Zwei Lektionen, die wir aus dem ersten Earth Day lernen können

Die düsteren Prognosen des Jahres 1970 brachten die Menschen zum Umdenken. Heute stehen wir allerdings vor anderen Aufgaben.

Von Charles C. Mann
Veröffentlicht am 30. Apr. 2020, 17:38 MESZ
Earth Day 1970

Die Welt in Menschenhand? Entgegen der Prognosen des Jahres 1970 erwies sich die Welt als besser. Der Menschheit wurde auch damals ein katastrophales Ende vorhergesagt, wenn der Planet ausblutet.

Foto von Drew Beamer, Unsplash.com

1970 nahm ich an einer Demonstration anlässlich des ersten „Earth Day“ teil. Ich erinnere die Stimmung als freudig – und zugleich ernst. Zum ersten Mal in der Geschichte der USA feierten wir gemeinsam die Natur. Die Redner auf dem Podium prophezeiten dieser Natur jedoch ein schlimmes Schicksal. Die Warnungen kamen von allen Seiten. Der Biochemiker und Nobelpreisträger George Wald erklärte, die Zivilisation würde binnen 15 bis 30 Jahren erlöschen, würde man nicht sofort Maßnahmen ergreifen. Paul Ehrlich, Biologe an der Stanford University, hielt diese Prognose für zu hoffnungsvoll. In einem Interview, das er anlässlich des Earth Day gab, setzte er zwei Jahre als Frist für einen Kurswechsel an, ehe alle „weiteren Bemühungen (den Planeten zu retten) vergebens sein werden“. Immer noch zu optimistisch für den nationalen Earth-Day-Koordinator Denis Hayes. In einem Artikel fürs Magazin der Wilderness Society legte er dar, dass es bereits zu spät sei, „um Hungerkatastrophen zu verhindern“.

Pandemie, Hunger und Armut

Ihr Pessimismus ist verständlich. Zur Zeit des ersten Earth Day hungerte ein Viertel aller Menschen auf der Erde – „war unterernährt“, in der Sprache der Vereinten Nationen. Etwa die Hälfte der Menschheit lebte in extremer Armut. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Afrika betrug 45,6 Jahre. Rund die Hälfte der Menschen in Südamerika und den karibischen Staaten hatte weder Elektrizität noch Zugang zum Bildungswesen. Hungersnöte in Westafrika hatten rund eine Million Menschen getötet. Kriege, Revolten und Unruhen tobten in Südostasien (Vietnam, Laos, Kambodscha, Indonesien, Philippinen), Afrika (Kenia, Äthiopien, Nigeria, den portugiesischen Kolonien), dem mittleren Osten (Oman, Jemen, Jordanien) und Lateinamerika (Nicaragua, Kolumbien, Mexiko). Eine Grippepandemie, die in Asien ausbrach, wütete durch einen Großteil der restlichen Welt; bis sie endete, sollte sie eine Million Menschen getötet haben.

Ein ausgebluteter Planet

Die ökologische Situation war womöglich noch schlimmer. Die Häfen erstickten in Abfällen. Das Wasser der meisten großen Ströme unseres Planeten war untrinkbar. Bleihaltiges Benzin setzte giftige Dämpfe in solchen Mengen frei, dass ein durchschnittliches Vorschulkind in den USA viermal so viel Blei im Blut hatte als die Menge, die heute zu sofortigen Maßnahmen führen würde. Städte waren dermaßen in Smog gehüllt, dass das Magazin Life Anfang 1970 vorhersagte, dass „bis 1985 die Luftverschmutzung das Sonnenlicht, das die Erde erreicht, um die Hälfte reduziert haben wird“. Zur Zeit des ersten Earth Day arbeitete eine kurz zuvor gegründete internationale Organisation, der Club of Rome, an einem Buch, das bald darauf sehr einflussreich sein würde: Die Grenzen des Wachstums erschien 1972. Die Autoren errechneten anhand eines Computermodells den künftigen Bedarf an Rohstoffen wie Kohle, Eisen, Erdgas und Aluminium. Grafik für Grafik zeigt das Buch ein Wettrennen bis zu einem Produktionsgipfel, gefolgt vom katastrophalen Ende, wenn der Planet ausblutet. Das Team machte deutlich, dass das Vorwärtstaumeln der Menschheit „in Kürze aufhören“ müsse, um den Ruin zu vermeiden.

Die Welt hat seit 1970 Fortschritte gemacht: Wir haben mehr zu essen, leben länger, verbringen mehr Zeit in der Schule, haben Zugang zu sauberem Wasser wie Strom und weniger Frauen sterben bei Geburten. Doch es gibt noch viel zu tun..

Foto von Ben White, Unsplash.com

Falsche Prognose

Doch es kam anders. Die Welt erwies sich in vieler Hinsicht als besser als die Prognosen. Dank technologischer Fortschritte und kultureller Veränderungen hat sich das durchschnittliche physische Wohlergehen der Menschheit seit 1970 in fast jeder Hinsicht verbessert. Laut UN-Angaben ist heutzutage nur einer von zehn Menschen weltweit unterernährt, obwohl sich die Bevölkerungszahl in den vergangenen 50 Jahren mehr als verdoppelt hat. Heute ist das Risiko, dass ein Kind Hunger leiden wird, geringer denn je in der dokumentierten Geschichte. Mit der Verbesserung von Hilfsmaßnahmen ist die Zahl an Hungertoten gesunken. Unter anderem wegen besserer Ernährung und Gesundheitsvorsorge hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung seit dem ersten Earth Day um 13 Prozent erhöht, mit den höchsten Steigerungsraten bei Geringverdienern. Zugleich sind die Einkommen gestiegen und die Umweltbelastungen gesunken – beinahe überall. Milliarden Menschen gehören heute einer Art Mittelschicht an. Rohstoffe wie Stahl und Aluminium sind weit davon entfernt, zur Neige zu gehen; unterm Strich sind die Preise stabil geblieben. Und selbst die politische Lage hat sich verbessert, trotz der Polarisierung, die Nordamerika und Europa aktuell heimsucht.Jede Studie zum Status globaler politischer Gewalt erweist deren starken Rückgang. Die Bürgerkriege in den Schlagzeilen – Syrien, Jemen, Afghanistan – sind schrecklich, aber Ausnahmen. Heutzutage gibt es sehr viel mehr Demokratien und Teildemokratien als im Jahr 1970, und, wie holprig auch immer, sie bemühen sich darum, das Leben ihrer Bürger zu verbessern.

BELIEBT

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    Zur Zeit des ersten Earth Day hatte weniger als einer von fünf Menschen im südlichen Asien Elektrizität; die heutige Rate liegt bei mehr als neun von zehn. Ähnlich ist der Anteil der Menschen mit Elektrizitätsanschluss in Lateinamerika und in der Karibik von unter 50 auf beinahe 100 Prozent gestiegen. Diese Fortschritte haben sich nicht gleichmäßig oder gerecht entwickelt. Millionen und Abermillionen Menschen sind nicht wohlhabend. Bei Millionen ist die Tendenz rückläufig. In manchen Gegenden, insbesondere in Indien und China, wächst die Umweltverschmutzung, statt zurückzugehen. Doch auf globalem Niveau – jenem der fast acht Milliarden Menschen, die derzeit unseren Planeten bevölkern, – steht die Steigerung des Wohlergehens außer Frage. Der Fabrikarbeiter in Pennsylvania und der pakistanische Bauer mögen wütend sein, sie mögen zu kämpfen haben, sie müssen sich abstrampeln – und doch sind sie, gemessen an den Standards der Vergangenheit, gesund und wohlhabend. Die Gewinne kamen jedoch nicht ohne Verluste.

    Ganz andere Probleme zum Earth Day 2020

    Die Umweltprobleme haben sich seit 1970 verändert, aber sie sind womöglich gewichtiger. Verlust an Biodiversität, Absinken der Grundwasser führenden Schicht, Übersäuerung der Meere, Abtragung der Böden, und, das größte von allen, der Klimawandel – wen verlässt an-gesichts dieser Liste nicht der Mut? Lektion eins aus den nicht erfüllten Prophezeiungen des ersten Earth Day: Menschen können Umweltprobleme lösen – wenn sie, wie im Fall von Luft- und Wasserverschmutzung, einen direkten, spürbaren Einfluss auf ihr physisches Wohlbefinden haben. Die Probleme, vor denen wir heute stehen, sind abstrakt und dauerhaft, dabei nicht weniger ernst. Werden wir sie lösen können? Lektion zwei: Menschen sind miserabel darin, in die Zukunft zu sehen.

    Aus dem Englischen von Anne Sander

    Charles C. Mann ist Autor der Bücher Kolumbus’ Erbe und Amerika vor Kolumbus (Rowohlt, 2013 u. 2016). Auf Englisch erhältlich ist The Wizard and the Prophet (Knopf, 2018). Mann schreibt außerdem für die Zeitschriften Atlantic, Wired und Science.

     

    Der Artikel wurde ursprünglich in der April 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Jetzt ein Abo abschließen!

     

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