Die Welt vor Impfstoffen darf nicht vergessen werden

Die Zahl der Masernfälle steigt wieder an. Teils liegt das an einer Art historischen Amnesie, denn viele kennen den Schrecken einer Welt ohne Impfungen nicht mehr.

Von Richard Conniff
Veröffentlicht am 13. Sept. 2019, 13:02 MESZ
Schüler der katholischen Schule St. Joan of Arc in Queens, New York, erhalten im April 1947 eine Impfung gegen Windpocken. Die Erkrankung forderte zwei Tote, ehe städtische Behörden eine Massenimpfung verordneten.
Foto von Bettmann, Getty

Wie die meisten amerikanischen Kinder meiner Generation stand ich Mitte der 1950er zusammen mit meinen Klassenkameraden Schlange, um die erste verfügbare Impfung gegen Polio zu bekommen. Die Kinderlähmung paralysierte damals noch 15.000 Menschen pro Jahr allein in den USA und tötete 1.900 weitere. Ebenso stellten wir uns für eine Impfung gegen Pocken an, an denen damals noch jährlich Millionen Menschen weltweit starben. Seither habe ich meine Impfungen beständig aufgefrischt. Im Rahmen meiner Auslandsaufträge für National Geographic habe ich mir sogar ein paar neue Impfungen gegen exotische Krankheiten wie Milzbrand, Tollwut, Japanische Enzephalitis, Typhus und Gelbfieber geben lassen.

Ich wuchs im Schatten der Kinderlähmung auf (mein Onkel ging sein Leben lang an Krücken) und habe die Masern am eigenen Leib erlebt (ich war ein Opfer des Ausbruchs von 1958 vor der Einführung der Impfung, ebenso wie 763.093 andere junge Amerikaner). Deshalb rollte ich mit Freuden den Ärmel für jede Impfung hoch, die mein Arzt und das Gesundheitsamt mir empfahlen. Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass mich Impfstoffe gesund und lebendig gehalten haben und dafür sorgten, dass ich vom Auslandsreisen ebenso gesund heimkehrte, wie ich aufgebrochen war.

QUELLEN: U.S. CENTERS FOR DISEASE CONTROL AND PREVENTION. GLOBAL POLIO ERADICATION INITIATIVE, "POLIO ENDGAME STRATEGY 2019-2023," WORLD HEALTH ORGANIZATION, 2019
Foto von Diana Marques & Monica Serrano, Ngm

Das Ergebnis meiner Bereitschaft war aber ein Dilemma, das viele Menschen teilen: Impfungen schützen uns vor Krankheiten, sorgen so aber indirekt dafür, dass wir die Krankheiten irgendwann vergessen, vor denen sie uns schützen. Sobald die Bedrohung eliminiert scheint, werden wir nachlässig. Oder schlimmer noch: Wir denken uns andere Dinge aus, um die wir uns sorgen können. Auch deshalb lassen einige wohlmeinende Eltern ihre Kinder nicht impfen, weil sie fälschlicherweise fürchten, der MMR-Impfstoff (gegen Mumps, Masern und Röteln) würde Autismus verursachen. Dabei scheint es egal, dass unabhängige wissenschaftliche Studien wiederholt gezeigt haben, dass es keinen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus gibt. Zuletzt wies das eine umfangreiche Studie nach, die in Dänemark an 657.000 Kindern durchgeführt wurde.

Historische Amnesie

Diese irrationale Angst ist der Grund dafür, dass es in den USA in diesem Jahr fast 1.200 Fälle von Masern gab – fast zwei Jahrzehnte, nachdem Gesundheitsbehörden die Krankheit stolz für ausgerottet erklärt hatten. 124 der Erkrankten, meist Kinder, mussten in Krankenhäuser eingewiesen werden. Von ihnen traten bei 64 Komplikationen wie eine Lungenentzündung oder eine Gehirnhautentzündung auf, die zu Hirnschäden oder dem Tod führen kann.

Und trotzdem scheint Autismus für viele eine größere Gefahr als Masern darzustellen, vielleicht auch nur, weil man ihn öfter in Film und Fernsehen sehen kann. Derweil hat man bessere Chancen, sich im Kino mit den Masern anzustecken, als die Krankheit auf der großen Leinwand zu sehen.

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    Und so vergessen Eltern – oder wussten es vielleicht auch nie –, dass 33 von 100.000 Masernopfern eine geistige Behinderung oder Schäden am Nervensystem durch die Erkrankung davontragen (zusätzlich zu jenen, die an den Masern sterben).

    Sie vergessen, dass wegen eines Rötelnausbruchs in den frühen Sechzigern 20.000 Kinder mit Hirnschäden und anderen angeborenen Anomalien auf die Welt kamen.

    Sie vergessen, dass die Pocken – vor ihrer Ausrottung durch Impfstoffe in den Siebzigern – viele Überlebende blind, verstümmelt oder mit Hirnschäden zurückließen.

    Eine Lösung für dieses Dilemma besteht darin, sich bewusst immer wieder in Erinnerung zu rufen, wie die Welt vor der Erfindung von Impfstoffen aussah.

    Auf meinem Impfpass findet sich beispielsweise die Dreifachimpfung gegen Tetanus, Diphtherie und Keuchhusten. Hierzulande ist Diphtherie heute selbst für viele Ärzte eine Krankheit, die sie nur noch aus Lehrbüchern kennen.

    Ein Schularzt und eine Krankenschwester impfen im März 1938 einen jungen Mann in Gasport, New York, gegen Pocken.
    Foto von Harry Chamberlain, FPG/Hulton Archive/Getty

    Vor der Entwicklung eines wirksamen Impfstoffes in den Vierzigern zählte die Krankheit aber zu den größten Schrecken der Kindheit. Mitte der 1930er starben mehr als 3.000 junge Amerikaner daran – damals waren meine Eltern gerade noch in der High School. Auch heute sterben daran noch Kinder in Venezuela, Jemen und andernorts, wo soziale oder politische Unruhen die Auslieferung vom Impfstoffen behindern.

    Neben anderen Symptomen entsteht durch die Krankheit ein gelblich-weißer Belag im Rachen, der die Luftröhre des Kindes blockieren kann, sodass es schlussendlich erstickt. Daher erhielt Diphtherie den Spitznamen „Würgeengel der Kinder“.

    In New England, wo ich lebe, ereignete sich in den 1730ern und 1740ern „die schlimmste Epidemie einer Kinderkrankheit in der amerikanischen Geschichte“, wie es ein Historiker ausdrückte. Noch schlimmer wurde sie zweifelsfrei dadurch, dass Menschen sie für eine Strafe Gottes für ihre Sünden hielten.

    Diphtherie war nicht nur gefürchtet, weil sie so schnell so viele Todesopfer forderte, sondern auch, weil sich die Kinder über Husten und Niesen so schnell anstecken konnten. Manche Familien haben diesen Prozess womöglich unwissentlich beschleunigt, indem sie ihre Kinder dazu ermutigt haben, ihrem Bruder oder ihrer Schwester auf dem Sterbebett noch einen Abschiedskuss zu geben. Wohin das führte, kann man auf den Friedhöfen von New England sehen.

    In Lancaster in Massachusetts prangen marmorierte Schiefergrabsteine über den Gräbern von sechs Kindern von Joseph und Rebeckah Mores. Ephraim, 7, starb als Erster am 15. Juni 1740, gefolgt von Hannah, 3, am 17. Juni und Jacob, 11, am Tag darauf. Alle drei wurden im selben Grab beigesetzt. Am 23. Juni starb Cathorign, 2, und am 26. Juni folgte ihre Schwester Rebeckah, 6. Das Sterben – fünf tote Kinder in nur elf Tagen – setzte lange genug aus, um den armen Eltern wohl noch einen Funken Hoffnung zu lassen. Aber zwei Monate später, am 22. August, starb auch die 14-jährige Lucy. Einige Jahre später kehrte die Diphterie oder irgendeine andere Epidemie zurück, um die drei verbliebenen Kinder der Mores zu holen.

    Der Ladenbesitzer Ghulam Ishaq aus Karatschi in Pakistan verzichtete aus Misstrauen auf die Polio-Impfung für seine Tochter. Nun gibt er sich die Schuld an dem Unglück seiner vierjährigen Rafia: Eines ihrer Beine ist durch Polio verkrüppelt, das andere brach sie sich bei einem Unfall mit einem Auto, dem sie nicht ausweichen konnte.
    Foto von William Daniels, Nat Geo Image Collection

    Joseph und Rebeckah waren keinesfalls allein mit dieser Tragödie. Auch zahlreiche andere Eltern verloren all ihre Kinder an den „Würgeengel“ Diphtherie. In einem Fall waren es sogar 12 oder 13 – in ihrer überwältigenden Trauer konnten die Eltern ihren Verlust nicht exakt beziffern. In einer einzigen Straße in Newburyport, Massachusetts, die nicht mal einen Kilometer lang war, starben 1735 im Laufe von drei Monaten 81 Kinder. Der Ort Haverhill im selben Bundesstaat büßte die Hälfte seiner Kinder ein. 23 Familien blieben nach der Epidemie kinderlos zurück.

    Folgenreiche Infektionen

    Heutzutage sind solche unsagbaren Verluste den meisten Eltern fremd, weil ihre Kinder durch Impfungen geschützt sind. Auch deshalb ist die Durchschnittsgrößte von Familien enorm geschrumpft. Die Impfungen sind auch einer der Hauptgründe dafür, dass die Lebenserwartung in Deutschland von knapp über 40 Jahren 1871 heute auf etwa 80 Jahre gestiegen ist.

    Jedes Jahr wird der Impfschutz weiter verbessert, auch wenn Begriffe wie Dreifach- oder Sechsfachimpfung nicht immer leicht erkennen lassen, vor welchen Krankheiten sie schützen. Kaum ein Elternteil wird beispielsweise schlaflose Nächte wegen des Rotavirus oder „Hib“ verbracht haben, eine Abkürzung für eine Haemophilus influenzae b-Infektion.

    Aber als der Arzt Paul Offit seine Karriere in den 1970ern begann, „beherrschte Hib meine gesamte Assistenzzeit“, erzählt er. Die Erkrankung zieht nicht selten eine Hirnhautentzündung nach sich und kann mit Lungenentzündung und einer Blutvergiftung einhergehen. In der Notaufnahme landeten so häufig Kinder mit dieser bakteriellen Infektion, dass das Krankenhaus einen besonderen abgedunkelten Raum mit einem Aquarium für sie vorbereitet hatte. Dort konnten sie in Ruhe warten, während ein Anästhesist herbeigeeilt kam und das Chirurgenteam die OP vorbereitete. Das Problem war, dass sich das Kind nicht zu sehr aufregen oder ängstigen durfte. Sonst könnte der geschwollene Kehldeckel sich verkrampfen und die Luftröhre blockieren,

    „Ich hatte viele schmerzliche Unterhaltungen mit Eltern, deren Kinder sich eine Hirnhautentzündung oder Blutvergiftung zugezogen hatten“, erinnert sich Offit. „Oft trugen die Kinder bleibende Hörschäden oder geistige oder körperliche Behinderungen davon.“

    Der Arzt Stanley Plotkin begann seine Ausbildung in den Fünfzigern. Sechzig Jahre später erinnert er sich immer noch daran, wie er hilflos zusehen musste, als ein an Hib erkranktes Kind ihm „unter den Händen wegstarb“. Eine Tracheotomie – ein Luftröhrenschnitt unterhalb der Blockade – konnte manchmal helfen. „Aber damals war ich ein Assistenzarzt und wusste nicht, wie man eine Tracheotomie durchführt.“

    Labortechniker untersuchen Proben von Rotaviren, die bei Kindern schwere Durchfallerkrankungen auslösen. Jedes Jahr erkranken Millionen von Menschen daran. In den ärmsten Ländern Afrikas und Südasiens töten die Viren Hunderttausende.
    Foto von William Daniels, Nat Geo Image Collection

    Heutzutage müssen Ärzte und Eltern nicht mehr in ständiger Angst vor Hib leben. Ein Impfstoff, der in den Neunzigern auf den Markt kam, senkte die Erkrankungsrate in den USA um 99 Prozent – von 200.000 Fällen pro Jahr auf teils weniger als 30.

    Auch von Rotaviren haben viele Eltern vermutlich nie gehört. Vor der Entwicklung eines Impfstoffes infizierte sich damit früher oder später so gut wie jedes Kind bis zum fünften Lebensjahr. Die Viren waren für 40 Prozent aller Todesfälle von Kindern verantwortlich, die durch schwere Durchfallerkrankungen zustande kamen. In den USA starben ohne ärztliche Behandlung zwischen 20 und 60 Kinder pro Jahr an Rotaviren. Auch heute noch sorgen sie weltweit für etwa 500.000 Tote jährlich.

    Fakten kennen, Risiken abwägen

    Natürlich ist es richtig, dass auch Impfungen Risiken bergen – wie alles auf der Welt. Das reicht von häufigen Nebenwirkungen wie Schmerzen an der Einstichstelle bis zu enorm seltenen, darunter potenziell lebensgefährliche allergische Reaktionen. In der medizinischen Forschung werden solche Risiken allerdings überwacht und eingeordnet. Eine Studie des CDC aus dem Jahr 2016 untersuchte beispielsweise 25,2 Millionen Impfungen in einem Zeitraum von drei Jahren. Dabei entdeckten die Forscher 33 Fälle einer schweren allergischen Reaktion, die durch den Impfstoff ausgelöst wurde. Das sind hochgerechnet 1,3 Fälle auf eine Million Impfungen.

    Die Kinder auf Vashon Island im US-Bundesstaat Washington, wo viele Eltern ein großes Misstrauen gegenüber „Chemie“ an den Tag legen, galten lange als Aushängeschild für die Impfgegnerbewegung. Mittlerweile steigen die Impfraten dort aber wieder an, nachdem es mehrere Masernausbrüche und Kampagnen von Gesundheitsämtern gab.
    Foto von Richard Barnes, Nat Geo Image Collection

    Wie sollten Eltern über solche Risiken denken? Macht es überhaupt Sinn, sein Kind vor jeglichen medizinischen Risiken schützen zu wollen? Oder sollte man nicht viel eher –in Rücksprache mit einem Arzt – das relative Risiko abwägen? Was wäre für das Kind schlimmer: Die verschwindend geringe Chance einer allergischen Reaktion oder eine Infektion mit Hib, Rotaviren, einer Lungenentzündung oder Windpocken – die 1994 trotz ihres harmlosen Rufes 100 bis 150 amerikanische Kinder getötet haben, ein Jahr vor der Zulassung des Impfstoffs? Was wäre schlimmer: Ein völlig fiktiver Zusammenhang zwischen Masernimpfungen und Autismus – der mittlerweile sogar von jenem Fachmagazin als falsch anerkannt wird, welches die Studie ursprünglich veröffentlichte – oder Kinder tagtäglich der Gefahr einer Maserninfektion auszusetzen, mit allen potenziell tödlichen Folgen?

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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