Schneeball-Erde: Wohin verschwand ein Fünftel der Erdkruste?

Ein gewaltiger Teil der geologischen Geschichte der Erde fehlt. Schuld könnten riesige Gletscher sein, die einst die Welt umspannten.

Von Robin George Andrews
Veröffentlicht am 7. Jan. 2019, 15:46 MEZ
Auf dieser Satellitenaufnahme der Antarktischen Halbinsel von 2017 trifft Eis auf Gestein. Vor Millionen von Jahren ...
Auf dieser Satellitenaufnahme der Antarktischen Halbinsel von 2017 trifft Eis auf Gestein. Vor Millionen von Jahren sah der gesamte Planet während einer Phase namens Schneeball-Erde womöglich sehr ähnlich aus.
Foto von Mario Tama, Getty

Der Grand Canyon ist eine gewaltige geologische Bibliothek mit zahlreichen Gesteinsschichten, aus denen sich viele Informationen über die Erdgeschichte herauslesen lassen. Seltsamerweise fehlt aber ein nicht unerheblicher Teil mit Schichten, die zwischen 250 Millionen und 1,2 Milliarden Jahre alt sind.

Diese Schichtlücke wird auch als Hiatus bezeichnet und ist keine einzigartige Eigenheit des Grand Canyon. Derartige Lücken finden sich an verschiedenen Orten überall auf der Welt. Eine der Schichten stammt aus dem Kambrium, welches vor etwa 540 Millionen Jahren begann und Sedimentgestein voller komplexer, multizellulärer Organismen hinterließ. Direkt darunter folgt das kristalline Grundgebirge, das sich vor etwa einer Milliarde Jahre oder mehr bildete und frei von jeglichen Fossilien ist.

Was aber geschah mit all dem Gestein, das zwischen diese zwei Perioden der Erdgeschichte gehört? Ein internationales Team aus Wissenschaftlern kam nun zu der Vermutung, dass der Sedimentdieb die sogenannte Schneeball-Erde war. Laut dieser geowissenschaftlichen Hypothese war die Erde zu jener Zeit von Eis und Schnee bedeckt.
 

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Dem Team zufolge war die Erdkruste innerhalb dieses Zeitraums von grob einer Milliarde Jahre in Intervallen immer wieder bis zu einem Drittel von Gletschern bedeckt, die sich langsam über die Kontinente schoben. Dabei trugen sie Sediment ab und spülten es ins Meer, wo es zu Boden sank und in Subduktionszonen in den Erdmantel hinabgedrückt wurde. (Was passieren würde, wenn die Plattentektonik der Erde zum Erliegen kommen würde, erfahrt ihr hier.)

Vielerorts verschluckte die Erde praktisch ein Fünftel der Zeugnisse ihrer geologischen Geschichte, wie das Team in „Proceedings of the National Academy of Sciences“ darlegt. Es ist eine ebenso elegante wie provokante Theorie, und die Autoren rechneten bereits damit, dass einige Geologen ihr skeptisch gegenüberstehen würden. „Ich glaube aber, dass wir außergewöhnliche Beweise haben, um diese außergewöhnliche Behauptung zu untermauern“, sagt der Studienleiter C. Brenhin Keller vom Berkeley Geochronology Center.

Geochemische Geister

Obwohl es nach wie vor Debatten über die Auslöser, Details und die Mechanismen gibt, die zum Ende dieser klimatischen Periode führten, findet die Theorie einer frostigen Schneeball-Erde vor rund 700 Millionen Jahren immer mehr Akzeptanz in wissenschaftlichen Kreisen. Ähnlich wie heutzutage in der Antarktis trugen viele der damaligen Gletscher vermutlich beträchtlich zur Erosion bei. Der Druck der Eismassen erzeugt an deren Boden eine nasse Zwischenschicht, die Sediment wegbefördern konnte.

BELIEBT

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    Kalkstein aus dem Kambrium liegt über dem deutlich älteren Vishnu-Grundgebirge, hier zu sehen in einem Abschnitt des Blacktail Canyon in Arizona.
    Foto von Earth Gallery Photograph, Alamy

    Der Hiatus im Grand Canyon wurde schon öfter einem Erosionsvorgang zugeschrieben, aber einige Geologen sträubten sich gegen die Idee, dass ein so gewaltiges Stück der Erdkruste so gründlich hinweggefegt wurde.

    Ausgerechnet in uralten Zirkonen fand Keller neue Beweise für diese These. Diese enorm haltbaren Minerale bewahren ein Abbild jener geochemischen Umweltbedingungen auf, unter denen sie entstanden. Noch Milliarden Jahre später können Wissenschaftler die Zirkone untersuchen und so herausfinden, wie die Erde einst beschaffen war. (Beispielsweise liefern 4 Milliarden Jahre alte Zirkone Hinweise auf den Ursprung des Lebens.)

    Genau genommen sind es die verschiedenen radioaktiven Isotope in den Zirkonen, die als Geschichtsschreiber fungieren. Anhand der Uranisotope können die Forscher das Entstehungsalter der Zirkone erstaunlich präzise ermitteln. Andere, beispielsweise Hafniumisotope, offenbaren, was mit der Erdkruste und dem Erdmantel geschah, da bestimmte Isotope nur in bestimmten geologischen Umgebungen zu finden sind.

    Mit einer regelrechten Fülle an Zirkonen entwirrten Keller und sein Team sorgsam die geochemische Evolution der Erdkruste über einen Zeitraum von 4,4 Milliarden Jahren. Sie entdeckten eine gewaltige geochemische Verschiebung, die zum vermuteten Beginn der globalen Vergletscherung der Schneeball-Erde stattfand. Diese Verschiebung ließe sich nur dadurch erklären, dass ein großer Teil der Erdkruste zu neuen Magmareservoirs recycelt wurde.

    Sauerstoffisotope in den Zirkonen deuteten darauf hin, dass die Kruste hydrothermale Veränderungen durchlaufen hatte. Das bedeutet, dass die obere Krustenschicht, die Kontakt mit Wasser und Eis hatte, abgeschliffen und subduziert wurde –nicht aber die tieferen Schichten.

    Insgesamt deuten die Belege darauf hin, dass an der Oberfläche ein gigantisches Erosionsereignis stattfand. Auch wenn die Erosion global gesehen nicht gleichmäßig stattfand, beläuft sich der Schichtverlust im Schnitt auf einen Bereich von drei bis fünf Kilometern Höhe.

    Verräterische Sedimente

    Die geochemischen Belege sprechen eine deutliche Sprache – aber durch zufällige Diskussionen auf einer Konferenz, die vor Kurzem stattfand, realisierten die Studienautoren, dass ihre Theorie noch mehr Rätsel lösen könnte.

    „Vor etwa 600 bis 700 Millionen Jahren verschwanden die Krater der Erde“, erzählt der Co-Autor Bill Bottke, ein Planetenwissenschaftler und Asteroidenexperte des Southwest Research Institute in Boulder, Colorado. Nur einige uralte Einschlagkrater existieren auch heute noch auf den präkambrischen Kerngebieten der Kontinente, die man auch als Kratons bezeichnet.

    Eine einfache Erklärung für dieses Mysterium wäre ebenfalls ein gewaltiges Erosionsereignis, aber bisher ließen sich Beweise dafür kaum finden. Im Gegensatz zu anderen Planeten „ist die Erde ziemlich gut darin, die Spuren ihrer Vergangenheit zu verwischen“, so Bottke. Kellers geochemische Forschung lieferte mit der Schneeball-Erde zum Glück eine natürliche Erklärung.

    Zu Beginn des Kambriums lässt sich dann eine plötzliche Zunahme der Sedimentbildung erkennen. Das ganze Sediment benötigte eine Menge Platz, um sich abzulagern. Das wäre nur möglich gewesen, wenn es zuvor zu einer massiven Erosion kam, sagt der Co-Autor Thomas Gernon, ein Professor für Erdwissenschaften an der University of Southampton.

    Die Forscher weisen darauf hin, dass es bei ihren Daten allerdings immer noch ein kleines Problem gibt: eine zeitliche Lücke von mehreren Millionen Jahren zwischen dem berechneten Ende der Schneeball-Erde und dem Beginn des Kambriums. Es ist nicht ganz klar, weshalb es nach dem Ende der Erosion so lange dauerte, bis sich neue Gesteinsschichten bildeten.

    Vermutlich gibt es dafür aber mehrere Gründe – unter anderem, dass die Erosion zu Zeiten der Schneeball-Erde so gewaltig war, dass am Ende einfach nicht mehr viel übrig war, was noch weiter erodieren konnte. Der Planet musste erst mehr Landmasse bilden, und das brauchte Zeit.

    Die Vielfalt im Eismeer

    Verständlicherweise passt noch nicht alles perfekt zusammen, aber das Narrativ der Studie sei „sehr plausibel“ und ihre Argumente „ziemlich clever“, sagt Ian Fairchild, ein emeritierter Professor für Geowissenschaften an der University of Birmingham, der an der Forschung nicht beteiligt war.

    Bottke hofft, dass das Team recht behält. Aber in jedem Fall freut er sich darüber, dass die Studie zu einer Debatte über ein geologisches Mysterium beiträgt, das viele neue Ideen hervorbringt.

    „Solche Konversation sind es, die die Wissenschaft voranbringen“, sagt er.

    Sollte sich die Theorie als korrekt herausstellen, bliebe das für andere wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ohne Folgen. Immerhin deutet die Studie darauf hin, dass sich komplexe Lebensformen erstmals entwickelten, als die gewaltigen Erosionsvorgänge zu Zeiten der Schneeball-Erde ein Ende fanden. Die großen Gletscher hatten flache, fjordähnliche Meeresbereiche geschaffen, in denen sich das Leben tummelte, als der Planet wieder wärmer wurde. Die weltweite Abtragung der Kruste fiel womöglich auch mit bedeutenden Veränderungen in der Geochemie und Umwelt des Planeten zusammen, die sich potenziell vorteilhaft auf die biologische Evolution ausgewirkt haben könnten.

    Es ist also durchaus möglich, dass die Diversifizierung vielzelliger Organismen eine direkte Folge der uralten Gletscher war, welche die Kruste des Planeten abtrugen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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