihren natürlichen Nistplätzen entfernt liegen. Die ersten zehn Brutpaare machten es sich vor sechs Jahren in Tromsø bequem. 2019 zogen schon um die 100 Paare ihre Küken in der pittoresken Innenstadt groß.

Die Paarung der Seemöwen

Ähnliches geschieht entlang der ganzen Küste, von Ålesund in den westlichen Fjorden bis nach Vardø an der Grenze zu Russland. Überall zieht es Vögel in Städte wie Hammerfest, wo kürzlich bis zu 400 Brutpaare den Schulunterricht gestört haben, und Berlevåg, wo die Vögel einen Pub annektierten.

Im Gegensatz zu ihren größeren und bekannteren Verwandten aus der Familie der Möwen suchen Dreizehenmöwen nicht im Müll nach Futter oder stehlen die Pommes von Strandbesuchern. Vom offenen Meer entfernen sie sich nur selten weit. Die Wissenschaftler hatten gehofft, die Tiere dieses Jahr mit GPS-Trackern ausstatten zu können, um zu überprüfen, wo sie auf Nahrungssuche gehen und ob sie eine neue Futterquelle aufgetan haben. Aber aufgrund der Reisebeschränkungen durch das Coronavirus konnten sie ihren Plan 2020 nicht umsetzen.

Abgesehen von der norwegischen Küste haben die Dreizehenmöwen nur in einem weiteren urbanen Gebiet in großer Zahl genistet: in Newcastle-Gateshead im Nordosten Englands. Dort haben sie ihr Sommerquartier auf der bekannten Tyne Bridge und an den Gebäuden entlang des Flusses bezogen.

Galerie: Seenot

Genau wie in Norwegen bricht auch die Population im Vereinigten Königreich ein. Nur der Bestand in Newcastle scheint zu wachsen, sagt Helen Wilson. Die Kultur- und Sozialgeografin der Durham University berät mit Reiertsen und ihren Kollegen darüber, wie man die gefiederten Besucher am besten unterbringen könnte. Da die Zahl der Brutpaare in Tromsø in den letzten paar Jahren so schnell gestiegen ist, müsse man ihr zufolge damit rechnen, dass noch mehr Dreizehenmöwen in urbane Gebiete abwandern könnten.

Für die menschlichen Stadtbewohner sind die Vögel allerdings eher unliebsame Nachbarn. Sie sind für ihre lauten Rufe bekannt, die gerade während der Brutsaison besonders häufig erschallen. Das verspricht Lärm rund um die Uhr unter Tromsøs sommerlicher Mitternachtssonne. Um die Möwen vom Nestbau abzuhalten, haben die Menschen an manchen Gebäuden Netze oder Vogelabwehrstacheln installiert – mit mäßigem Erfolg. Oft finden die Elterntiere trotzdem ein bisschen Platz für ihr Gelege. Die geschlüpften Küken können sich an den Stacheln dann schwere Verletzungen zuziehen. Andernorts hat man die Nester samt Eiern zerstört.

Möwen-Hotels sollen Abhilfe schaffen

Reiertsen und ihre Kollegen betreiben derzeit Tromsøs erstes Dreizehenmöwen-Hotel in einem stillgelegten Hotel. Es steht am Ende eines kleinen Piers an einem der Häfen der Stadt.

Von außen sieht es nicht besonders einladend aus – ein mit Graffiti beschmierter Betonklotz von der Größe einer Garage. Aber es gibt Vorsprünge zum Nisten, Material für den Nestbau und elektronische Lautsprecher, aus denen Möwenrufe erklingen. Sie sollen Brutpaare auf der Suche nach einem Nistplatz anlocken.

Genau wie bei Menschen kann es auch bei Vögeln ein Weilchen dauern, bis sie ein neues Produkt angenommen haben.

Vogel schnappt sich unter Wasser einen Fisch von einem Hai

Als das Hotel im letzten Jahr rechtzeitig zur Brutsaison eröffnet wurde, zog es die Vögel stattdessen in die Stadt. Dort nisteten sie an öffentlichen Plätzen, beispielsweise an dem Gebäude einer Zahnarztpraxis und an einem Studentencafé der Universität.

„Im letzten Sommer haben hunderte von ihnen bei unserem Schiff genistet“, sagt Mats Forsberg, ein Einwohner von Tromsø und Tour Guide für Bootsexpeditionen. Forsberg stören die Vögel zwar nicht, aber er könne verstehen, warum viele Stadtbewohner das anders sehen. „Die haben alles vollgeschissen.“

Jetzt, wo die Vögel wieder nach Tromsø kommen, hoffen die Forscher, dass sie das Hotel für sich entdecken. Aufgrund der Reisebeschränkungen können sie das derzeit nicht überprüfen, die erfolgreichen Möwen-Unterkünfte in Newcastle lassen aber das Beste hoffen. Auch in Berlevåg soll ein neues Möwen-Hotel eröffnen.

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„Ich hoffe, wir finden eine Lösung, damit Dreizehenmöwen und Menschen miteinander koexistieren können. So können wir die Art in unserer Natur erhalten“, sagt Reiertsen. Andernfalls „ist die Prognose ziemlich schlecht“.

Sie hofft, dass die Möwenhotels in Zukunft in die Baupläne der schnell wachsenden Stadt einbezogen werden. Die Reaktion der Bevölkerung ist ihr zufolge überwiegend positiv. Die Bewohner verstehen, dass man Alternativen braucht, weil die Vögel ihre Nester sonst auf den neuen Gebäuden der Stadt bauen werden.

„Das Problem wird nicht von selbst verschwinden“, sagt Reiertsen. „Natürlich können wir nicht alles retten.“ Aber wenn sie mit ihrer Arbeit helfen kann, nur eine einzige Art zu retten, „dann ist es das mehr als wert“.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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