Wie Angst uns gut oder böse macht

Ein stammesgeschichtlich alter Bereich unseres Gehirns bestimmt unsere Reaktionen und kann den Unterschied zwischen Altruisten und Psychopathen verdeutlichen.

Von Nina Strochlic
In einem altruistischen Akt spendet Missy Ewing eine ihrer Nieren an einen Fremden.
Foto von Lynn Johnson, National Geographic

Als Abigail Marsh 19 Jahre alt war, lief ihr auf dem Highway ein Hund vor das Auto. Sie wich aus, geriet ins Schleudern und fand sich auf der entgegengesetzten Fahrbahn wieder – und ihr Motor sprang nicht mehr an. Auf der anderen Seite des Highways bemerkte ein anderer Autofahrer ihr blinkendes Warnlicht, fuhr ran und rannte ihr zu Hilfe. Er schob sie auf den Beifahrersitz, brachte ihren Motor wieder zum Anspringen und fuhr sie in Sicherheit. Dann verschwand er in die Nacht. Sie sah ihn nie wieder.

Was bringt jemanden dazu, sein Leben für einen Menschen zu riskieren, den er nie zuvor getroffen hat? Und warum verursachen andere Menschen absichtlich Leid und scheinen keine Reue zu empfinden? Das sind Fragen, die Marsh – mittlerweile eine Lehrbeauftragte für Psychologie und Neurowissenschaften an der Georgetown Universität – beantworten wollte. In ihrem neuen Buch „The Fear Factor“ (dt. Der Angst-Faktor) legt sie ihre Theorie darüber dar, wie ein uralter Teil des Gehirns Angst bewertet und darauf reagiert.

Ein Fremder hat sein Leben riskiert, um Sie in Sicherheit zu bringen, als Sie noch ein Teenager waren. Wie hat das den Weg beeinflusst, den Sie in Ihrem Leben eingeschlagen haben?

Die Kombination aus einer Situation, in der ich beinah gestorben wäre, und einem Fremden, der mich rettet, war ein Erlebnis, das mich emotional sehr bewegt hat. Es war schwer, das aus meinem Bewusstsein zu verbannen. Was am längsten hängen blieb, war die Tatsache, dass ein völlig Fremder mich gerettet hat. Das wirkte so unwahrscheinlich – ich konnte mir nicht vorstellen, ein so großes Risiko einzugehen, um jemandem zu helfen, den ich noch nie getroffen habe.

Ich hatte dieses quälende Verlangen danach, zu verstehen, warum jemand eine solche Entscheidung treffen würde. Dieses Rätsel muss der Motor gewesen sein, der mich antrieb.

Wie wurde aus dieser Frage Ihr Forschungsgebiet?

Wenn ich zurückblicke, wird mir klar, dass der rote Faden in meinen Forschungen das Bestreben danach war, zu verstehen, warum Menschen anderen Menschen helfen wollen. Das führte dazu, dass ich Laborforschungen zu altruistischer Entscheidungsfindung durchführte. Aber man kann Leute in einem Labor nicht in eine Situation bringen, in der sie Entscheidungen über Leben und Tod treffen müssen. Ich wählte für meine Forschung nach meiner Promotion also Menschen, denen es klinisch an Umsicht und Mitgefühl mangelt.

Wir haben Hirnscans von Teenagern mit psychopathischen Merkmalen durchgeführt, während wir ihnen Bildern von verängstigten Gesichtern zeigten. Wir entdeckten, dass es in einem Teil des Gehirns namens Amygdala – ein evolutionär alter Bereich, der an vielen emotionalen und sozialen Verhaltensweisen beteiligt ist – kaum Reaktionen gab. Als Gegensatz wählte ich Nierenspender für eine Untersuchung, da ihr Verhalten am unmissverständlichsten altruistisch ist: Mit einem Fremden kann es nicht auf ein gegenseitiges Geben und Nehmen hinauslaufen.

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Als Sie Ihre Studie mit den Kindern mit psychopathischen Merkmalen begannen, was erwarteten Sie da von deren Verhalten?

Ich komme aus einer Stadt, die eine merkwürdig große Zahl an Psychopathen hervorgebracht hat: Ted Bundy, der Green River Killer und der D. C. Sniper kamen alle aus Tacoma, Washington. Es ist ein Mythos, dass der typische Serienkiller ein Psychopath ist. Ich verstehe jetzt, dass ein exemplarischer Psychopath jemand ist, dem das Leid anderer konsequent gleichgültig ist. Sie versuchen nicht notwendigerweise, anderen wehzutun. Sie versuchen zu bekommen, was sie wollen, und wenn dabei jemand verletzt wird, ist das eben ein Kollateralschaden.

Bevor ich mein erstes Kind mit psychopathischen Merkmalen evaluiert habe, habe ich einen Trainingskurs absolviert. Darin wurde uns beigebracht, uns zwischen dem Subjekt und der Tür aufzuhalten und keine scharfen Gegenstände bei uns zu tragen. Ich hatte keine Ahnung, wem ich da gegenübertreten würde.

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    Als ich in den Raum kam, war ich völlig perplex. Dieser Junge sah aus, als wäre er gerade aus einem Set für einen Werbespot spaziert. Er hatte ein zuckersüßes Lächeln, unterhielt sich mit uns und gab uns die Hand. Es fiel mir wirklich schwer, das mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass er im täglichen Leben gewaltsame und schreckliche Dinge tat.

    Das nennt man die Maske der Vernunft. Das fanden die Leute auch an Ted Bundy so bemerkenswert: Die, die ihn kannten, dachten eigentlich, dass er ein gut angepasster Typ sei.

    Wir denken oft an die Debatte zu angeborenen und anerzogenen Faktoren, wenn es darum geht, zu was für Menschen wir werden. Was bestimmt, ob wir Altruisten oder Psychopathen werden?

    Jedes psychologische Resultat wird von genetischen Unterschieden und Erfahrungen beeinflusst – oft gehen 50 Prozent auf genetische Variation zurück. Die Erblichkeit von Psychopathie liegt wahrscheinlich bei 50 bis 70 Prozent. Aber das ist eindeutig noch nicht das Ende vom Lied. Auch die Lebenserwartung spielt eine Rolle.

    Das schwerste an der Arbeit mit Kindern mit psychopathischen Merkmalen ist, dass ich wirklich Mitgefühl für die Eltern habe. Manche Eltern hoffen, dass ihr Kind im Gefängnis landet, weil sich dann wenigstens jemand darum kümmert. Wir werden alle sehr von der Vorstellung beeinflusst, dass das Verhalten von Kindern von dem Verhalten ihrer Eltern geprägt wird. Das haben wir auch von Schizophrenie und Autismus geglaubt. Eine schlechte Erziehung kann zu schlechtem Verhalten führen, aber sie steht nicht wesentlich mit ernsthaften psychischen Erkrankungen in Zusammenhang.

    Es lässt sich nur schwer sagen, ob Erziehung zu altruistischerem Verhalten führen kann. Wenn ich Menschen dazu befrage, die einem Fremden eine Niere gespendet haben, ist es für sie schwer, darauf zu antworten. Manche sagen: „Meine Eltern haben mich so erzogen.“ Dann frage ich: „Haben Sie Geschwister und sind die auch so wie Sie?“ Die meisten sagen dann: „Oh nein, überhaupt nicht.“ Jeder kann sich eine Erklärung dafür zurechtlegen, warum er so ist, wie er ist. Aber es lässt sich nur schwer sagen, ob sie auch stimmt.

    Sie haben sich entschieden, „extremen Altruismus“ bei Spendern zu untersuchen, die einem völlig Fremden eine Niere gespendet haben. Warum fiel Ihre Wahl gerade auf diese Gruppe?

    Altruismus ist ein Verhalten, von dem jemand anderes als der Altruist profitiert. Aber die Motivation lässt sich nur schwer messen. Es ist eine soziale Norm, dass man kleine Sachen macht, zum Beispiel Blutspende oder Spenden an wohltätige Organisation. Manche Menschen verhalten sich solchen Leuten gegenüber altruistisch, die ihnen in der Vergangenheit geholfen haben oder das in Zukunft tun werden. Andere helfen genetisch Verwandten aus einer Motivation namens Verwandtschaftsselektion heraus. Aber wenn jemand einem Fremden eine Niere spendet, ist es schwer, eine andere Erklärung dafür zu finden als die, dass er wirklich jemandem helfen möchte, weil ausschließlich der Empfänger einen Vorteil davon hat.

    Zu jener Zeit gab es ungefähr 1.000 altruistische Nierenspender in den USA und ich rechnete damit, dass es schwer werden würden, Freiwillige zu finden. Ich habe mich mit der lokalen Transplantationsorganisation in D. C. in Verbindung gesetzt und ein paar Anzeigen auf Webseiten gepostet und so. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich meinen Laptop öffnete und eine Flut von E-Mails sah. Das war mir in meiner gesamten Forschungslaufbahn noch nie passiert. Innerhalb von ein paar Tagen hatten wir genug Leute.

    Ted Bundy wirkt bei seiner Gerichtsverhandlung in Orlando, Florida konzentriert. Dort wurde über seine Anklage bezüglich des Mordes an der zwölfjährigen Kimberly Leach verhandelt.
    Foto von Bettmann, Getty

    Erzählen Sie uns von der Amygdala. Was wussten Sie darüber, bevor Sie mit Ihren Forschungen anfingen? Und was haben Sie entdeckt?

    Die Amygdala ist unerlässlich, um zu erkennen, wann andere Menschen Angst haben. Die Befunde aus unseren ersten Untersuchungen von Kindern mit psychopathischen Merkmalen zeigten eine verringerte Reaktion in der Amygdala, wenn wir ihnen Gesichter mit verängstigten Gesichtsausdrücken zeigten. Ihre Amygdala war außerdem kleiner. Das war ein wirklich wichtiger Hinweis.

    Psychopathische Menschen haben eine furchtlose Persönlichkeit. Eine Funktionsstörung der Amygdala beeinträchtigt ihre Fähigkeit, eine Angstreaktion zu generieren und bei anderen Menschen Angst zu erkennen. Sie können das einfach nicht nachempfinden. Ein Junge, den ich untersucht habe, hat eine Granatenattrappe in ein Gebäude voller Menschen geworfen, um sie zu erschrecken. Als ich ihn fragte, ob er sich deswegen schlecht fühle, sagte er: „Totaler Kodak-Moment.“

    Altruistische Nierenspender scheinen das Gegenteil von Psychopathen zu sein: Ihre Amygdala war größer und reaktionsfreudiger. Sehr altruistische Menschen sind sehr gut darin, die Angst anderer Menschen zu erkennen. Das könnte ein Grund dafür sein, warum sie motiviert sind, zu helfen.

    Die Altruisten, die Sie untersucht haben, beschreiben oft eine Art Intuition, die sie handeln lässt, bevor sie darüber nachdenken können. Warum haben manche Menschen so etwas und andere nicht?

    Das ist ein viel größeres Geheimnis bei Altruisten: Wie macht man den Schritt von einer starken Reaktion auf den Anblick der Angst anderer Leute zu der Motivation, ihnen zu helfen?

    Die Beweise deuten auf ein Hormon namens Oxytocin, das in der Amygdala auch für die Entstehung der mütterlichen Fürsorge verantwortlich ist. Es sorgt für eine konsequente Reaktion auf alles, was kindlich aussieht, darunter auch die Babys anderer Menschen, Tierbabys oder sogar Menschen, die wie Babys aussehen – zum Beispiel jemand mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck und weit aufgerissenen Augen. Ich wette, dass das Oxytocin in der Amygdala der Schlüssel bei dem entscheidenden Wandel von „Dieser Mensch hat Angst, ich muss mich in Sicherheit bringen“ zu „Dieser Mensch hat Angst, ich werde ihm helfen“ ist.

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    Wie hat Ihre Forschung die Art und Weise verändert, wie Sie die menschliche Natur betrachten?

    Es gibt so viele schlechte Nachrichten, aber die Welt, in der wir leben, spiegelt sich darin nicht akkurat wider. Psychopathen zu untersuchen, ist paradoxerweise eine sehr erbauliche Erfahrung. Mit Menschen zu arbeiten, denen es wirklich egal ist, wenn sie andere Menschen verletzen, zeigt einem, wie sehr sie sich von den meisten Menschen unterscheiden. Wir können Scheuklappen tragen, wenn es um das Leid anderer geht, aber der ganz normale Mensch sorgt sich eigentlich darum. Trends zeigen, dass die Leute Fremden gegenüber altruistischer werden.

    Es wird immer Menschen geben, die nicht nett sind, und es gibt keine Hinweise darauf, dass wir die ein oder zwei Prozent der Leute loswerden können, die Leid verursachen. Aber die meisten Menschen sind zu Fürsorge und Mitgefühl fähig. Psychopathische Menschen zu untersuchen, macht mich im Grunde allen anderen Leuten gegenüber optimistischer.(Lesenswert: Gut und böse)

    Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

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