Wie „sprechende“ Leichen genutzt wurden, um Morde aufzuklären

Jahrhundertelang wurden im Gerichtssaal Leichen genutzt, um die Schuld eines Angeklagten zu bestimmen – und selbst im Tod galten die Aussagen von Frauen weniger als die von Männern.

Von Erika Engelhaupt
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:46 MEZ
Der Schädel von Richard III., der unter einem Parkplatz entdeckt wurde, wurde von Forensikern der Universität von Leicester analysiert. In Shakespeares Stück über den berüchtigten Monarchen wird Richard III. des Mordes angeklagt, als er sich einer Leiche nähert, die dann zu bluten beginnt.
Foto von University Of Leicester, via Corbis

Von unzuverlässigen Haaranalysen bis hin zu schlecht gehandhabten DNA-Proben hat die moderne forensische Wissenschaft durchaus ihre Schwierigkeiten. Dennoch muss man dankbar für viele der modernen Möglichkeiten sein, die sich Gerichten bieten, um Beweise für Verbrechen zu sammeln. Noch vor ein paar Jahrhunderten wurden Menschen anhand der Vorstellung des Mordes für schuldig befunden, dass ein Leichnam in Anwesenheit seines Mörders spontan zu bluten beginnt.

Mindestens seit dem 12. Jahrhundert bis in das frühe 18. Jahrhundert wurden Männer und Frauen in Gerichten in ganz Europa und dem kolonialen Amerika anhand der sogenannten Bahrprobe verurteilt. (Lesenswert: Für die Wissenschaft! Surreale Fälle von Exhumierungen)

Bei diesem Test musste der Verdächtige seine Hand auf eine Wunde des Verstorbenen legen. Fing diese – oder wahlweise auch Augen, Nase oder Mund – wieder zu bluten an, galt das als Beweis der Schuld.

Niemand weiß so genau, wo der Glaube an die Bahrprobe ihren Anfang nahm, aber eine der frühesten Erwähnungen stammt aus dem Heldenepos des „Nibelungenlieds“. Darin wird der Drachentöter Siegfried ermordet und sein Leichnam aufgebahrt. Als sein Mörder Hagen sich nähert, beginnt wieder Blut aus Siegfrieds Wunden zu fließen.

Diese Vorstellung war zu dem Zeitpunkt, als das Epos geschrieben wurde, bereits fest im kulturellen Bewusstsein verankert.

Heutzutage ist es schwer vorstellbar, dass irgendjemand daran glaubt, Leichname würden wie auf Kommando bluten. Tote können im Normalfall tatsächlich nicht sehr lange bluten. Die Livor mortis tritt kurz nach dem Tod ein – dabei sammelt sich das Blut an den tiefsten Stellen des Körpers und „setzt“ sich innerhalb von etwa sechs Stunden, sagt die Forensikerin und Autorin A.J. Scudiere.

 „Während dieser Zeit blutet der Körper nicht wirklich. Eventuell nässt er“, sagt sie. Außerdem gerinnt das Blut nach dem Tod und verdickt sich.

Was also könnten die Menschen damals gesehen haben, das sie überzeugte? Wenn ein Mensch lange genug tot ist, bildet sich in den ersten Stadien der Verwesung Flüssigkeit in den Lungen. Wenn der Leichnam während eines Gerichtsverfahrens dann geschüttelt oder angestupst wurde, kann es passiert sein, dass ein Teil dieser Flüssigkeit aus der Nase oder anderen Körperöffnungen lief.

Die Menschen führten die Bahrprobe aber nicht durch, weil sie ihnen wissenschaftlich fundiert erschien. Sie glauben an sprichwörtliche Wunder im Gerichtssaal. Die Bahrprobe war nur eine von diversen göttlichen Interventionen, die als handfeste Beweise galten.

Solche Gottesurteile waren zum Beispiel auch die berühmte Wasserprobe, bei der Hexen auf dem Wasser schwimmen und Unschuldige untergehen. Bei der Feuerprobe musste ein Verdächtiger glühend heißes Eisen halten oder darauf laufen. Die Verdächtigen galten als schuldig, wenn Gott ihre Wunden nicht binnen drei Tagen heilte.

Solche Prozesse beschränkten sich auch nicht auf die tiefste Provinz: Kein Geringerer als König Jakob I. von England war fest von der Bahrprobe überzeugt.

Eine alte hölzerne Bahre in einer Kirche.
Foto von John Bowling, Alamy

Heutzutage ist König Jakob eher bekannt für seine Version der Bibel. Aber 1597 – mehr als ein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung seiner Bibel – schrieb der König ein Werk namens „Daemonologie“.

Er war besessen von dem Okkulten, besonders von Hexen, und hatte 1590 als König Jakob VI. von Schottland einen Hexenzirkel von mindestens 70 Hexen aufgestöbert. Die Hexen wurden mit Geräten wie dem „Brustreißer“ – genauso grausam, wie es klingt – gefoltert, bis sie gestanden. Insgesamt wurden bei den Hexenprozessen in Schottland etwa 4.000 Menschen verbrannt.

In „Daemonologie“ schrieb der König über seinen Glauben an die Bahrprobe als Möglichkeit, um Gerechtigkeit walten zu lassen.

„Bei einem geheimen Morde wird, so der Leichnam zu irgendeinem Zeitpunkt danach von dem Mörder berührt ward, Blut aus ihm strömen, als würde das Blut den Himmel um Rache am Mörder anrufen, wobei Gott dieses geheime, übernatürliche Zeichen bestimmt hat.“

Seltsamerweise waren es aber hauptsächlich männliche Leichname, die da bluten mussten. In ihrer neu veröffentlichten Masterarbeit untersuchte die Historikerin Molly Ingram von der Universität von Oregon die Berichte über Bahrproben. Viele davon stammen von Pamphleten oder Flugblättern, welche die Mordprozesse beschrieben.

Dabei fällt auf, dass Frauen bei Berichten über blutende Leichname selten eine Rolle spielten – es sei denn als angeklagte Mörderinnen. Auch Aussagen von Frauen fehlten größtenteils in den Berichten zum Prozesshergang.

„Weibliche Äußerungen galten als weniger glaubhaft als Äußerungen von Männern“, sagt Ingram.

Sie untersuchte auch historische Berichte über die Besessenheit von Dämonen. Man nahm an, dass diese bösen Geister eher in schwächere Frauenkörper eindringen würden. Sie fand heraus, dass selbst den Aussagen der echten Frauen mitunter weniger vertraut wurde als den Worten der männlichen Dämonen, von denen sie angeblich besessen waren.

„Ich denke nicht, dass es überraschend ist, dass es da so eine Diskrepanz gab“, sagt Ingram und verweist auf die Frauenfeindlichkeit der Zeit. Überraschend war es für sie aber, dass das niemand zu bemerken schien oder es in den modernen Beschreibungen dieser Praktiken erwähnte.

BELIEBT

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    „Die Bahrprobe“, ein Gemälde des ungarischen Künstlers Jenő Gyárfás von 1881, zeigte eine Braut, die schockiert blickt, als sie am Körper ihres Verlobten vorbeigeht, der zu bluten beginnt.
    Foto von Art Collection 4, Alamy

    Einer der seltenen Vorfälle, bei denen die Bahrprobe an einer Frau durchgeführt wurde, war der Fall von Thomas Mertine. Der Mann aus Maryland wurde 1660 angeklagt, seine Dienerin Catherine Lake zu Tode geprügelt zu haben.

    Laut dem Bericht des Gerichts hatte der Leichnam nicht geblutet und bestätigte somit, was die Geschworenen anscheinend eh schon beschlossen hatten: Trotz der Aussagen von drei Dienern, die sahen, wie Mertine sie geschlagen hatte, war Lake nicht durch die Schläge gestorben, sondern an einer Krankheit namens „Fits of the Mother“, also Hysterie. Mertine verließ den Gerichtssaal als freier Mann.

    Selbst in der frühen Neuzeit, als Christoph Kolumbus die Neue Welt erreichte und die Renaissance Einzug in Europa hielt, verließen sich die Menschen noch immer auf Magie und Wunder, um Rechtsstreitigkeiten zu klären. „Die Welt war weiterhin ein verzauberter Ort“, sagt Ingram.

    Die meisten Formen des Gottesurteils gerieten im Verlauf des 16. Jahrhunderts außer Mode, aber die Bahrprobe hielt noch länger durch. Ingram vermutet, dass man dieser Praxis mehr Vertrauen schenkte, weil sie primär mit Männern in Zusammenhang stand und weniger mit Frauen.

    Glücklicherweise beschränken sich diese „sprechenden“ Leichname heutzutage auf Kunstformen wie Theaterstücke. An Anfang von Shakespeares Stück „Richard III.“ beispielsweise tötet der buckelige Richard den König Heinrich VI.

    Die Adelige und seine zukünftige Frau Lady Anna Neville klagt ihn dieses Verrats an, als er sich ihr auf ihrem Weg zur Beerdigung des Königs nähert und der Leichnam zu bluten beginnt:

    „Ihr Herrn, seht, seht! des toten Heinrichs Wunden
    Öffnen den starren Mund und bluten frisch. –
    Erröte, Klumpe schnöder Mißgestalt!
    Denn deine Gegenwart haucht dieses Blut
    Aus Adern, kalt und leer, wo kein Blut wohnt“ 

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