Der Einsiedler von North Pond versteckte sich 27 Jahre lang vor Menschen

Christopher Knight hatte fast dreißig Jahre lang kein Gespräch mit einem anderen Menschen – aber er hat ungefähr Tausend Einbrüche begangen.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 30. Okt. 2017, 13:52 MEZ
Christopher Knight
Christopher Knight wird ins Gericht von Kennebec Country in Augusta, Maine geführt. Er hat allein in den Wäldern überlebt, indem er leere Hütten plünderte.
Foto von Andy Molloy, Kennebec Journal, Ap

1986 verließ der damals 20-jährige Christopher Knight sein Zuhause in Massachusetts, fuhr nach Maine und verschwand. Er lebte in einem Zelt in den unzugänglichen Wäldern der Region und stahl Essen aus den umliegenden Hütten. Fast 30 Jahre lang wechselte er kein Wort mit einem anderen Menschen – bis er für den Einbruch in ein leeres Ferienlager für Behinderte verhaftet wurde.

Weshalb aber kehren Menschen wie Knight der Welt den Rücken zu und werden zu Einsiedlern? War Chris Knight einfach ein unsozialer Einzelgänger? Oder kann er uns vielleicht etwas Wichtiges lehren? Das sind einige der Fragen, die der Journalist Michael Finkel, der auch für National Geographic geschrieben hat, in seinem Buch „The Stranger in the Woods: The Extraordinary Story of the Last True Hermit“ stellt (dt. Der Fremde im Wald: Die außergewöhnliche Geschichte des letzten wahren Einsiedlers).

Bei einem Zwischenstopp auf seiner Buchtour in New Hampshire sprach er mit uns am Telefon darüber, was jemanden zu einem Einsiedler macht, warum Knight schließlich gefasst wurde und wie er eine neue Verwendungsmöglichkeit für die Magazine von National Geographic fand.

The Stranger in the Woods: The Extraordinary Story of the Last True Hermit (dt. Der Fremde im Wald: Die Außergewöhnliche Geschichte des letzten wahren Einsiedlers) von Michael Finkel
Foto von Penguin Random House Publishing

Christopher Knight war ein Dieb, der über Tausend Mal in Privatgrundstücke eingebrochen ist und die Besitzer um ihren Seelenfrieden gebracht hat. Warum wollten Sie ein Buch über diesen zutiefst unsozialen Einzelgänger schreiben?

Die Sache mit den Einbrüchen war zwar interessant, aber vom ganzen Rest der Geschichte war ich völlig besessen. Erst lebt er 27 Jahre lang allein in den Wäldern von Maine und hat im Winter nicht mal ein Feuer angezündet. Er hat in der Zeit kein einziges Gespräch mit einer anderen Person geführt. Er hat keine E-Mails geschrieben oder auf sonstige Weise mit der Außenwelt kommuniziert.

Allerdings hat er zusätzlich zu den Nahrungsmitteln, Batterien und Taschenlampen Hunderte, vielleicht Tausende Bücher mitgehen lassen. Mich faszinierte der Gedanke, einen Menschen, der völlig von der Menschheit abgeschnitten war, zu fragen, warum er sich zurückgezogen hat und welche Beobachtungen er vielleicht über den Rest von uns angestellt hat. Schon seit Jahrtausenden wird Einsiedlern immer wieder die Frage gestellt, was der Sinn des Lebens ist. Dieser Neugier bin auch ich verfallen.

Die New York Times hat Knight mit Boo Radley verglichen, dem Einsiedler aus „Wer die Nachtigall stört“.  Erzählen Sie uns ein bisschen was von seinem Hintergrund – und warum er beschloss, sich von der Gesellschaft abzuwenden.

Boo Radley ist ein fiktionaler Charakter, Christopher Knight ist real. Er ist in einer sehr interessanten, abgeschiedenen Familie mitten in Maine aufgewachsen. Er hatte vier ältere Brüder und eine jüngere Schwester. Die Kinder der Knights waren in jeder Hinsicht ziemlich klug: Es war die Art von heutzutage seltener Familie, die zur unteren Mittelschicht gehörte, nicht viel Geld hatte, aber abends Shakespeare und Gedichte las. Sie wussten auch, wie man Autos repariert und Klempnerarbeiten verrichtet. Die ganze Familie eignete sich Wissen über Thermodynamik an. Sie haben ein Gewächshaus gebaut, unter dem sie Hunderte Liter Wasser in Kanistern zu jeweils einer Gallone (Anm.: 1 Gallone = 3,78 Liter) vergraben haben. Sie wussten, dass Wasser eine hohe spezifische Wärmekapazität besitzt. Es nimmt Wärme auf und gibt diese während der Nacht ab. Die Familie konnte den ganzen Winter über in Maine Nahrung in ihrem Gewächshaus anbauen, ohne dem Elektrizitätswerk einen einzigen Cent bezahlen zu müssen.

Knight war sein ganzes Leben lang extrem schüchtern. Er empfand menschliche Interaktion als erschreckend kompliziert. Mit 20 fuhr er mit seinem Auto ins nördliche Maine, ließ die Autoschlüssel auf der Konsole liegen und lief in den Wald. Die Familie hat nie die Polizei verständigt oder ihn als vermisst gemeldet. Ich habe bei der örtlichen Polizei nachgefragt, ob sie überrascht waren, dass die Familie sie nicht gebeten hat, nach ihm zu suchen. Sie sagten: „Nein, die Familie blieb sehr unter sich. Wenn da einer der Jungen weggelaufen war, war er eben weggelaufen.“ Ich bin sicher, dass sie sich Sorgen gemacht haben. Aber sie haben nicht die Behörden eingeschaltet. Das entsprach einfach nicht dem Ethos der Familie.

BELIEBT

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    Sie schreiben: „Man kann praktisch alle Einsiedler der Geschichte nehmen und in drei Gruppen aufteilen: Protestler, Pilger und Suchende.“ Schlüsseln Sie diese Kategorien für uns auf – und erklären Sie, zu welcher Gruppe Knight gehörte.

    Es gab schon immer Einsiedler – Menschen, die einfach allein sein wollten. Für die gab es viele Namen: Anachoreten, Klausner und Schamanen. Der verbreitetste Grund, aus dem Menschen die Gesellschaft verlassen, ist Religion. Das schließt Jesus, Mohammed und Buddha ein. Heutzutage gehören etwa drei Milliarden Menschen den Religionen an, die diese Personen begründet haben. Chris Knight sagte, er sei nicht religiös. Er hätte als Kind die Bibel gelesen und sehe keine Notwendigkeit, das noch einmal zu tun.

    Protestler sind wütend darüber, wie die Welt sich entwickelt hat, und über die gibt es schon Aufzeichnungen aus der Zeit des alten China bis hin zur Gegenwart. Sie protestieren gegen Krieg, Materialismus und Armut, indem sie der Welt den Rücken kehren. Chris Knight sagte, er hätte keine Meinung zur Welt. Damit hatte es nichts zu tun.

    Die Suchenden sind heutzutage die beliebteste Art der Einsiedler. Es sind Menschen, die aus künstlerischen, wissenschaftlichen oder persönlichen Gründen die Gesellschaft verlassen – wie Henry David Thoreau, der sagte, er sei in die Wälder gegangen, um die Ozeane seiner inneren Welt zu erforschen. Von Einstein über Michelangelo bis zu Isaac Newton haben sich Menschen als Einsiedler bezeichnet und der Welt einige der schönsten Kunstwerke oder intellektuelle Durchbrüche beschert.

    Christ Knight passt aber auch nicht in diese Kategorie. Er hat nie einen einzigen Satz niedergeschrieben oder ein Foto geschossen. Seine Einsamkeit, auch wenn er ein Dieb war, war noch strikter und noch mehr nach innen gerichtet als bei jeder anderen Person der Geschichte, die mir bekannt wäre. Er hat Thoreau als Dilettanten bezeichnet. Thoreau hat nur zwei Jahre in seiner Hütte am Walden Pond verbracht, und seine Mutter hat seine Wäsche gewaschen. Knight fand, dass Thoreau nur ein Angeber war, der nach da draußen gegangen war, ein Buch geschrieben und gesagt hat: „Schaut nur, wie toll ich bin.“

    Henry David Thoreau hat zwei Jahre am Walden Pond verbracht – laut Knight ein „Dilettant“.
    Foto von Ap

    Sein Lager war extrem abgelegen und durch natürliche Merkmale wie die Vegetation geschützt. Erzählen Sie uns etwas über den „Jarsey“ und die außergewöhnlichen Strategien, mit denen Knight 27 Jahre lang im Wald überlebt hat.

    Knight lebte nicht mitten in der abgeschiedenen Wildnis des nördlichen Maine. Er wanderte ein bisschen umher, bis er seinen Lagerplatz gefunden hatte, an dem er dann 25 Jahre lang lebte. Er befindet sich auf Privatgelände in einem Gebiet, in dem mehrere Hundert Hütten verstreut liegen. Es gibt dort auch kleine Städte und Landstraßen. Mit anderen Worten: Er hat mitten in der Zivilisation gelebt. Ich habe mich gefragt, wie es möglich war, dass 25 Jahre lang niemand über sein Lager gestolpert ist.

    Dann habe ich mir den Wald angesehen, der sein Lager umgibt. Die Einheimischen nennen ihn „The Jarsey“. Der sieht wie ein überdimensionaler Topfkratzer aus: Das Unterholz ist enorm dicht und von wirren, verwachsenem Gestrüpp geprägt. Über all liegen Felsbrocken. Selbst Rehe kommen da nur schwer durch. Ich würde mich selbst schon als Naturburschen bezeichnen, aber als ich versucht habe, sein Lager zu finden, habe ich mir die Hände blutig gerissen und meine Wanderschuhe ruiniert. Aber Chris Knight konnte vollkommen geräuschlos durch diese Wälder laufen, selbst nachts.

    Ich war fasziniert davon, mit welchen Tricks er dort oben überlebte. Es wird fast unvorstellbar kalt in Maine. Aber er hat mir erzählt, dass er im Winter jeden einzelnen Morgen um 2:30 Uhr aufgestanden ist, statt sich in seinen Schlafsack zu kauern, wie ich es zur kältesten Tageszeit getan hätte. Er stand auf, lief die Grenze seiner Waldlichtung ab und schmolz mithilfe eines kleinen Campingkochers Schnee für Trinkwasser. Er hat das jede Nacht getan, den ganzen Winter lang, und er hat nie auch nur einen einzigen Zeh oder Finger durch Erfrierungen verloren. Das ist einfach der Wahnsinn.

    Sein Lagerplatz war – ich habe dafür keine anderen Worte – eine Art magischer Raum mitten im Wald, der zwischen Felsen versteckt lag, ähnlich wie bei Stonehenge. Dank National Geographic-Magazinen war der Boden auch komplett eben. [Lacht] Er hat sie zu Stapeln zusammengebunden, seine "Backsteine", und sie unter dem Boden seines Lagers vergraben, damit der Boden völlig eben ist. Die Leser von National Geographic werden sich vielleicht auch freuen zu hören, dass sie bei Regen außerdem das Wasser sehr gut ablaufen lassen. [Lacht]

    Wie wurde er schließlich festgenommen? Und wie hat die Justiz über ihn geurteilt?

    Unter den Gemeinden im zentralen Maine ist er im Laufe der Zeit eine regelrechte Legende geworden. Irgendwer hat 27 Jahre lang Dinge aus Hütten gestohlen, und niemand wusste, ob es ein Mann, eine Frau, ein Mörder oder einfach ein Scherzkeks war. Sie haben dem Unbekannten einfach als „North Pond Hermit“ bezeichnet (dt. North-Pond-Einsiedler). Ein Wildhüter namens Terry Hughes hat schließlich beschlossen, dem Spuk ein Ende zu machen. Er hat Hightech-Überwachungsgeräte vom Heimatschutz besorgt, Kameras auf den Wald gerichtet und den Einsiedler so schließlich gefasst.

    Es war, als wäre das Monster von Loch Ness plötzlich aus dem See spaziert. Aber die Wahrheit war einfach noch bizarrer als der Mythos. Da hat ein Typ tatsächlich fast drei Jahrzehnte lang im Wald gelebt, Tausende Einbrüche gestanden, aber nie eine Waffe getragen oder irgendjemanden verletzt. Niemand wusste so recht etwas mit ihm anzufangen.

    Strafvollzugsbeamte laden Gegenstände aus Knights Lager aus, das in den dichten Wäldern bei Rome in Maine lag.
    Foto von Robert F. Bukaty, Ap

    Der Mann, der ihn festgenommen hat, war ein extremer Verfechter von Recht und Ordnung. Terry Hughes sagte mir, er hätte sich „darauf eingestellt, den Typen zu hassen“. Dann führte Chris Knight ihn zurück zu seinem Lager, um ihm zu zeigen, wo er gelebt hatte. Während sie durch die Wälder gingen, war Officer Hughes einfach verblüfft davon, wie sich dieser Mann durch den Wald bewegte. Er sagte, er hätte wie eine Katze gewirkt – leise, geschickt, anmutig und flink.

    Mehrere Polizeiberichte wiesen auf die penible Ordentlichkeit seiner Verbrechen hin. Chris Knight war ein Einbrecher vom Geschick eines Houdini, der nie ein Fenster eingeschlagen oder eine Tür aufgebrochen hat. Er knackte geschickt Schlösser und nahm dann Bücher, Taschenlampen, Nahrung und gelegentlich ein Kleidungsstück mit. Aber wenn er die Hütte verließ, achtete er darauf, sie wieder zu verriegeln.

    Trotzdem sagte der Besitzer einer der Sommerhütten, in die Knight mehrfach eingebrochen war: „Er hat jedes Stückchen meines Stücks vom Himmel gestohlen.“ Dafür muss er doch verurteilt werden, oder?

    Ich hege Sympathien für Knight. Aber man darf nicht vergessen, dass er nicht nur Hamburger und Taschenlampen gestohlen hat. Er hat den Menschen ihr Gefühl von Sicherheit und ihren Frieden gestohlen, und an diese Dinge kann man kein Preisschild heften. Er ist kein unschuldiger Held. Aber ich denke auch, dass diese Grauzone zwischen dem romantisierten Ideal eines Einsiedlers und einem Seriendieb die Geschichte komplexer und komplizierter macht.

    Die Reaktionen der Leute auf Knight deckten das ganze Spektrum ab. Einige, deren Hütten er ausgeraubt hatte, fanden, er sollte den Rest seines Lebens eingesperrt werden für die Qualen, die er ihnen bereitet hatte. Andere Opfer seiner Diebeszüge haben mir gesagt, dass er letztendlich auch nicht mehr Ärger als eine Fliege gemacht hat. Ich atte irgendwann den Eindruck, dass die eigene Meinung zu Knight nicht nur Rückschlüsse auf ihn zulässt, sondern auch auf einen selbst.

    Sie sagen: „Christopher Knight war mit seinen Tausenden und Abertausenden Tagen der Einsamkeit ein unfassbarer Sonderfall.“ Haben Sie am Ende verstanden, warum er der Welt den Rücken gekehrt hat? Und was haben Sie aus seiner Geschichte gelernt?

    Nach was suchen wir alle im Leben? Zufriedenheit, Freiheit, Glück? Einfach – und vermutlich auch tiefgreifend – ausgedrückt, war Knight in Gesellschaft anderer Menschen nicht glücklich und glaubte, dass er in den Wäldern Zufriedenheit finden würde. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort bleiben würde, aber er hat gefunden, wonach er gesucht hat. Er hat einen Ort gefunden, an dem er nicht nur zufrieden war, sondern wo er trotz seines erheblichen Leidens im Winter ein Gefühl von Freude und Erfüllung fand.

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    Das verlassene Dorf Roghudi Vecchio wurde im elften Jahrhundert gegründet und liegt am Abhang eines Bergsporns des italienischen Bergmassivs Aspromonte. 

    Christopher Knight ging, weil es für ihn in der Welt keinen guten Platz gab. Wer nicht in die Gesellschaft passt und einen Mord begeht, landet im Gefängnis. Wer wegen psychischer Probleme nicht hineinpasst, kommt in andere Einrichtungen. Dieser Mann war extrem klug, aber hat auch einfach nicht in die Welt gepasst. Manche Leute haben sogar gefragt, ob man ihm nicht einfach ein Stück Land und ein paar Tüten mit Lebensmitteln geben kann, damit er dort in Frieden sein Dasein fristen kann.

    Manchmal, wenn ich mit meinen drei streitenden Kindern auf dem Rücksitz Auto fahre, zu spät zu einem Termin komme, im Verkehr feststecke und im Radio wieder mal deprimierende Nachrichten laufen, zuckt ein Gedanke durch mein Herz und meine Seele: Nicht Knight ist verrückt, sondern wir sind es. Vielleicht ist die eigentliche Frage nicht, warum Knight der Gesellschaft den Rücken gekehrt hat, sondern warum wir das nicht tun.

    Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit bearbeitet. Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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