Die schnelle, tödliche Geschichte der Spanischen Grippe

Vor einhundert Jahren infizierte ein Virus ein Drittel der Weltbevölkerung. Die Pandemie tötete allein im Oktober 1918 195.000 Amerikaner.

Von Toby Saul
Veröffentlicht am 27. Feb. 2018, 17:30 MEZ
Die ersten offiziellen Fälle der Spanischen Grippe von 1918 wurden im US-Militärcamp Funston in Kansas dokumentiert, ...
Die ersten offiziellen Fälle der Spanischen Grippe von 1918 wurden im US-Militärcamp Funston in Kansas dokumentiert, wo Patienten in dieser improvisierten Klinik behandelt wurden.
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Der Wissenschaftler Johan Hultin reiste im Sommer 1997 nach Brevig Mission, einem kleinen Ort in Alaska. Er war auf der Suche nach bestatteten Leichen und der gefrorene Boden in Alaska war der perfekte Ort, um sie zu finden. Er grub sich – mit Genehmigung der örtlichen Behörden – durch den Permafrostboden und entdeckte schließlich eine Frau, die vor beinahe 80 Jahren gestorben war. Ihr Körper war hervorragend erhalten. Hultin beabsichtigte, ihn zur Entschlüsselung des genetischen Codes des Virus zu nutzen, das 90 Prozent der Bevölkerung der Ortschaft ausgelöscht hatte - inklusive dieser Inuit-Frau.

Brevig Mission war nur einer der zahlreichen Orte, die Teil einer der schlimmsten Tragödien wurden, die die Menschheit je heimgesucht hat: Die Grippepandemie von 1918/19. Das Influenzavirus, das die Spanische Grippe auslöste, breitete sich mit unglaublicher Schnelligkeit auf der ganzen Welt aus. Es überschwemmte Indien und erreichte sogar Australien und die abgelegenen Pazifischen Inseln. Innerhalb von nur 18 Monaten war mindestens ein Drittel der Weltbevölkerung infiziert. Schätzungen der exakten Todeszahlen variieren stark, von 20 über 50 bis zu 100 Millionen Toten. Wenn die höchsten geschätzten Zahlen zutreffen, tötete die Pandemie von 1918 mehr Menschen als die beiden Weltkriege zusammen.

Biologen vom St Bartholomew’s Hospital in London analysieren Hirn- und Lungengewebe von Opfern der Pandemie von 1918. Dies ist Teil einer globalen Zusammenarbeit, die es zum Ziel hat, das Virus zu verstehen. Hier liegen auf Wachs aufgebrachte Gewebeproben auf einer Namensliste von Kindern, die der Influenza von 1918 zum Opfer gefallen sind.
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Krieg und Krankheit

Mehrere nah miteinander verwandte Virusarten können eine Influenza auslösen, aber ein Stamm (Typ A) wird im Speziellen mit tödlichen Epidemien in Verbindung gebracht. Auch die Pandemie von 1918/19 wurde von einem Influenza-A-Virus verursacht, auch bekannt als H1N1. Obwohl die Krankheit als Spanische Grippe bekannt wurde, traten die ersten dokumentierten Fälle im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs in den USA auf.

Im März 1918 führten die Vereinigten Staaten bereits seit elf Monaten Krieg gegen Deutschland und die Mittelmächte. Während dieser Zeit war die vormals kleine Streitmacht der USA zu einer riesigen Kampftruppe angewachsen, die letztendlich mehr als zwei Millionen Männer nach Europa entsenden würde.

Die Militärbasen in Amerika wurden massiv vergrößert, als sich die gesamte Nation für den Krieg mobilisierte. Eine dieser Basen war Fort Riley in Kansas, auf der Camp Funston als neue Trainingseinrichtung gebaut wurde. 50.000 Männer konnten hier zur militärischen Ausbildung stationiert werden. Das war der Ort, an dem am 4. März ein Soldat mit Fieber auf die Krankenstation gebracht wurde. Innerhalb weniger Stunden erkrankten mehr als einhundert weitere Soldaten mit ähnlichen Symptomen. In den darauffolgenden Wochen stiegen die Fallzahlen weiter. Im April trafen weitere amerikanische Truppen in Europa ein und brachten das Virus mit sich. Die erste Welle der Pandemie war angekommen.

Vom französischen Brest aus verbreitete sie die Grippe über den Kontinent – und gelangte so auch nach Deutschland.

BELIEBT

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    Tödliche Geschwindigkeit

    Die Spanische Grippe tötete ihre Opfer mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit. In den USA kursierten Geschichten von Menschen, die krank aufgewacht waren und noch auf dem Weg zur Arbeit starben. Die Symptome waren grauenvoll: Die Betroffenen litten unter Fieber und Kurzatmigkeit. Der Sauerstoffmangel ließ ihr Gesicht bläulich anlaufen. Lungenblutungen verursachten heftiges Erbrechen und Nasenbluten. Die Opfer ertranken in ihren eigenen Körperflüssigkeiten. Anders als viele andere Influenzastämme zuvor attackierte die Spanische Grippe nicht nur die ganz Jungen und ganz Alten, sondern auch gesunde Erwachsene zwischen 20 und 40 Jahren.

    Der Hauptfaktor für die Ausbreitung des Virus die letzte Phase des Krieges. Epidemiologen diskutieren noch immer über den tatsächlichen Ursprung des Virus, aber es gibt einen gewissen Konsens, dass er das Resultat einer genetischen Mutation war, die womöglich in China erfolgte. Sicher ist jedoch, dass sich der neue Stamm nur aufgrund der massiven und schnellen Truppenbewegungen global ausbreiten konnte.

    Das Drama des Kriegs diente also auch dazu, die ungewöhnlich hohe Todesrate des neuen Virus zu vertuschen. In diesem frühen Stadium wusste man noch nicht viel über die Krankheit und die Tode wurden oft Lungenentzündungen zugeschrieben.

    Wissen kompakt: Die Lunge
    Die Lunge liefert für den Körper den lebenswichtigen Sauerstoffnachschub. Aber wie genau gelangt er von der Lunge in den Körper, was ist ein Emphysem und warum kann man noch weiteratmen, wenn die Lunge verletzt wird?

    Strikte Zensur während des Kriegs hatte zur Folge, dass die Presse in Europa und Nordamerika nicht über die Ausbrüche berichten konnte. Während die Kaiserliche Armee und die US-Truppen ihre letzten Schlachten austrugen, wurde die Krankheit buchstäblich offiziell totgeschwiegen. Man wollte dem Feind nicht signalisieren, dass die eigenen Soldaten im Lazarett lagen. Nur im neutralen Spanien durfte die Presse über die Katastrophe berichten – daher der Name: Spanische Grippe.

    Das eigentliche Massensterben in Europa begann jedoch erst mit der zweiten Welle im August 1918. Das Virus war erneut mutiert.

    Als die Grippe immer mehr Opfer forderte, trafen die Städte der USA Vorkehrungen, um ihre Ausbreitung einzudämmen. Die Theater in Chicago hängten Poster wie diese auf, um die Ausbreitung zu verlangsamen. Die Stadt richtete Quarantänekontrollen auf der Naval Station Great Lakes ein und erlegte Menschen eine Geldstrafe auf, die niesten, ohne ihren Mund zu bedecken. Nach Oktober 1918 stiegen die Todesfälle sprunghaft an und die Behörden im ganzen Land begannen nach und nach, Theater und andere öffentliche Orte zu schließen.
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    Die zweite Welle

    Die überfüllten Schützengräben und Feldlager des Ersten Weltkriegs wurden zur perfekten Brutstätte für die Krankheit. Wenn sich die Truppen bewegten, reiste die Infektion mit ihnen. Die Welle, die in Kansas begonnen hatte, ebbte nach einigen Wochen wieder ab. Aber es war nur eine kurze Atempause. Im September 1918 war die Epidemie bereit für ihre tödlichste Phase.

    Die 13 Wochen zwischen September und Dezember 1918 waren vermutlich der Zeitraum, der die meisten Todesopfer forderte. Mindestens 195.000 Amerikaner starben allein im Oktober. Zum Vergleich: Die Verluste der amerikanischen Truppen durch Kampfhandlungen beliefen sich auf etwas über 116.000 Soldaten. Erneut waren die überfüllten Militäreinrichtungen der Ort, an dem sich die zweite Grippewelle festsetzte. Im September wurde in Camp Devens, einer Militärbasis in Massachusetts, ein Ausbruch mit 6.674 Toten dokumentiert.

    Eine vergrößerte Darstellung des H1N1-Virus, das für die Pandemie von 1918 verantwortlich war.
    Foto von Spl, AGE Fotostock

    Als die Krise ihren Höhepunkt erreichte, waren die medizinischen Einrichtungen überfordert. Bestatter und Totengräber kamen kaum mit der Arbeit nach und Einzelbegräbnisse wurden unmöglich. Viele der Toten endeten in Massengräbern. Ende 1918 gab es  erneut eine kurze Ruhepause, ehe im Januar 1919 die dritte und finale Phase begann. Zu diesem Zeitpunkt schritt die Krankheit schon wesentlich schwächer voran. Die Katastrophe vom Herbst und Winter des Vorjahres wiederholte sich nicht und die Todesraten sanken.

    Obwohl die letzte Welle wesentlich weniger Menschen tötete, war der Schaden enorm. Australien entkam bis 1919 den schlimmsten Auswirkungen der Grippe, indem es unverzüglich Quarantänebestimmungen erließ. Als die Krankheit schließlich den Kontinent erreichte, fielen ihr dennoch einige Tausend Australier zum Opfer.

    Die Spanische Grippe erreichte Australien erst im Jahr 1919. Quarantäne-Camps wie dieses in Wallangarra, Queensland, wurden errichtet, um die Krankheit zu behandeln und einzudämmen.
    Foto von Paul Fearn, Alamy, ACI

    Die generelle Entwicklung der Todesrate war jedoch sinkend. Noch bis 1920 gab es Todesfälle durch Influenza – möglicherweise ein anderer Stamm –, aber im Sommer 1919 konnte die Gesundheitspolitik und die natürliche genetische Mutation des Virus der Pandemie ein Ende setzen. Trotzdem waren ihre Auswirkungen für jene, die Angehörige verloren hatten oder unter gesundheitlichen Folgeschäden litten, für die nächsten Jahrzehnte eine stete Erinnerung an das Grauen.

    Prominente Opfer der Spanischen Grippe in Deutschland waren unter anderem der Maler Egon Schiele und seine Frau, der Soziologe Max Weber, die Schriftstellerin Margit Kafka sowie Frederick Trump, der Großvater von Donald Trump.

    • TÖDLICHER KONTAKT  Epidemien sind so alt wie die Zivilisation: Hinweise auf die Pocken finden sich schon an ägyptischen Mumien aus dem 12. Jahrhundert v. Chr. Durch zunehmenden Kontakt konnten sich Krankheiten schneller ausbreiten. Im 6. Jahrhundert n. Chr. breitete sich die Justinianische Pest entlang von Handelsrouten aus und tötete 25 Millionen Menschen in Asien, Afrika, Arabien und Europa. Acht Jahrhunderte später löschte der Schwarze Tod 60 Prozent der europäischen Bevölkerung aus. Als die Europäer sich im 16. und 17. Jahrhundert in Amerika niederließen, brachten sie die Pocken, Grippe und Masern in das Land der Ureinwohner, wodurch vermutlich 90% der indigenen Bevölkerung starb.

    Ein bleibender Eindruck

    Die Pandemie verschonte beinahe keinen Teil der Welt. In Großbritannien starben 228.000 Menschen. Die USA verloren insgesamt fast 675.000 Menschen, Japan um die 400.000. Die Insel Samoa im Südpazifik verlor ein Fünftel ihrer Bevölkerung. Wissenschaftler vermuten, dass allein in Indien die Zahlen der Todesopfer zwischen 12 und 17 Millionen lagen. Genaue Daten zu den Opferzahlen gibt es nicht, aber die globalen Todeszahlen liegen vermutlich bei 10 bis 20 Prozent der Infizierten.

    Im Jahr 1997 trugen die Proben von der Frau aus dem kalten Massengrab in Brevig Mission zu den Erkenntnissen darüber bei, wie das Grippevirus mutiert war und sich ausbreiteten konnte. Medikamente und verbesserte öffentliche Hygiene – in Kombination mit internationalen Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation und nationalen Behörden – verschaffen der internationalen Gemeinschaft eine wesentlich bessere Position, sollte es noch einmal zu einem solchen Ausbruch kommen. Wissenschaftler wissen jedoch, dass es jederzeit wieder zu einer tödlichen Mutation kommen kann. Ein Jahrhundert nach der schlimmsten Pandemie aller Zeiten wären die Auswirkungen auf die überbevölkerte, dicht vernetzte Welt wohl verheerend.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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