Exklusiv | Spinosaurus schreibt Geschichte: Der erste schwimmende Dinosaurier der Welt

Ein neu entdecktes Schwanzfossil des massigen Raubsauriers, Knochenpaddel inklusive, aktualisiert unser Bild von der Lebensweise – und den Lebensräumen – der Dinosaurier.

Von Michael Greshko
bilder von Paolo Verzone
Veröffentlicht am 29. Apr. 2020, 17:01 MESZ
Zwei Spinosaurus aegyptiacus machen Jagd auf prähistorische Onchopristis-Sägefische. Vor 97 Millionen Jahren bedeckte ihr heimisches Flusssystems ...

Zwei Spinosaurus aegyptiacus machen Jagd auf prähistorische Onchopristis-Sägefische. Vor 97 Millionen Jahren bedeckte ihr heimisches Flusssystems das Gebiet des heutigen Marokko. Neu entdeckte Fossilien vom Schwanz des Dinosauriers zeigen, dass er ein guter Schwimmer war. Das stützt die These, dass Spinosaurus den Großteil seiner Zeit im Wasser verbrachte.

Foto von Jason Treat, NG Staff und Mesa Schumacher Gestaltung: Davide Bonadonna Quelle: Nizar Ibrahim, University of Detroit Mercy

CASABLANCA, Marokko. Am Ende eines schummrigen Gangs der Université Hassan II. betrete ich einen staubigen Raum, in dem ein paar einzigartige Fossilien liegen – versteinerte Knochen, die fundamentale Fragen über Spinosaurus aegyptiacus aufwerfen. Es ist einer der seltsamsten Dinosaurier, die je entdeckt wurden.

Mit mehr als 16 Metern von Schnauze bis Schwanzspitze war der sieben Tonnen schwere Räuber länger als ein ausgewachsener Tyrannosaurus rex. Auf seinem Rücken prangte eine Art großes Segel, und sein längliches, krokodilhaftes Maul war mit kegelförmigen Zähnen besetzt. Jahrzehntelang endeten Rekonstruktionen seines massigen Körpers stets in einem langen, schmalen Schwanz, wie ihn viele seiner verwandten Theropoden hatten.

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Die rotbraunen Überreste, die nun vor mir legen, gestalten dieses Bild neu. Die Knochen ergeben einen fast vollständigen Schwanz – der erste, der je gefunden wurde. Er ist so lang, dass fünf Tische aneinandergeschoben werden mussten, um ihn zu tragen. Und zu meiner Überraschung endet er in einer Art riesigem Knochenpaddel.

Dieser Schwanz, der im Fachmagazin „Nature“ beschrieben wurde, ist die extremste Anpassung an ein Leben im Wasser, die wir bisher von großen Dinosauriern kennen. Seine Entdeckung in Marokko wirft neue Fragen darüber auf, wie eine der dominantesten Gruppen von Landtieren in der gesamten Erdgeschichte lebte.

Fast 60 Zentimeter lange, dünne Streben ragen aus zahlreichen Wirbeln des Schwanzes hervor und lassen ihn wie ein großes Ruder wirken. Zum Schwanzende hin verschwinden schnrittweise die Knochenwülste, an denen die angrenzenden Wirbel ineinandergreifen. Dadurch konnte sich die Schwanzspitze vor und zurück schlängeln und das große Tier im Wasser antreiben. Die Anpassung half dem Spinosaurus vermutlich dabei, sich durch das weite Flussökosystem zu bewegen, in dem er zu Hause war – oder eventuell großen Fischen nachzujagen, von denen er sich wahrscheinlich ernährte.

„Das war im Grunde ein Dinosaurier, der versuchte, einen Fischschwanz auszubilden“, sagt der National Geographic Explorer Nizar Ibrahim, der leitende Forscher für die Untersuchung des Fossils.

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    Die Struktur der Knochen liefert – zusammen mit Robotermodellen der Schwanzbewegungen –  neue und überzeugende Erkenntnisse zu einer Frage, die Paläontologen seit Jahren diskutieren: Wie viel Zeit verbrachte Spinosaurus tatsächlich mit Schwimmen – und daraus abgeleitet: Wie nah kamen große Raubsaurier einem Leben im Wasser? 2014 stellten Wissenschaftler unter der Leitung von Ibrahim die These auf, dass das Raubtier der erste bestätigte Dinosaurier war, der teilweise im Wasser gelebt hat. Die Hypothese traf auf Widerspruch von Fachkollegen, die infrage stellten, ob das von Ibrahims Team untersuchte Fossil tatsächlich von einem Spinosaurus stammte – oder überhaupt von einem einzigen Tier.

    Der Paläontologe Samir Zouhri von der Université Hassan II. durchsucht eine Stätte bei Sidi Ali in Marokko nach weiteren Fossilien aus der Zeit von Spinosaurus.

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Als Spinosaurus während der Kreidezeit vor 95 bis 100 Millionen Jahren lebte, hatten sich bereits mehrere Gruppen von Reptilien auf ein Leben im Meer angepasst, beispielsweise die delfinartigen Ichthyosaurier und die langhalsigen Plesiosaurier. Aber diese Meeresbewohner des Dinosaurierzeitalters befinden sich auf einem anderen Ast des Familienstammbaums der Reptilien. Echte Dinosaurier wie Spinosaurus galten lange als reine Landbewohner.

    Mit den Erkenntnissen aus der neuen Analyse des Schwanzes liegen nun starke Anhaltspunkte dafür vor, dass Spinosaurus nicht nur im flachen Küstenwasser spazieren ging, sondern auch schwimmen konnte. Die veröffentlichten Befunde deuten darauf hin, dass Spinosaurus viel Zeit unter Wasser verbrachte. Womöglich machte er dort Jagd auf große Beute wie Krokodile. „Dieser Schwanz ist eindeutig“, sagt das Teammitglied Samir Zouhri, ein Paläontologe der Université Hassan II. „Dieser Dinosaurier ist geschwommen.“

    Andere Wissenschaftler, die die neue Studie begutachtet haben, stimmen darin überein, dass der Schwanz ein paar Zweifel ausräumt und gute Argumente für einen semiaquatischen Spinosaurus liefert.

    „Das ist zweifelsfrei eine kleine Überraschung“, findet der Paläontologe Tom Holtz von der University of Maryland, der an der Studie nicht beteiligt war. „Spinosaurus war sogar noch seltsamer als gedacht.“

    Die Teammitglieder Simone Maganuco, Nizar Ibrahim und Cristiano Dal Sasso untersuchen einen Schwanzwirbel des Spinosaurus. „Für mich ist die Erforschung eines fossilen Tieres sowas wie eine Erschaffung“, sagt Dal Sasso, ein Paläontologe am Naturkundemuseum von Milan. „Man muss ein Tier anhand von Bruchstücken wiederbeleben.“

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Lange Knochenstäbe ragen aus den Schwanzwirbeln des Spinosaurus. Zu Lebzeiten vergrößerten die mit Haut bedeckten Stäbe die Oberfläche des Schwanzes und verliehen ihm die Form eines Paddels.

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Fossilien im Bombenhagel

    Die Geschichte des Spinosaurus ist fast genauso ungewöhnlich wie der neu entdeckte Schwanz. Es ist ein Abenteuer, das von ausgebombten deutschen Museen bis zu der marsähnlichen Sandsteinlandschaft der marokkanischen Sahara führt.

    Die Überreste des merkwürdigen Tiers wurden der Vergessenheit vor mehr als einem Jahrhundert entrissen. Damals organisierte der bayerische Paläontologe und Aristokrat Ernst Freiherr Stromer von Reichenbach von 1910 bis 1914 eine Reihe von Expeditionen nach Ägypten. Im Rahmen dieser Unterfangen wurden Dutzende Fossilien freigelegt, darunter auch Teile eines Tieres, das er später Spinosaurus aegyptiacus taufte. In seiner ersten veröffentlichten Beschreibung konnte er sich keinen Reim auf die Anatomie des Tieres machen. Er spekulierte, dass seine Eigenheiten „für eine gewisse Spezialisierung“ sprächen. Stromer von Reichenbach stellte sich ein Tier vor, das ähnlich wie ein T. rex auf seinen Hinterbeinen stand und einen stachelbewährten Rücken hatte. Als die Fossilien im Paläontologischen Museum München ausgestellt wurden, brachten sie Stromer viel Anerkennung.

    Der Paläontologe Cristiano Dal Sasso hält vorsichtig den vierten Schwanzwirbel des Spinosaurus fest – einer der vollständigsten Wirbel, die das Team gefunden hat.

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Während des Zweiten Weltkriegs veranlassten die Bombardierungen durch die Alliierten Stromer – einen erklärten Kritiker des Naziregimes – dazu, den Museumsdirektor um eine Verlegung der Fossilien zu bitten, um sie in Sicherheit zu bringen. Der Direktor, selbst ein Nationalsozialist, verweigerte die Bitte. 1944 wurden die Fossilien im Bombenhagel zerstört. Zeichnungen, Fotos und Beschreibungen in Fachartikeln waren alles, was von Stromers Spinosaurus-Fossilien geblieben war.

    In den darauffolgenden Jahrzehnten entspann sich eine Art Mythos um Spinosaurus, als Generationen von Paläontologen auf der ganzen Welt, von Brasilien bis nach Thailand, nahe Verwandte von ihm fanden und darüber rätselten, wie die ungewöhnlichen Tiere wohl gelebt hatten. Diese anderen Spinosauriden ernährten sich mit großer Sicherheit von Fisch, wie man aus ihrer Schädelanatomie, ihrer Zahnstruktur und – in einem Fall – aus Fischschuppen schloss, die im Magen eines Exemplars erhalten geblieben waren.

    Im frühen 20. Jahrhundert spielten Paläontologen mit der Idee von aquatischen Dinosauriern. Sie mutmaßten beispielsweise, dass große pflanzenfressende Saurier in Lagunen gelebt haben, da das Wasser die Last ihres gewaltigen Gewichts erleichterte. Jahrzehnte der anatomischen Forschung zeigten allerdings, dass Dinosaurier aller Formen und Größen – selbst die Titanen unter ihnen – auf Terra firma wandelten. Die Anatomie der Hinterbeine anderer Spinosauriden deutete ebenfalls stark darauf hin, dass auch sie sich an Land fortbewegten.

    Ohne ein neues Spinosaurus-Skelett schienen die Forscher jedoch zur Ungewissheit verdammt.

    Spinosaurus-Animation
    Mithilfe seines paddelartigen Schwanzes manövrierte ein Spinosaurus aegyptiacus vor über 97 Millionen Jahren in einem Flusslauf im heutigen Marokko. Neu entdeckte Fossilien zeigen, dass der Schwanz des Tieres bestens zum Schwimmen geeignet war – was die Theorie untermauert, dass der Spinosaurus den Großteil seiner Zeit im Wasser verbrachte. (Model: Davide Bonadonna und Fabio Manucci; Animation und Texturierung: Fabio Manucci; Farbgestaltung: Davide Bonadonna, Di.Ma. Dino makers; Wissenschaftliche Betreuung: Simone Maganuco und Marco Auditore; Rekonstruktion basierend auf: Nizar Ibrahim und weitere, „Nature“, 2020).

    Fossilien auf der Spur

    Klarheit sollte erst Jahrzehnte später aus dem Südosten Marokkos kommen. Dort durchsuchen tausende von lokalen Minenarbeitern das Gestein der Region und finden regelmäßig Fossilien aus einem Zeitraum, der hunderte Millionen Jahre der Erdgeschichte abdeckt. Da die Arbeiter es insbesondere auf Dinosaurierfossilien abgesehen haben, konzentrierten sie ihre Bemühungen auf die Kem Kem Beds. Die 97 Millionen Jahre alte Sandsteinformation beginnt etwa 320 Kilometer östlich von Marrakesch und erstreckt sich von dort aus 240 Kilometer in südwestlicher Richtung. Im Gestein hat ein urzeitliches Flusssystem seine Spuren hinterlassen. Einst schwammen dort Fische von der Größe eines Kleinwagens durch das Wasser. Wer am Rande einer Erhebung eine freiliegende Fläche des typischen roten Sandsteins der Kem Kem Beds findet, wird fast unweigerlich auch auf den Eingang eines Tunnels treffen, der zu klein ist, um sich darin aufzurichten. Die lokalen Minenarbeiter haben mit angespitzten Betonstahlstäben hunderte solcher Öffnungen in den Stein getrieben.

    Wenn sie bei ihrer Arbeit Fossilien finden, verkaufen sie sie an ein Netzwerk aus Großhändlern und Exporteuren. Die Fossilindustrie ist für Tausende Menschen der Region eine lebenswichtige Einnahmequelle, auch wenn sie sich in einer legalen und ethischen Grauzone bewegt. Die Einheimischen graben das ganze Jahr über und finden daher mit großer Wahrscheinlichkeit wissenschaftlich wertvollere Exemplare als akademische Paläontologen, deren Grabungssaison nur ein paar Woche im Jahr umfasst.

    Deshalb lernen die Paläontologen die einheimischen Gräber kennen und sehen sich regelmäßig deren Ausbeute an. So handhabt das auch der Assistenzprofessor Ibrahim von der University of Detroit Mercy, der deutscher und marokkanischer Abstammung ist. Wenn er das Land besucht, reist er von Dorf zu Dorf und spricht mit den Minenarbeitern über einer Tasse frischem Minztee in Darija – dem lokalen arabischen Dialekt – über die aktuellsten Funde.

    Neben seiner Satellitenschüssel präsentiert ein Fossilsammler ein paar seiner Funde vor seinem Haus bei Taouz in Marokko. Die einzelnen Knochen liefern einen Einblick in den Artenreichtum des Kem-Kem-Ökosystems, in dem der Spinosaurus zu Hause war.

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Pappschachteln, in denen ursprünglich Gebäck lag, beherbergen nun eine wertvolle Fossile Fracht. Im marokkanischen Taouz können Besucher, Forscher und potenzielle Käufer die Funde begutachten.

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Bei einem dieser Besuche in einem Dorf nahe der Stadt Erfoud traf Ibrahim – bereits ein Spezialist für die Kem Kem Beds – 2008 einen Mann, der auffällige Knochen gefunden hatte. Der Wissenschaftler erkannte später, dass sie womöglich zu einem Spinosaurus gehörten. Die Begegnung schien fast schicksalhaft: Ibrahim war seit seiner Kindheit in Berlin von Spinosaurus fasziniert.

    Seine Forschungspartner am Naturkundemuseum Milan wies ihn auf noch mehr Knochen von demselben Arbeiter hin, die ihren Weg nach Italien gefunden hatten, und stellten sie für ihre Rückkehr nach Marokko sicher. Eine zweite Reise von Ibrahim, Zouri und dem Paläontologen David Martill von der University of Portsmouth führte das Team 2013 schließlich zu jenem Bereich in den Kem Kem Beds, aus dem die Knochen stammten. Dort fanden die Forscher noch weitere Knochenfragmente.

    Ibrahim nutzte die neu entdeckten Fossilien, zuvor gefundene Knochen und Stromers Artikel, um sich an einer neuen Rekonstruktion des Spinosaurus zu versuchen. Die Arbeit seines Teams, die 2014 in „Science“ veröffentlicht wurde, erklärte die marokkanischen Fossilien zu einem Ersatz für die ägyptischen, die während des Zweiten Weltkriegs verloren gingen. Ihre Rekonstruktion offenbarte, dass das Tier ausgewachsen etwa 15 Meter lang war – länger als ein erwachsener T. rex.

    Laut ihrer Studie hatte Spinosaurus außerdem einen schlanken Torso, stummelige Hinterbeine, eine Schädelform ähnlich derer heutiger fischfressender Krokodile und dickwandige Knochen, die denen von Pinguinen und Seekühen ähnelten. Diese Merkmale deuteten darauf hin, dass es sich zumindest um ein teilweise im Wasser lebendes Tier handelte.

    Samir Zouhri untersucht einen großen Spinosaurus-Zahn im Haus eines Dorfbewohners in Taouz, Marokko. Die Paläontologen der Region unterhalten gute Beziehungen zu den Einheimischen, um sicherzustellen, dass wertvolle Fossilien in die öffentliche Hand gelangen. (Paolo Verzone/National Geographic)

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Die Studie polarisierte die Paläontologengemeinschaft. Einige reagierten positiv und waren von den neuen Erkenntnissen zu den dickwandigen Knochen des Spinosaurus überzeugt. „Das hat die Sache für mich wirklich besiegelt“, sagt Lindsay Zanno. Die Paläontologin des North Carolina Museum of Natural Sciences gehörte nicht zu Ibrahims Forschungsteam. „Knochen haben ein Gedächtnis“, erzählt sie und verweist darauf, dass sich die Mikrostrukturen der Knochen je nachdem unterscheiden, ob ein Tier an Land lebt, flugfähig ist oder die meiste Zeit im Wasser verbringt.

    Für andere Paläontologen waren die 2014 präsentierten Erkenntnisse jedoch noch kein Garant dafür, dass Spinosaurus aktiv im Wasser geschwommen ist. Sie gaben zu, dass Spinosaurus – genau wie andere Spinosauriden – mindestens im flachen Wasser auf Fischfang ging, wie es heutzutage Grizzlybären und Reiher tun. Aber konnte man anhand der unvollständigen marokkanischen Überreste wirklich mit Sicherheit sagen, dass der prähistorische Räuber tiefer ins Wasser vordrang als seine Verwandten und seiner Beute sogar hinterherschwamm? Und falls ja, wie genau bewegte er sich dann durch das Wasser?

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    Manche Experten bezweifelten sogar, dass die Knochen aus Marokko überhaupt zu Spinosaurus gehörten. Die neu entdeckten Knochen konnten zwar eindeutig den Spinosauriden zugeordnet werden, aber wie viele Arten es davon in Nordafrika einst gegeben hat, darüber sind sich Wissenschaftler bis heute nicht einig. Passte die Anatomie des Fossils exakt zu Stromers verlorenem Exemplar aus Ägypten? Oder gehörte es stattdessen zu einem engen Verwandten? „Niemand konnte ganz sicher sein, wie viele Arten oder Gattungen wir [in Nordafrika] hatten und wo genau sie zeitlich und räumlich zu verorten sind“, sagt Dave Hone, ein Paläontologe der Queen Mary University of London und Experte für Spinosauriden.

    Um der Kontroverse ein Ende zu setzen, kehrten Ibrahim und seine Kollegen im September 2018, unterstützt von der National Geographic Society, nach Marokko zurück, um nach weiteren Knochen zu suchen. Die Zeit drängte: Ibrahim hatte von seinen lokalen Kontakten erfahren, dass kommerzielle Fossilgräber die nahegelegenen Hügel nach Knochen durchsuchten. Er konnte riskieren, dass der Rest des mutmaßlich einzigen Spinosaurus-Skeletts der Welt in den Kuriositätenkabinetten privater Sammler verschwand.

    Mohand Ihmadi, der Besitzer des Ihmadi Trilobite Center im marokkanischen Alnif, präpariert einen Spinosaurus-Zahn für den Verkauf. Seit Jahren hebt Ihmani die wertvollsten Fossilien auf, die durch seine Hand gehen. Er hofft, damit eines Tages ein Museum eröffnen zu können. „Es ist wichtig, dass wir unsere Vergangenheit bewahren“, sagt er. „Wenn wir sie verlieren, werden wir sie nie wieder zurückbekommen.“
     

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Fossil-Goldgrube

    Die Grabungsarbeiten 2018 waren brutal. Um tonnenweise Sandstein aus dem Weg zu räumen, kaufte das Team den einzigen funktionierenden Presslufthammer in der Region. Binnen Minuten ging er kaputt. Die Tage waren so kräftezehren, dass mehrere Mitglieder nach ihrer Heimkehr ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Aber die Aussicht auf die ersehnte Entdeckung – und gelegentliche Nutella-Pausen – trieb sie an. Schließlich war es soweit und sie begannen, einen Schwanzwirbel nach dem anderen zu finden. Manchmal lagen zwischen den Funden nur wenige Zentimeter und Minuten. Das Team war vor Freude über den Erfolg so ausgelassen, dass sie ihre Hämmer in musikalischen Rhythmen schwangen und zu sangen begannen.

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    Ich erhielt im Juli 2019, als ich das Team auf eine Folgeexpedition begleitete, einen Einblick darin, wie schwierig die Arbeit an der Grabungsstätte war – und wie überwältigend der Rausch der Entdeckung. Die heißen Temperaturen von etwa 47 °C und die trockenen Winde entzogen meinem Körper das Wasser literweise, als wir uns durch einen marmorierten Aufschluss gruben. Ibrahims Studenten von der University of Detroit Mercury hievten Gesteinsbrocken in provisorische Eimer aus recycelten Reifen und durchsuchten sie selbst nach kleinsten Knochensplittern.

    Bis zum Ende des darauffolgenden Tages hatten wir mehrere Spinosaurus-Fossilien gefunden, darunter auch Fußknöchel und zarte Schwanzwirbel von der Spitze des Dinosaurierschwanzes. Als wir die Früchte unserer Arbeit zurück im Labor in Casablanca auf Tischen vor uns ausgebreitet sahen, erkannten Ibrahim und seine Kollegen, dass sie etwas ganz Besonderes gefunden hatten.

    Eine Statue eines Triceratops – eine Art aus Nordamerika – steht vor dem Tahiri Fossil Museum bei Rissani in Marokko. Marokko hat zwar auch eigene Dinosaurier, diese sind aber nicht so bekannt wie ihre amerikanischen Verwandten.

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Bis zum Ende der Grabungen 2018 hatte das Team bereits mehr als 30 Schwanzwirbel von Spinosaurus ausgegraben. Einige der Knochen passten exakt zu den Illustrationen der Schwanzwirbelfragmente, die Stromer 1934 veröffentlicht hatte. Das untermauerte die Vermutung, dass eine Spinosauriden-Art im kreidezeitlichen Nordafrika auf einem Gebiet vom heutigen Marokko bis Ägypten gelebt hatte. Zudem hatten Ibrahim und sein Team an der marokkanischen Grabungsstätte keine doppelten Knochen gefunden – ein deutliches Zeichen dafür, dass all diese Fossilien zu einem einzigen Individuum gehörten. Für die prähistorischen dynamischen Flussbetten der Kem Kem Beds ist das eine Seltenheit.

    Gemacht für ein Leben im Wasser

    Mit dem nun fast vollständigen Schwanz des Tieres waren Ibrahim und seine Kollegen überzeugter denn je, dass Spinosaurus ein Schwimmer war. Im Labor begannen sie, ihre Theorie zu testen.

    Animation: Schwimmender Spinosaurus
    Die Videoanimation zeigt einen Spinosaurus beim Schwimmen im Meer. (Model: Davide Bonadonna und Fabio Manucci; Animation und Texturierung: Fabio Manucci; Farbgestaltung: Davide Bonadonna, Di.Ma. Dino makers; Wissenschaftliche Betreuung: Simone Maganuco und Marco Auditore; Rekonstruktion basierend auf: Nizar Ibrahim und weitere, „Nature“, 2020)

    Im Februar 2019 kontaktierte Ibrahim Stephanie Pierce, der Kuratorin für Wirbeltierpaläontologie am Harvard Museum of Comparative Zoology, mit einer Frage: Könnte sie ihm helfen zu testen, wie viel Schub ein Dinosaurierschwanz im Wasser erzeugen konnte? Obwohl die Erstellung digitaler Modelle für tierische Bewegungsabläufe zu ihren Spezialitäten gehört, wusste Pierce, dass für die Beantwortung der Frage reale, dynamische Experimente nötig sein würden. Zusammen mit ihrem Kollegen, dem Fischbiologen George Lauder, schloss sie sich Ibrahims Team an.

    Etwa sechs Monate später stattete ich Lauders Labor einen Besuch ab, in dem das Surren der Ventilatoren zahlreicher überarbeiteter Computer wiederhallte. Lauder, der an einer Arbeitsbank saß, griff nach einem orangefarbenen Laserschnitt eines Spinosaurus-Schwanzes aus dünnem, biegsamen Kunststoff und befestigte ihn an einem Metallstab. Damit ging er ans andere Ende seines Labors zu einem Wassertank und befestigte den Schwanz in einem Wirrwarr aus Metallrohren, die von der Decke herunterhingen.

    Mit den neuen Knochen wurde es auch Zeit für ein neues Modell: Guzun Ion von dem Unternehmen für Museumsskulpturen DI.MA (Dino Makers) im italienischen Fossalta di Piave arbeitet an einer aktualisierten Version einer lebensgroßen Spinosaurus-Skulptur.

    Foto von Paolo Verzone, National Geographic

    Das Gerät ist ein Roboter mit dem sympathischen Spitznamen „Flapper“. Er hängt unterhalb des Wasserkanals, dessen Fließgeschwindigkeit Lauder präzise kontrollieren kann. Ausgestattet mit Licht, Kameras und Sensoren kann der Aufbau die Bewegungen eines schwimmenden Tiers oder Roboters – und die Kräfte, die dabei wirken – präzise aufzeichnen.

    Lauder ließ den Flapper ins Wasser, und das daran befestigte Kunststoffmodell des Spinosaurus-Schwanzes erwachte plötzlich zum Leben. Seine Bewegungen ahmten den Schwanzschlag eines schwimmenden Alligators nach. Mit jedem Schlag glitt ein Schatten über den Schwanz – und die Sensordaten flossen in Lauders Computer. Der Flapper zeichnete die Kräfte auf, die der Schwanz entwickelte. Daraus lässt sich ableiten, wie gut er im Wasser als Antrieb für den Spinosaurus funktioniert hat.

    Die Ergebnisse von Pierce und Lauders sind ebenfalls in der „Nature“-Studie nachzulesen. Sie zeigen, dass der Schwanz des Spinosaurus im Wasser mehr als achtmal so viel Antriebskraft entwickelt wie die Schwänze von Theropoden, die nicht zu den Spinosauriden zählen, beispielsweise Coelophysis und Allosaurus – und sie tun es doppelt so effektiv. Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der gewaltige Spinosaurus viel Zeit im Wasser verbrachte und seine urzeitlichen Flüsse vermutlich ähnlich wie ein riesiges Krokodil navigierte.

    Diese Schlussfolgerung hebt Spinosaurus von anderen wasseraffinen Dinosauriern ab, die seit 2014 beschrieben wurden – darunter auch Arten, die eher den Lebensstil von Gänsen oder Schildkröten pflegten. Je mehr Lauder über das Konzept eines Paddels am Hinterleib eines Raubtiers spricht, umso mehr leuchten seine Augen im Angesicht dieser beispiellosen Entdeckung. „Es ist unglaublich!“, sagt er.

    In künftigen Experimenten wollen Pierce und Lauder mit einer modifizierten Version des Flappers ein dreidimensionales Modell des Schwanzes testen – oder sogar ein Ganzkörpermodell des aktualisierten Spinosaurus. Das würde helfen zu klären, wie sich das 1,80 Meter hohe Rückensegel des Sauriers auf seine Schwimmfähigkeit auswirkte. Um diesen Traum zu verwirklichen, will Ibrahim zuvor jedoch so viele Knochenfragmente wie möglich auftreiben. Deshalb kehrte sein Team im Sommer 2019 noch mal für weitere Grabungen in die Wüste zurück.

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    Einige der Fossilien, die sie auf dieser Expedition, werden bald dabei helfen, ein anderes aquatisches Merkmal des Spinosaurus zu testen: seine möglicherweise mit Schwimmhäuten versehen Füße. Dank den zusätzlichen Knochen können die Forscher nun endlich den gesamten Fuß des Dinosauriers rekonstruieren, um zu testen, wie weit Spinosaurus seine Zehen spreizen konnte.

    Für Ibrahim ist es wichtig, dass alle Fossilien, die das Team findet, in Marokko bleiben, damit die Sammlung wächst, die der Paläontologe Zouhri von der Université Hassan II. in seinem Labor in Casablanca betreut. Diese Knochen – und die Wissenschaftler, die sie erforschen – sollen später die Grundlage für Marokkos erstes Naturkundemuseum bilden – und die Menschen in ganz Nordafrika dazu inspirieren, von den vergessenen Welten unter ihren Füßen zu träumen.

    „Ich möchte ein Zuhause für Spinoaurus bauen“, sagt Ibrahim. „Er wird ein Symbol – eine Ikone – für die afrikanische Paläontologie werden.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

     

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