90 Arten verschwunden: Zwischenbilanz des Amphibiensterbens

„Der Chytridpilz ist der verheerendste Krankheitserreger, der jemals wissenschaftlich beschrieben wurde.“ 

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 3. Apr. 2019, 12:17 MESZ
Amphibien-Apokalypse: Chytridpilz breitet sich global aus
Ergebnisse einer globalen Bestandsaufnahme von Amphibien zeigen, dass der Chytridpilz doppelt so viele Arten bedroht wie gedacht.

Seit Jahrzehnten rafft ein stummer Killer Frösche, Kröten und Salamander dahin. Bei lebendigem Leib frisst er die Haut der Tiere. Ein internationales Team aus 41 Wissenschaftlern hat nun verkündet, dass der Krankheitserreger – der sich durch menschliche Eingriffe über die ganze Welt verbreitet hat – den globalen Artenreichtum schlimmer geschädigt hat als jede andere Krankheit der Geschichte.

Die neue Studie, die in „Science“ veröffentlicht wurde, stellt die erste umfassende Bestandsaufnahme der Schäden durch die Chytridpilze Batrachochytrium dendrobatidis (Bd) und Batrachochytrium salamandrivorans (Bsal) dar. Insgesamt sind die Pilze die treibende Kraft hinter dem Rückgang von mindestens 501 Amphibienarten – also etwa jede 16. bekannte Art.

Von den befallenen Arten sind mittlerweile 90 ausgestorben oder gelten als in der Wildnis ausgestorben. Bei weiteren 124 Arten wurde ein Populationsrückgang von mehr als 90 Prozent verzeichnet. Bis auf eine Ausnahme war die Ursache für alle 501 Bestandseinbrüche der Pilz Bd.

„Wir wussten, dass der Chytridpilz wirklich schlimm ist – aber wir wussten nicht, wie bedenklich er tatsächlich ist. Die Lage ist deutlich schlechter, als es frühe Schätzungen vermuten ließen“, sagt der Studienleiter Ben Scheele, ein Ökologe der Australian National University. „Unsere neuen Ergebnisse setzten ihn in puncto Schaden für die Biodiversität auf eine Stufe mit Ratten, Katzen und [anderen] invasiven Arten.“

Scheele hat die verheerenden Auswirkungen des Pilzes selbst erlebt. An einem seiner Forschungsorte in Australien hatte ein ungewöhnlich langer El Niño für eine besonders ergiebige Brutsaison bei den örtlichen Fröschen gesorgt – so konnte sich Bd schneller und weiter verbreiten als je zuvor. Vor dem Pilzbefall waren die Australischen Laubfrösche der Art Litoria verreauxii alpina dort so zahlreich, dass Scheele nachts aufpassen musste, wo er hintrat. Mittlerweile ist es fast unmöglich, noch Exemplare zu finden.

Traurig und schockiert über diese Entwicklung beschloss er, diesen Rückgang zu beziffern. Vier Jahre – und unzählige E-Mails – später hatte Scheeles Team endlich alle bekannten Berichte über Populationsrückgänge, die vom Chytridpilz verursacht wurden, in einer einzigen Datenbank zusammengefasst. Erst dann wurden die traurigen Rekorde, die Bd und Bsal aufgestellt hatten, in ihrer Gesamtheit ersichtlich.

„Der Chytridpilz ist der verheerendste Krankheitserreger, der jemals wissenschaftlich beschrieben wurde – das ist eine ziemlich schockierende Erkenntnis“, findet Wendy Palen, eine Biologin der kanadischen Simon Fraser University in British Columbia, die für „Science“ über die Studie berichtet hat.

Diese Frösche fielen dem Chytridpilz Bd zum Opfer.
Foto von Joël Sartore, Nat Geo Image Collection

Die größte Welle des Amphibiensterbens ereignete sich in den Achtzigern, als der Pilz sich rasant über die Welt verbreitete. Aber auch Mitte der 2000er kam es zu größeren Bestandseinbrüchen in Südamerika. Viele der betroffenen Frösche leben in Mittel- und Südamerika, aber die Auswirkungen des Pilzes sind auch in Europa, Nordamerika, Australien und Afrika zu spüren. Einzig aus Asien sind keine Bestandsrückgänge bekannt – dort existiert der Pilz schon seit Millionen von Jahren.

Zu bedenken ist außerdem, dass die Zahlen aus der Studie eher konservativ sind. Frühere Bestandsrückgänge aus den Fünfzigern und Sechzigern in Europa und Nordamerika wurden aus Mangel an Daten nicht berücksichtigt. Die 501 betroffenen Arten sind außerdem nur jene, von denen die Forscher wissen. Nach wie vor entdecken und bestimmen Wissenschaftler regelmäßig neue Froscharten – selbst, wenn sie in der Wildnis schon fast ausgestorben sind.

Die Autoren der Studie hoffen, ihre Erkenntnisse werden dazu beitragen, dass der Kampf gegen diese Pandemie endlich priorisiert wird.

„Ich kann absolut verstehen, warum manche Leute glauben, dass das zu spät kommt und nicht genug ist. Da widerspreche ich aber entschieden, denn dabei wird nicht berücksichtig, wie viel schlimmer es noch werden kann“, sagt der Co-Autor der Studie, Jonathan Kolby, ein National Geographic Explorer und Mitarbeiter des U.S. Fish and Wildlife Service.

Genau deshalb drängen Forscher nun Regierungen auf der ganzen Welt dazu, den Amphibien mehr Zeit zu verschaffen, indem sie den Handel mit wilden Amphibien einschränken, Lebensräume schützen, invasive Arten bekämpfen und Zuchtprogramme fördern.

Ursprünge einer Pandemie

Es gibt hunderte Arten von Töpfchenpilzen (Chytridiomycota). Viele von ihnen ernähren sich einfach von abgestorbener organischer Materie in ihrer Umgebung. Bd bildet in dieser Hinsicht eine skurrile Ausnahme: Der Pilz hat einen unstillbaren Hunger nach den Proteinen in der Haut von Amphibien. Im frühen 20. Jahrhundert sorgten menschliche Aktivitäten – vor allem Kriege und Handel – dafür, dass sich der Pilz über die ganze Welt ausbreiten konnte.

Unterwegs entwickelte er sich weiter. So entstand ein hoch virulenter Stamm, der hauptverantwortlich für die Pandemie ist.

Einige Amphibien können mit dem Pilz leben, aber für viele ist er ein Todesurteil: Er zersetzt die Haut der Tiere, über die sie atmen und ihren Wasserhaushalt regulieren. Infektionen können dann eine tödliche Spirale in Gang setzen, die mit dem Herzstillstand endet.

BELIEBT

    mehr anzeigen
    Ein junger Madagaskarfrosch der Art Boophis sp. sitzt auf einer zarten Farnspitze. Der von National Geographic geförderte Forscher Jonathan Kolby machte diese Aufnahme, als er einen regionalen Bd-Ausbruch erforschte.
    Foto von Jonathan Kolby, Nat Geo Image Collection

    Bd ist aber nicht nur tödlich, sondern verbreitet sich auch extrem effektiv. Die meisten Krankheitserreger sind darauf ausgelegt, nur bestimmte Wirte zu befallen – Bd hingegen hat bisher mindestens 695 Arten befallen. Außerdem tötet der Pilz seine Opfer nicht schnell, was die Wahrscheinlichkeit seiner Verbreitung erhöht. Arten wie der Nordamerikanische Ochsenfrosch, für die ein Befall nicht tödlich ist, können als Pilzreservoirs dienen.

    Zusätzlich kann Bd auch über Körperkontakt und durch das Wasser übertragen werden, denn Bd-Sporen können über kurze Entfernungen schwimmen. Wenn die Bedingungen stimmen, kann der Pilz sogar Wochen oder Monate – vielleicht sogar Jahre – außerhalb seines Wirtes überleben. „In mancher Hinsicht ist es das perfekte Rezept für eine Pandemie“, sagt der Biologe Dan Greenberg, ein Doktorand an der Simon Fraser University. „Wenn das ein menschlicher Krankheitserreger wäre, würde man ihn in einem Zombiefilm sehen.“

    Wie National Geographic schon zuvor berichtet hatte, kamen die Forscher Bd nur langsam auf die Schliche. Die Wissenschaftler bemerkten den „rätselhaften Rückgang“ einiger Froschpopulationen erstmals in den Siebzigern. Allerdings erkannten sie erst in den Neunzigern, dass es sich um ein globales Phänomen handelte. Wissenschaftlich beschrieben wurde Bd dann im Jahr 1997 zum ersten Mal. Binnen eines Jahrzehnts galt er als Hauptverdächtiger im Fall des Amphibiensterbens.

    Die Co-Autorin der Studie Karen Lips, eine Ökologin von der University of Maryland, sah zu, wie sich der Pilz über Forschungsgebiete in der Wildnis ausbreitete, die sie seit 15 Jahren beobachtete. Von 2004 bis 2008 büßte eines dieser Gebiete in Panama mehr als zwei Fünftel seiner Amphibienarten ein. „Man lernt dieses System langsam kennen und plötzlich wird es völlig ausgelöscht“, erzählt sie. „Es ist einfach furchtbar, so massive Veränderungen mitansehen zu müssen.“

    Ähnliche Szenen spielten sich in den Pyrenäen in Frankreich ab. Dort verendeten Geburtshelferkröten zu Hunderten an den Ufern von Bergseen. „Zu Beginn des Ausbruchs ertönten die Rufe der Geburtshelferkröten noch in voller Lautstärke. Das war ein wunderschöner Chor. Als die Krankheitswelle dann vorübergezogen war, konnte man gar keine Rufe mehr hören“, erzählt der Co-Autor Mat Fisher, ein Epidemiologe des Imperial College London. „Die Welt war verstummt.“

    Mit allen Mitteln

    Forschern zufolge können wir die Schäden nicht mehr beheben, die Bd bereits angerichtet hat. Der Pilz hat sich schon über die ganze Welt ausgebreitet und kann aus der Umwelt nicht mehr entfernt werden. Fungizide können zwar auf befallene Amphibien in der Wildnis aufgebracht werden und ihnen helfen, aber eignen sich nicht für eine großflächige, globale Anwendung.

    Angesichts dieser Umstände besteht die beste Vorgehensweise den Autoren zufolge darin, den globalen Handel mit wilden Amphibien stark einzuschränken oder mindestens die Kontrollen bei den Tierimporten zu verschärfen. Der Haustierhandel trägt vermutlich maßgeblich zur anhaltenden Verbreitung des Krankheitserregers bei. Im letzten Jahr wies eine Studie alle Hauptstämme von Bd in Tieren aus Zoofachgeschäften nach.

    Die Froschart Mantidactylus grandidieri ist eine von vielen, die auf Madagaskar heimisch sind. Bislang scheint Bd die Insel noch nicht fest im Griff zu haben. Weltweit beobachten Wildtierbehörden die Lage wachsam, um den Befall bisher nicht betroffener Gebieten zu verhindern.
    Foto von Jonathan Kolby, Nat Geo Image Collection

    Trotz seiner Auswirkungen erhielt der Pilz bisher nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie andere Krankheiten, die wilden Tieren zusetzen, beispielsweise das White-Nose-Syndrom – eine Pilzkrankheit, die Fledermäuse befällt.

    „Wenn man sich die Zahl der betroffenen Arten ansieht, wird das [White-Nose-Syndrom] einfach dermaßen von der Zahl der Amphibien in den Schatten gestellt – und dann kann man sich mal ansehen, wie viel Geld und Mühe und Aufmerksamkeit [den Fledermäusen] beigemessen wird“, sagt Kolby. „Warum schenken wir den Fröschen nicht dieselbe Aufmerksamkeit?“

    In den USA beobachten Behörden die Situation, aber da sich Bd in den Staaten bereits so stark ausgebreitet hat, gibt es nicht viel mehr, was sie tun können. Allerdings verweisen die Forscher darauf, dass es mehrere Bd-Stämme gibt. Eine Studie aus dem Jahr 2011 lässt vermuten, dass der mit Abstand tödlichste Erregerstamm Bd GPL durch eine Hybridisierung von zwei verschiedenen Stämmen entstand.

    „Wenn wir aufhören würden, auf Regierungsebene so viel Wert auf Biosicherheit, Seuchenbekämpfung und Seuchenüberwachung zu legen, dann fällt es nicht schwer sich vorzustellen, dass wir eine weitere Hybridisierung erleben könnten“, sagt Kolby. „Dann würde alles wieder von vorn anfangen: ein neuer Stamm mit einer neuen Virulenz. Das ist es, was mir Angst macht.“

    Bei der Bekämpfung von Bsal bleibt den USA aktuell noch mehr Handlungsspielraum für ein proaktives Vorgehen. Der Pilz hat bereits europäische Salamanderbestände dezimiert, trat in den USA – ein Land mit einer besonders großen Vielfalt von Salamanderarten – jedoch bislang noch nicht auf. 2015 gründete die US-Regierung einen Arbeitskreis, der sich mit dem Bsal-Problem befassen sollte. Im darauffolgenden Jahr wurde der Import von 201 Salamanderarten bereits verboten.

    Aber nicht nur die USA haben den Kampf gegen den Pilz aufgenommen: Weltweit bemühen sich Behörden, Bsal zu bekämpfen oder einen Befall der nationalen Tierbestände zu verhindern. Forscher haben mittlerweile regionale Netzwerke etabliert, um die Ausbreitung der beiden Pilze zu überwachen. Derweil hat die Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) – gewissermaßen das tierische Äquivalent zur WHO – Empfehlungen für den Handel von Amphibien erarbeitet, die das Risiko der Bd-Ausbreitung minimieren sollen. 2015 unterzeichneten die OIE und die Vertreter es Washingtoner Artenschutzübereinkommens eine Vereinbarung, der zufolge sie enger zusammenarbeiten wollen.

    Nach wie vor besteht die Hoffnung, dass einige Arten eine Resistenz gegenüber Bd und Bsal entwickeln. Von den 292 befallenen Arten, die überlebt haben, zeigen 60 Anzeichen dafür, dass sich ihr Bestand erholt.

    Um ihnen die dringend benötigte Zeit für solche Entwicklungen zu verschaffen, müssen Scheele zufolge andere Bedrohungen für die Amphibien bekämpft werden, vom Verlust des Lebensraumes bis hin zu invasiven Arten. Darüber hinaus könnten Zuchtprogramme wie die Amphibian Ark die Zukunft einiger Arten sichern.

    Palen merkt aber an, dass solche grundlegenden Maßnahmen schon seit Jahrzehnten bekannt sind: „Es ist ziemlich ernüchternd, dass wir zu diesen recht offensichtlichen Schritten nicht in der Lage waren“, sagt sie. „Vielleicht ist das jetzt ein Weckruf.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Artenschutz

    Ground Zero der Amphibien-Apokalypse gefunden

    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved