Meeresreptil-Fossil mit 4 m langer Beute im Magen verblüfft Forscher

Eigentlich dachten Forscher, prähistorische Ichthyosaurier hätten sich von kleinen Kopffüßern ernährt. Es neues Fossil deutet nun aber darauf hin, dass sie frühe „Megaprädatoren“ waren.

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 25. Aug. 2020, 19:20 MESZ
Besanosaurier

Diese Illustration zeigt eine Gruppe von Besanosauriern. Sie sind eine Gattung von Ichthyosauriern – urzeitlichen Meeresreptilien, die Delfinen ähnelten. Laut einer Studie versteinerte ein naher Verwandter des Besanosaurus, der Guizhouichthyosaurus, mitsamt seiner letzten Mahlzeit im Meeresboden.

Foto von Fabio Manucci (Illustration)

Vor etwa 240 Millionen Jahren verschlang ein gewaltiges Meeresreptil ein anderes, nicht ganz so gewaltiges Reptil und starb kurz darauf. Das größere Tier – ein Ichthyosaurus – versteinerte mit dem kleineren Lebewesen in seinem Bauch.

Die beiden Reptilien blieben bis 2010 im Gestein eingeschlossen, als Wissenschaftler im Südwesten Chinas mit der Ausgrabung des Fossils begannen. Den Forschern zufolge könnte vieles von dem, was wir über Leben und Tod im prähistorischen Ozean zu wissen glaubten, durch diesen urzeitlichen „Turducken“ auf den Kopf gestellt werden. Für Uneingeweihte: Ein Turducken ist eine kulinarische Kuriosität aus den USA, die durch das Backen eines entbeinten Huhns (Chicken) im Inneren einer entbeinten Ente (Duck) im Inneren eines entbeinten Truthahns (Turkey) entsteht.

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Bei dem einzigartigen Fossil ist das kleinere Tier im Bauch des Ichthyosauriers ein Thalattosaurus – ein ausgestorbenes Meeresreptil mit einem langen, dünnen Körper, der eher einer Eidechse als einem Fisch ähnelte. Als der Paläontologe Ryosuke Motani von der University of California in Davis feststellte, dass ein fast vollständiger Torso eines vier Meter langen Thalattosaurus im Bauch eines fünf Meter langen Ichthyosaurus steckte, wusste er, dass sein Team an etwas Bahnbrechendem arbeitete. Eine Studie, die das Fossil beschreibt, wurde im Fachmagazin „iScience“ veröffentlicht.

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    Dieses Thalattosaurus-Exemplar wurde im Magen eines Ichthyosauriers gefunden.

    Foto von Jiang et al

    Ichthyosaurier atmeten Luft und brachten lebende Junge zur Welt. Während einige Arten fast so lang wie ein Blauwal wurden, waren frühe Ichthyosaurier wie der Guizhouichthyosaurus, den Motani untersuchte, mit vier bis fünfeinhalb Metern deutlich kleiner. Man nimmt an, dass diese urzeitlichen Schwimmer mit ihren Mäulern voller stumpfer Zähne kalmarähnliche Kopffüßer erbeutet haben. Tatsächlich ging man davon aus, dass keines der zu dieser Zeit lebenden Meerestiere Jagd auf große Beute machte. Mit echten Spitzenräubern in den Ozeanen rechneten die Wissenschaftler erst viel später.

    Ambitionierte Jäger des Mesozoikums

    Doch laut Motani lässt das neu beschriebene Fossil vermuten, dass die frühen Ichthyosaurier zu den ersten „Megaprädatoren“ des Mesozoikums gehörten – also große Raubtiere, die andere große Tiere fraßen. „Sie ernährten sich von Tieren, die größer waren als der Mensch“, sagt er.

    Die Rekonstruktion eines Ereignisses, das vor Hunderten von Millionen Jahren stattfand, bringt diverse Herausforderungen mit sich. Zunächst einmal mussten Motani und sein Team beweisen, dass der Ichthyosaurus tatsächlich den Thalattosaurus gefressen hat und das kleinere Meeresreptil nicht einfach nur durch bloßen Zufall auf dem Ichthyosaurus versteinerte.

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    „Glücklicherweise gibt es in diesem Fall einen Weg, das zu erkennen“, sagt er. Der Brustkorb des Ichthyosauriers liegt über dem Beutetier, was darauf hinweist, dass der Thalattosaurier tatsächlich eine Mahlzeit war. Aber welche Art von Mahlzeit – auch das ist eine wichtige Frage. Der Ichthyosaurier könnte schließlich auch den Kadaver eines Thalattosauriers, der auf andere Weise starb, gefressen haben.

    Im Inneren des Ichthyosauriers fanden Motani und seine Kollegen jedoch zwei lange, intakte Abschnitte von Thalattosaurier-Wirbeln. Diese versteinerten Knochen deuten darauf hin, dass die Wirbelsäule zum Zeitpunkt des Verzehrs noch durch Bindegewebe zusammengehalten wurde. Im Falle von Aas wäre die Mahlzeit eher eine breiige, verfaulte Masse gewesen.

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    Schädel und Schwanz des Thalattosauriers fehlen im Mageninhalt. Das Team entdeckte allerdings ein Stück eines Thalattosaurier-Schwanzes etwa 20 Meter vom Ichthyosaurier-Fossil entfernt. Zwar gibt es keine Möglichkeit, zu beweisen, dass das Schwanzfragment und der gefressene Saurier zusammengehören, aber „die Sache ist, dass die Größe dieses Schwanzes genau richtig ist“, sagt Motani.

    Die beste Einschätzung des Teams ist, dass der Ichthyosaurus den Thalattosaurus wahrscheinlich an der Wasseroberfläche angegriffen und getötet hat. Dann hätte sich das Raubtier darangemacht, den Kadaver im Ganzen oder in sehr großen Stücken zu verschlingen, so wie ein Alligator seine Beute frisst. Durch das Reißen an der Beute und ruckartige Bewegungen haben sich Hals und Schwanz des Thalattosauriers womöglich gelöst und drifteten davon, während der Ichthyosaurier die größten, fleischigsten Brocken der Beute hinunterschlang.

    Dieses Bild zeigt das Ichthyosaurier-Exemplar, dessen Mageninhalt sichtbar aus dem Körper herausragt.

    Foto von Ryosuke Motani

    Da wir nicht in der Zeit zurückreisen können, um uns prähistorische Mahlzeiten anzusehen, versuchen Forscher oft anhand der Zähne herauszufinden, was ein Tier gefressen haben könnte. Im Fall der frühen Ichthyosaurier deuteten ihre stumpfen, kegelförmigen Zähne auf eine Vorliebe für zartere Mahlzeiten hin. Größere Raubtiere haben hingegen oft eher scharfe, gezackte Zähne.

    Aber das neu gefundene Fossil zeigt, dass sich Wissenschaftler nicht immer nur auf die Zahnform verlassen können, um vorherzusagen, was eine bestimmte Art gefressen haben könnte, sagt Stephen Brusatte. Der Paläontologe von der University of Edinburgh in Großbritannien war nicht an der Studie beteiligt. Anstatt nur glibberige Kopffüßer anzuknabbern, könnten einige frühe Ichthyosaurier sich an deutlich robustere Beute getraut haben.

    „Manchmal zeigen uns die Details eines solchen prähistorischen Tatorts, dass eine Waffe viel gefährlicher war, als wir dachten“, sagt Brusatte.

    Letzte Mahlzeit eines Ichthyosaurus

    Versteinerte Mageninhalte seien extrem seltene Funde, sagt Jessica Lawrence Wujek, eine Geologin und Paläontologin am Howard Community College in Maryland. Lawrence Wujek, die an der Studie nicht beteiligt war, hat bereits Hunderte von Ichthyosaurier-Exemplaren untersucht. Ihr zufolge fand man vielleicht in ein oder zwei von ihnen versteinerten Mageninhalt, der als Bromalit bezeichnet wird.

    „Es kommt einfach nicht sehr oft vor, dass Mageninhalte erhalten bleiben, besonders so große Dinge in einem solchen Magen“, sagt Lawrence Wujek. „Es ist ein großartiges Fossil.“

    Da die Thalattosaurierknochen keine sichtbaren Anzeichen einer Verdauung zeigen, scheint es wahrscheinlich, dass der Ichthyosaurier fast unmittelbar nach seiner Mahlzeit starb. Das Schwanzfragment, das sich in der Nähe absetzte und versteinerte, ist in etwa so alt wie der Ichthyosaurus – ein weiterer Hinweis darauf, dass das Tier kurz nach dem Verschlingen seiner großen Beute verschied.

    Der Thalattosaurus war zwar fast so lang wie der Ichthyosaurus, dafür aber nur ein Achtel so schwer, schätzt Motani. Trotzdem war er eine wehrhafte Beute.

    „Das ist natürlich reine Spekulation, aber vielleicht wurde während dieses Kampfes ein Teil des Halses [des Ichthyosauriers] verletzt“, sagt er. Eventuell verschlimmerte sich diese mutmaßliche Verletzung noch, als die Beute zuckte und zappelte, während das Raubtier sie zu verschlingen versuchte.  

    Leben nach dem Massenaussterben

    Neben dem Reiz der prähistorischen Meerestiere, die in einen tödlichen Kampf verwickelt sind, verdeutliche das Fossil auch, wie schnell sich die Ökosysteme erholen können, sagt Aubrey Jane Roberts. Die Paläontologin der Universität Oslo in Norwegen erforscht urzeitliche Meeresreptilien und war nicht an der neuen Studie beteiligt.

    Wissen kompakt: Ichthyosaurier
    Die Ichthyosaurier, deren Name „Fischechse“ bedeutet, dominierten Millionen Jahre lang die Meere unseres urzeitlichen Planeten.

    „Vor etwa 252 Millionen Jahren gab es ein gewaltiges Massensterben, von dem besonders das Meer betroffen war“, sagt Roberts, ein National Geographic Explorer. „Neunzig Prozent aller marinen Arten starben aus.“ Angesichts des Ausmaßes dieses Verlustes ist es erstaunlich, dass sich das Leben innerhalb von nur wenigen Millionen Jahren wieder erholen und diversifizieren konnte, so Roberts. Aber besonders beeindruckend sei, dass sich ein Megaprädator-Verhalten wie das des Ichthyosauriers so bald nach dem Massensterben gezeigt hätte. Wissenschaftler gehen davon aus, dass Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette zu den letzten Tieren gehören, die sich entwickeln, wenn sich die Nahrungsnetze wieder aufbauen. (Sind Massenaussterben ein wiederkehrendes Phänomen?)

    „Deshalb ist diese Studie so wichtig“, sagt Roberts. „Sie erzählt eine Geschichte darüber, wie sich die Meere nach einer praktisch vollständigen Zerstörung erholten und zu einem vollständig entwickelten Ökosystem wurden.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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