Zähne geben Einblick in das Leben von Neandertalern
Von der Stillzeit bis zum entbehrungsreichen Leben im Winter offenbaren Zähne viele Details aus dem Leben unserer alten Cousins.
Tanya Smith liest Zähne so, wie die meisten Menschen Bücher lesen.
In den Schichten der Kauwerkzeuge verbergen sich Details aus dem Leben ihrer Besitzer, von der Ernährungsweise bis hin zu Krankheiten. Seit über 15 Jahren erforscht Smith, eine Anthropologin der Griffith University in Australien, nun schon ihre chemische Zusammensetzung und ihre Struktur. Ein Detail fehlte bei diesen Geschichten jedoch immer: die Umweltbedingungen, unter denen sich die Veränderungen in den Zähnen abspielten.
„Die Wissenschaftler, die die Menschheitsgeschichte erforschen, haben schon lange spekuliert, dass Klimaveränderungen und Perioden der klimatischen Instabilität die treibenden Kräfte hinter den Evolutionsstufen der Menschheit gewesen sein könnten“, sagt Smith. Aber jene Marker, an denen sich das Klima der Vergangenheit ablesen lässt – beispielsweise Eisbohrkerne und der Pollenbericht – sind nicht detailliert genug. Sie liefern keine Informationen über so kurze Zeitspannen, die Aufschluss darüber geben könnten, wie sich das Leben eines Individuums im Laufe seiner Lebenszeit verändert haben könnte. Das ändert sich jetzt allerdings.
Eine Studie, die im Fachmagazin „Science Advances“ erschien, gewährt einen beispiellosen Einblick in das frühe Leben zweier junger Neandertaler, die vor etwa 250.000 Jahren im Südosten des heutigen Frankreichs lebten. Die chemische Zusammensetzung des Zahnschmelzes offenbart die zahlreichen Herausforderungen, denen sie sich in ihrer Umwelt stellen mussten. Für die frühen Cousins des Menschen war der Winter eine besonders entbehrungsreiche Zeit, und immer wieder durchlebten sie Perioden der erhöhten Bleiaufnahme, die vermutlich mit der je nach Jahreszeit unterschiedlichen Verfügbarkeit von Ressourcen zusammenhängt.
Mit Hilfe von Sauerstoffisotopen konnten die Forscher außerdem feststellen, dass einer der jungen Neandertaler im Frühling geboren wurde. Nachdem er zweieinhalb Jahre lang von seiner Mutter gestillt wurde, wurde er dann im Herbst entwöhnt.
„Diese Studie ist eine der spannendsten Forschungsarbeiten, die ich seit Langem gelesen habe“, schrieb Kristin Krueger in einer E-Mail. Die Paläoanthropologin der Loyola University ist auf die Untersuchung alter Zähne spezialisiert. „Ehrlich gesagt stand mir vor Staunen mehrfach der Mund offen.“
Hinweise im Wachstum
Der Zahnschmelz bildet sich in einem einigermaßen regelmäßigen Muster aus, ähnlich den Jahresringen eines Baums. „Es bilden sich nach und nach neue Schichten“, erklärt Smith, die Hauptautorin der Studie. Im Gegensatz zu den Baumringen sind die Ringe eines Zahns aber viel feiner. Sie ermöglichen es Forschern sogar, jeden Tag in den ersten Lebensjahren eines Kindes zu untersuchen.
Für ihre aktuellste Studie begutachteten Smith und ein internationales Forscherteam zwei Zähne von zwei verschiedenen Neandertalerkindern. Außerdem verglichen sie die Ergebnisse mit den Zähnen eines Homo sapiens, der am selben Ort vor etwa 5.000 Jahren lebte – also Zehntausende Jahre nach den Neandertalern.
Die Forscher schnitten eine dünne Scheibe aus jedem Zahn heraus und konnten so die Informationen aus den zahlreichen Schichten auslesen. Unter dem Mikroskop zählten sie die täglich neu entstandenen Ringe und konnten verblüffend genaue Schätzungen dazu abgeben, in welchem Alter des Kindes welche Schicht entstand.
Die beiden Backenzähne benötigten etwa drei Jahre, um sich voll auszubilden. An einem der Zähne ließ sich der Zeitraum von kurz vor der Geburt des Kindes bis fast zu seinem dritten Lebensjahr ablesen, so Smith. Die geringen Abnutzungserscheinungen am Zahn deuten jedoch darauf hin, dass sein Besitzer nicht bis ins Erwachsenenalter überlebte.
Der zweite Backenzahn war bereits ein bleibender Zahn, der sich erst später bildete. Sein Wachstum begann, als das Neandertalerkind etwa drei Jahre alt war, und dauerte bis zu seinem sechsten Lebensjahr an. Ab da bildete der Zahn keine neuen Schichten mehr aus. Stattdessen mehrten sich die Abnutzungserscheinungen.
Die Spuren des Winters
Die Forscher gingen aber noch einen Schritt weiter: Sie verzeichneten die jahreszeitlichen Unterschiede in den Schichten sowie das Verhältnis von Sauerstoffisotopen. Letzteres ist ein Indikator für das Klima der Vergangenheit, welches die Forscher in diesem Fall sogar bis auf die Woche genau ablesen konnten. Sowohl Nahrungsmittel als auch Wasser enthalten Sauerstoffisotope. Als die Neandertaler aßen und tranken, verewigten sie gewissermaßen Aufzeichnungen über ihre Umgebungstemperatur in ihren Zähnen.
Diese Aufzeichnungen lassen erkennen, dass der Besitzer des Milchzahnes wie viele andere Säugetiere im Frühling geboren wurde. In den Wintermonaten wurde das Zahnwachstum jedoch leicht beeinträchtigt, was auf Stress hindeutet. „Das Zahnwachstum kann durch eine Reihe von Faktoren verändert werden“, sagt Smith. Der Umstand, dass diese Veränderungen mit dem Winter zusammenfielen, deutet jedoch darauf hin, dass die Kälte besondere Herausforderungen mit sich brachte, beispielsweise Krankheiten, Vitaminmangel und Fieber.
Allerdings waren das nicht die einzigen Gefahren der kalten Jahreszeit. Mehrere Regionen des Zahnschmelzes, die sich im Winter oder zu Frühlingsanfang bildeten, weisen auf eine Belastung ihres Besitzers durch Blei hin. „Was haben sie gemacht, das diese Bleibelastung erklärt? Das ist eine interessante Frage“, so Smith. Innerhalb des Verbreitungsgebietes der Neandertaler gibt es natürliche Bleivorkommen. Womöglich zwang die Kälte sie also dazu, nahegelegene Höhlen aufzusuchen und kontaminiertes Wasser und Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Vielleicht atmeten sie auch den Rauch von Feuer ein, in dem kontaminiertes Material verbrannt wurde, wie sie spekuliert.
Was die Milch verrät
Die Veränderungen in der Bariumkonzentration ließen Rückschlüsse über das Stillverhalten der Neandertaler zu. In Muttermilch ist überraschend viel Barium enthalten. Das Element ähnelt Kalzium und wird vom Körper des Kindes für das Wachstum von Knochen und Zähnen verwendet.
Der bleibende Zahn, der untersucht wurde, bildete sich vermutlich erst nach der Entwöhnung seines Besitzers. Aber am Milchzahn ließen sich Spuren der Stillzeit erkennen, die bis zu einem Alter von etwa zweieinhalb Jahren andauerte.
Bisher haben Wissenschaftler nur in einem einzigen anderen Fall das Stillverhalten von Neandertalern untersucht. Smith und ihre Kollegen dokumentierten 2013 einen Neandertalerfund aus dem heutigen Belgien. Die dazugehörigen Zähne lassen vermuten, dass das Kind nur 1,2 Jahre gestillt wurde. Dann kam es zu einer abrupten Entwöhnung – womöglich wurde das Kind von seiner Mutter getrennt oder erkrankte plötzlich.
Daher lässt sich nur schwer sagen, ob die Ergebnisse der aktuellen Studie als Richtwert für andere Individuen gelten können. Allerdings deckt sich eine Stillzeit von 2,5 Jahren ungefähr mit der Stillzeit nicht-industrieller menschlicher Populationen.
„Es ist faszinierend, dass sie das Alter feststellen konnten, in dem die Entwöhnung stattfand“, schrieb die Anthropologin Debbie Guatelli-Steinberg von der Ohio State University in einer Mail. Sie verweist darauf, dass zweieinhalb Jahre eine deutlich kürzere Stillzeit sind als beispielsweise bei Schimpansen. Zusammen mit Bonobos sind sie unsere engsten lebenden Verwandten und stillen ihre Jungen für gewöhnlich fünf Jahre lang. Das deutet darauf hin, dass Neandertaler in dieser Hinsicht dem Homo sapiens ähnlicher waren.
Smith hofft, künftig weitere Neandertaler aus verschiedenen Epochen und Lebensräumen untersuchen zu können – aber auch menschliche Kinder längst vergangener Epochen. Bisher wisse man sehr wenig darüber, wie sich die Stillzeiten im Laufe der Zeit verändert haben, sagt Smith. Manche Wissenschaftler haben spekuliert, dass die Entwicklung von weichen Nahrungsmitteln und Milchprodukten Müttern bei der Entwöhnung geholfen haben könnte. „Aber bisher konnte das niemand wirklich auf so präzise Weise testen. Diese Methode könnte uns dabei helfen, genau das zu tun“, sagt sie.
Komplexe Cousins
Die Studie trägt dazu bei, ein zunehmend komplexes Bild von Neandertalern zu zeichnen, sagt Krueger. Sie liefert Forschern eindrucksvolle Einblicke in das tagtägliche Leben unserer uralten Cousins. Das trage auch dazu bei, das Stereotyp von Neandertalern als „primitive, schlurfende Rohlinge“ zu widerlegen, wie sie sagt. „Ein Beispiel: Wie würden Sie reagieren, wenn sie jemand als Neandertaler bezeichnen würde? Das wäre kein Kompliment, oder?“
„Aber diese Homo-Gattung war wirklich komplex und kompliziert: Sie kochten ihre Nahrung, sie nutzten eine große Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten und benutzten manche Pflanzen sogar zu medizinischen Zwecken“, so Krueger. „Sie trugen Schmuck, schufen Höhlenkunst und begruben ihre Toten.“
Die jüngste Studie enthüllt nun noch mehr Details über ihr tägliches Leben. Sie zeigt, wie sich der Winter auf die Neandertaler auswirkte und wie Mütter sich um ihren Nachwuchs kümmerten. Für Krueger ist klar, was das bedeutet: „Die Trennlinie zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ verschwimmt jeden Tag mehr.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
Neandertaler
Älteste Höhlenkunst stammt wahrscheinlich von Neandertalern
Die neuen Befunde lassen darauf schließen, dass die geistigen Fähigkeiten von Neandertalern denen moderner Menschen ebenbürtig waren.
Dieses Neandertaler-Kind wuchs genauso wie heutige Menschenkinder
Ein 49.000 Jahre altes Skelett stützt die These, dass eine lange Kindheit – die ein größeres Gehirn ermöglicht – kein rein menschliches Merkmal ist.
Die letzten Neandertaler
März 1994. Im Norden Spaniens erkunden Freizeitforscher ein Höhlensystem. In einem Seitengang fällt das Licht ihrer Lampen auf Knochen: Zwei Unterkiefer ragen aus dem Sand. Die Grotte, El Sidrón, liegt im Hochland von Asturien.