Selbst gemachte Gletscher

Was tun, wenn der Schnee, der die Wasserversorgung sichert, zu schnell schmilzt? Wenn sich die Gletscher immer weiter in die Höhe zurückziehen? In Ladakh an der Nordspitze Indiens legen die Menschen riesige Eiskegel an. Das Schmelzwasser hilft verzw

Von Arati Kumar-Rao
bilder von Ciril Jazbec
Veröffentlicht am 30. Juni 2020, 13:51 MESZ
Konische Eisberge speichern das Winterschmelzwasser für die Aussaat im Frühjahr. Dieses Exemplar wurde von Jugendlichen im ...

Konische Eisberge speichern das Winterschmelzwasser für die Aussaat im Frühjahr. Dieses Exemplar wurde von Jugendlichen im nordindischen Dorf Gya gebaut. Im Inneren befindet sich ein Café. Mit dem Erlös finanzier- ten sie eine Pilgerreise für die Dorfältesten. „Niemand nimmt sie irgendwohin mit“, sagt einer der Jugendlichen.

Foto von Ciril Jazbec

LADAKH STEHT UNTER BELAGERUNG. Der Feind kappt die Wasserversorgung und trocknet das Ackerland aus, sodass verzweifelte Bauern vom trockenn Hochplateau zwishcen den Gebirgsketten von Himalaya und Karakorum in die Hauptstdadt Leh fliehen, die am Fludd Indus liegt.

Mit Sonam Wangchuk fahre ich auf über 2500 Mtern über Pässe und Täler. Wangchuck ist Ingniur, außerdem Gründer einer Reformschule.

Wir inspizieren Ladakhs Verteidigungsanlagen: hohe Eiskegel, Stupas genannt.

"Unser Feind trägt keine Uniform. Er gehört keiner Nation an und besitzt keine automatischen Waffen", sagt er. "Grenzen halten ihn nicht auf, er hält sich an keine internationalen Gesetze. Wir ladakhis stehen an der Front eins ganz anderen Krieges."

Der Feind heißt Klimawandel. Ein Anstieg der durchschnittlichen Wintertemperatur um rund ein Grad während der letzten 40 Jahre hat ein entscheidendes Glied im Wasserkreislauf Ladakhs zerstört. Durch den Himalaya vom Südwestmonsun abgeschirmt, regnet es hier im Durchschnitt nur etwa 110 Millimeter pro Jahr. Die winterlichen Schneefälle und die Gletscher in den Bergen sind hier das Lebenselixier. Der Schnee ist jedoch unbeständig geworden und schmilzt vor der Frühjahrsaussaat, während sich die Gletscher hoch in die Berge zurückgezogen haben. Ihr Eis taut immer später.

„Der Abstand zwischen Schneeschmelze und Gletscherschmelze wächst“, sagt Wangchuk. Die entstehende lange Trockenzeit im Frühjahr untergrabe die Landwirtschaft. „Wir haben eine vernachlässigbare CO2-Bilanz, aber wir tragen die Hauptlast der Klimaveränderungen“, stellt Wangchuk fest. Die Ladakhis können den Klimawandel nicht aufhalten – doch Eisstupas könnten dem Frühling etwas Wasser zurückbringen.

Die Mönche nutzen das Schmelzwasser für den Erhalt eines Hains von 5000 Weiden und Pappeln, der vor fünf Jahren angelegt wurde – nach dem Bau ihres ersten Eisbergs.

Foto von Ciril Jazbec

AUF DER FAHRT erzählt mir Wangchuk seine Geschichte. Im Hochsommer 2013 fiel ihm auf, dass das Eis selbst in niedriger Höhe im Schat- ten einer Brücke nicht schmolz. So entstand die Idee, dass er den Dörfern helfen könnte, im Winter Wasser für den Gebrauch im Frühjahr einzufrieren. Weite Eisflächen zu beschatten, wäre kaum praktikabel. Ein steiler Hügel jedoch würde sein Inneres selbst klimatisieren – je steiler, desto geringer die der Sonne ausgesetzte Fläche. „Ein Kegel war die Lösung – Erkenntnis aus dem Matheunterricht“, sagt Wangchuk.

Im Buddhismus ist ein Stupa ein Hügel aus Stein oder Schlamm, der verehrte Reliquien beherbergt. Wangchuk und seine Schüler bauten ihren ersten Eisstupa im November 2013. Sie leiteten einen Wasserlauf bergab und schickten ihn dann ein vertikales Rohr hinauf zu einer Düse. Das war’s. Stupabau ist keine Hochtechnologie. Wangchuks Team öffne e die Düse in der Nacht, als die Lufttemperatur unter dem Gefrierpunkt lag. Der feine Sprühnebel gefror beim Sinken. Langsam wuchs ein Eishügel um das Rohr, der sich nach oben hin verjüngte.

Dieser erste Teststupa war sechs Meter hoch, enthielt 150 000 Liter Wasser und hielt bis in den Mai. Seitdem hat Wangchuk die Technik in den Dörfern Ladakhs gelehrt. 2019 wurden zwölf Stupas angelegt, von denen zwei über 30 Meter hoch waren. In diesem Jahr waren es 26; neun davon überstiegen 30 Meter.

Der Klimawandel verursacht auch Sturzfluten durch heftige Sommerregenfälle. Wangchuk hofft, dass das Wasser abtauender Stupas dazu beiträgt, Berghänge zu begrünen, um Starkregen zu binden. „Bei optimaler Größe und Lage könnten Stupas den Sommer bis in den folgenden Winter überstehen“, sagt er. „Der Stupa würde Jahr für Jahr wachsen“ – und so zu einem mehrjährigen „künstlichen Gletscher“ werden.

Der Stupa in der Nähe des Dorfes Shara Phuktsey siegte 2019 im Wettbewerb um den größten Stupa. Er speicherte mehr als 7,5 Millionen Liter Wasser, das bei der Bewässerung von Feldern in vier Dörfern half. Eiskletterer erklommen die steilen Flanken der Touristenattraktion.

Foto von Ciril Jazbec

Im Dorf Karith wird Wangchuk von den Schülern der Mittelschule wie ein Held empfangen. Sie bauten 2016 den ersten kleinen Stupa ihres Dorfes. „Wir wollen den Kindern bewusst machen, was in der Welt geschieht und welche Folgen das für uns hat“, sagt Schulleiter Mohammad Ali. Wangchuk aber will der Welt bewusst machen, was sie Ladakh antut. Stupas, meint er, seien „eine Auffo derung, den kohlenstoffintensiven Lebensstil in den Städten zu ändern“.

Aus dem Englischen von Anne Sander.

Die Autorin Arati Kumar-Rao lebt in Bangalore, Indien. Wasser ist ihr thematischer Schwerpunkt. Ciril Jazbec fotografierte für NAT GEO u. a. afrika- nische Tech-Unternehmer und Inuit in Grönland.

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