US-Fracking fördert einen europäischen Plastikboom

Während die Europäische Union strenge Pläne zur Reduzierung von Plastikmüll vorbereitet, importieren Länder billiges Ethangas, um ihre Kunststoffindustrie zu versorgen.

Von Beth Gardiner
Veröffentlicht am 29. März 2021, 15:29 MESZ
Ein mit US-amerikanischem Fracking-Gas beladener Tanker kommt 2016 im norwegischen Rafnes an. Europäische Länder nutzen das ...

Ein mit US-amerikanischem Fracking-Gas beladener Tanker kommt 2016 im norwegischen Rafnes an. Europäische Länder nutzen das billige Fracking-Gas, das einen Boom in der Kunststoffindustrie speist.

Foto von Ilja C. Hendel, Laif, Redux

Im belgischen Antwerpen soll ein riesiges und umstrittenes neues Chemiewerk entstehen. Das Projekt verdeutlicht das Problem der wachsenden EU-Importe von Chemikalien aus den USA: Es handelt sich um Nebenprodukte von Erdgas und Öl aus dem Fracking, die zur Herstellung von Kunststoffen benötigt werden – obwohl die Europäische Union derzeit strenge Pläne zur Reduzierung von Kunststoffabfällen und zur Bekämpfung des Klimawandels plant und umsetzt.

Der Handel mit petrochemischen Nebenprodukten zwischen den USA und Europa steigt zeitgleich mit der weltweiten Nachfrage nach Kunststoffen. Dieser Umstand könnte möglicherweise die europäischen Ziele in Bezug auf Abfall und Kohlenstoffemissionen untergraben.

Die wachsende Nutzung von Hydraulic Fracturing (Fracking) in den USA hat zu einem enormen Überschuss an Ethan geführt. Dieses Nebenprodukt, das beim Fracking von Erdöl und Erdgas anfällt, ist ein wichtiger Bestandteil zur Herstellung von Kunststoffen. Seine Verfügbarkeit und geringen Kosten haben zu einem massiven Ausbau der Kunststoffproduktion in Texas, Louisiana und dem westlichen Pennsylvania geführt. Laut dem Industrieverband American Chemistry Council wurden seit 2010 fast 350 Fracking-gestützte petrochemische Projekte mit einem Gesamtvolumen von mehr als 200 Milliarden US-Dollar geplant oder abgeschlossen.

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Schon früh in der Menschheitsgeschichte kamen Biopolymere zum Einsatz. Heutzutage wird Kunststoff fast ausschließlich aus fossilen Brennstoffen hergestellt. Erfahrt, wie genau Plastik produziert wird und was wir tun können, um die schädlichen Auswirkungen von Kunststoffen auf unseren Planeten und unser Leben zu verringern.

Doch es wird viel mehr Ethangas gefördert, als diese Anlagen nutzen können. Deshalb verkaufen Fracking-Firmen immer größere Mengen zu günstigen Preisen ins Ausland. Seit 2016 transportiert eine Flotte von riesigen, speziell gefertigten Schiffen das Gas über den Atlantik und versorgt Kunststoffhersteller in Großbritannien, Norwegen und Schweden mit diesem wichtigen Rohstoff.

In diesen Anlagen werden die Bindungen der Ethanmoleküle durch starken Druck und Hitze – etwa 815 Grad Celsius – aufgebrochen. Dieser Prozess, der als Steamcracking bezeichnet wird, wandelt das Ethan in ein Gas namens Ethylen um. Dann wird das Ethylen durch Druck und mit Hilfe eines Katalysators in Polyethylen umgewandelt, einen gängigen Kunststoff.

Da der Prozess enorme Mengen an Energie verbraucht, sind die Kohlendioxid-Emissionen erheblich. Das bedeutet, dass jede Ausweitung der Kunststoffproduktion Gefahren für das Klima birgt, ganz zu schweigen von ihrem offensichtlichen Beitrag zum Plastikmüll, der weltweit Landschaften, Wasserwege und Ozeane verschmutzt.

BELIEBT

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    Einem Bericht zufolge verursachte das Cracken von Ethan und einem alternativen Bestandteil namens Naphtha im Jahr 2015 weltweit Kohlenstoffemissionen, die denen von 52 Kohlekraftwerken entsprechen. Dieser Fußabdruck könnte bis 2030 das Äquivalent von 69 Kohlekraftwerken erreichen, wenn die Industrie weiter expandiert.

    „Es macht überhaupt keinen Sinn, in neue, auf fossilen Brennstoffen basierende Anlagen zu investieren, um mehr Plastik zu produzieren – und das zu einer Zeit, in der wir eine globale Erwärmungskrise und eine Plastikkrise haben“, sagte Andy Gheorghiu. Der Umweltaktivist aus Nordhessen engagiert sich gegen Fracking und hat auch Protest gegen die belgische Anlage organisiert. „In der Tat sind beide Teile einer Krise.“

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    INEOS – das globale Petrochemieunternehmen, das begonnen hat, Ethan aus Fracking über den Ozean zu verschiffen – plant den Bau einer riesigen neuen Cracking-Anlage in Antwerpen. Branchenanalysten zufolge würde diese Anlage den europäischen Verbrauch des importierten Stoffes verdoppeln.

    Das Projekt wäre der erste neue Ethan-Cracker auf dem Kontinent seit den 1990ern. Dementsprechend gibt es bereits Konflikte mit Umweltgruppen, die sich über die allgegenwärtige Rolle von Plastik im modernen Leben und in der globalen Wirtschaft sorgen.

    Belgische Beamte begrüßen den geplanten 3,5-Milliarden-Dollar-Komplex, der Antwerpens Status als zweitgrößtes petrochemisches Zentrum der Welt sichern würde (das größte ist Houston im US-Bundesstaat Texas). Umweltgruppen sind weniger erfreut über den Plan. Klimaaktivisten besetzten den geplanten Standort im Oktober 2020. Im November erließ ein belgisches Gericht eine einstweilige Verfügung, um die Rodung der Bäume auf dem Gelände zu stoppen, während Einwände gegen das Projekt geprüft werden – ein Prozess, der bis zu einem Jahr dauern könnte. 

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    Antwerpen ist bereits ein großes Kunststoffzentrum, und die Ufer der Schelde sind mit linsengroßen Pellets aus Rohplastik übersät. Nach einer Schätzung wurden 2018 in der Region 2,5 Tonnen von diesem Kunststoffgranulat verschüttet. Die kleinen Teilchen sind verheerend für das Leben im Wasser. „Sie sehen aus wie Fischeier“, und Vögel oder Fische, die sie verschlucken, können verhungern, weil sie nichts anderes fressen können, erklärte Tatiana Luján. Sie ist eine Anwältin bei ClientEarth, einer Interessengruppe, die an dem Protest gegen das Bauvorhaben beteiligt ist.

    Die Anlage von INEOS würde kein Kunststoffgranulat produzieren, aber sie würde Ethylen an Anlagen liefern, die das tun. Das Unternehmen sagt, dass das Projekt lediglich ältere, weniger effiziente Ethan-Cracker ersetzen würde und es unwahrscheinlich ist, dass es die Gesamtkunststoffproduktion in Europa erhöhen würde.

    Verbesserte Effizienz bedeutet, dass der CO2-Fußabdruck des neuen Crackers halb so groß sein wird wie der der alten, sagte Tom Crotty, ein Sprecher von INEOS.

    Arbeiter inspizieren im Jahr 2013 Rohre in der riesigen INEOS Ethan-Raffinerie in Grangemouth, Schottland.

    Foto von Robert Ormerod, T​he New York Times, Redux

    Die Ethan-Verarbeitungsanlage in Grangemouth ist eine von vielen, die von Ethangas aus den USA profitieren, das als Nebenprodukt von Fracking-Operationen preiswert verkauft wird.

    Foto von Ashley Cooper, Construction Photography/Avalon/Getty Images

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    Der Bau einer neuen Anlage sei noch keine Garantie dafür, dass alte Anlagen geschlossen werden, sagen die Gegner. Und selbst wenn sie geschlossen werden, wird die neue Anlage eine Versorgung mit Ethylen garantieren, die die Kunststoffproduktion bis weit in die Zukunft hinein aufrechterhält – gerade jetzt, wo Europa versucht, weniger von dem Material zu verwenden.

    Ein großer europäischer Vorstoß zur Reduzierung von Einwegplastik wird im Juli in Kraft treten. Wegwerfartikel aus Plastik wie Besteck, Teller, Becher und Rührstäbchen werden verboten. Verschlüsse müssen an den Flaschen befestigt werden. Die Bemühungen sollen in den kommenden Jahren ausgeweitet werden, zum einen mit Sammelzielen für Plastikflaschen und zum anderen mit der Anforderung, dass Flaschen bis 2025 zu 25 Prozent aus recyceltem Material bestehen müssen.

    Europas Bemühungen zum Kampf gegen den Plastikmüll seien die ehrgeizigsten der Welt, sagte Tim Grabiel, leitender Jurist bei der Environmental Investigation Agency, einer Interessengruppe. Der Aufbau neuer Produktionskapazitäten stehe „in völligem Widerspruch“ zu den Bemühungen und zu Europas ehrgeizigen Zielen zur Senkung des Kohlenstoffausstoßes, sagte er.

    “Plastik ist der Plan B der fossilen Brennstoffindustrie.”

    von Tatiana Luján, ClientEarth

    Als Antwort darauf lenkt die Industriegruppe PlasticsEurope den Fokus eher auf Recycling als Lösung, anstatt die Kunststoffproduktion zu reduzieren. Alternative Materialien hätten ihre eigenen Umweltkosten, stellt die Gruppe fest.

    Trotz dieser Sorgen über Plastikmüll wird die weltweite Nachfrage nach dem vielseitigen Material wahrscheinlich weiter steigen, so Branchenanalysten. Seine Verwendung in Autos, Flugzeugen, Geräten, Baumaterialien, Kleidung und Elektronik bedeutet, dass der Verbrauch typischerweise mit dem wirtschaftlichen Wachstum und dem Wachstum der Mittelschicht in Entwicklungsländern einhergeht.

    Ethan aus den USA speist mittlerweile 10 Prozent der europäischen Ethylenproduktion, und die Anlage in Antwerpen würde diesen Anteil auf fast 20 Prozent erhöhen, sagte Patrick Kirby. Der Analyst arbeitet bei Wood Mackenzie, einem Beratungsunternehmen für Energie und Chemie.

    Die neue Ethanversorgung „bringt die US-Petrochemie-Expansion nach Europa“, sagte Steven Feit, ein Anwalt am Center for International Environmental Law, einer Forschungs- und Interessengruppe.

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    Die Ethanverkäufe im In- und Ausland haben den US-Fracking-Unternehmen dringend benötigte Einnahmen beschert. Viele von ihnen hatten in letzter Zeit mit hohen Schulden und historisch niedrigen Erdgas- und Ölpreisen zu kämpfen.

    Europa ist aber nicht der einzige Ort, an dem amerikanisches Ethan den Kunststoffherstellern Auftrieb gibt. Insgesamt sind die Ethanexporte aus den USA um 585 Prozent in die Höhe geschossen, von 800.000 Tonnen im Jahr 2014 auf mehr als 5,5 Millionen Tonnen im Jahr 2020, so ICIS, ein Analyseunternehmen für Energie und Chemikalien. Kanada ist der Top-Markt, gefolgt von Indien, Europa und China, berichtet ICIS.

    Große Unternehmen für fossile Brennstoffe von ExxonMobil bis Saudi Aramco sehen Kunststoff als Wachstumsprodukt in einer Zukunft, in der Elektrofahrzeuge und Sorgen um den Klimawandel die Öl- und Gasförderung dauerhaft zurückgehen lassen könnten. Das Weltwirtschaftsforum prognostizierte 2016, dass sich die Kunststoffproduktion in 20 Jahren verdoppeln wird. Und die Internationale Energieagentur erwartet, dass Petrochemikalien, zu denen auch Kunststoffe gehören, in den nächsten drei Jahrzehnten die Hälfte des Wachstums der Ölnachfrage antreiben werden.

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    „Plastik ist der Plan B der fossilen Brennstoffindustrie“, sagte Luján.

    Dennoch hatte die globale Expansion bis Anfang letzten Jahres zu einem Überangebot an Rohkunststoff und seinen chemischen Bausteinen geführt. Ursprünglich schien es wahrscheinlich, dass die pandemiebedingte globale Wirtschaftsflaute im Jahr 2020 das Überangebot noch verschlimmern würde. Bedenken diesbezüglich könnten der Grund für die Entscheidung von INEOS gewesen sein, die Arbeiten an einer weiteren Anlage zu verschieben. Sie sollte zusammen mit dem Ethan-Cracker in Antwerpen laufen und Propylen herstellen, einen weiteren Kunststoffbestandteil.

    Aber es stellte sich heraus, dass COVID-19 für Kunststoffhersteller nicht so schlecht war, wie es zunächst schien. Ein Jahr des Stillstands veränderte das Konsumverhalten: Essen zum Mitnehmen und Online-Shopping trieben die Nachfrage nach Verpackungen in die Höhe, und auch Masken und andere Schutzausrüstung boomten. Mit dem Geld, das früher vielleicht für Reisen oder Unterhaltung ausgegeben wurde, wurden stattdessen Laptops, Spielkonsolen, Fitnessgeräte und Haushaltsgeräte gekauft, die allesamt Kunststoff enthalten.

    „Die Nachfrage hat sich wirklich gut gehalten“, sagte Will Beacham, stellvertretender Herausgeber der Fachzeitschrift ICIS Chemical Business. „Es sieht jetzt so aus, als wäre das Überangebot nicht so groß wie befürchtet.“

    Wenn es um Kunststoff geht, sagen Kritiker jedoch, dass die bekannte Marktdynamik oft umgekehrt ist. „Was wir immer wieder gesehen haben, ist, dass Kunststoff ein Material ist, bei dem das Angebot die Nachfrage antreibt“, so Feit.

    Erst hat die Ethanschwemme die Produktion von mehr Plastik angekurbelt, sagte er. Und die Unternehmen schieben dieses billige Material den Verbrauchern unter, die sich oft gar nicht aussuchen können, woraus ein Artikel hergestellt oder wie er verpackt wird.

    „Letztlich ist es eine Frage der Richtung“, sagte er. „Es geht darum, wie viel Plastik wir produzieren. Und im Moment produzieren wir zu viel.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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