Er fand den Schlüssel zum Ursprung des Lebens – aber kaum jemand kennt ihn

Der ungarische Biologe Tibor Gánti ist kaum jemandem bekannt. Aber nun, ein Jahrzehnt nach seinem Tod, geht sein Chemoton-Modell zum Ursprung des Lebens endlich um die Welt.

Von Michael Marshall
Veröffentlicht am 17. Dez. 2020, 15:32 MEZ

Ein Ölgemälde des ungarischen Biologen Tibor Gánti.

Foto von László Gulyás

Als der Biologe Tibor Gánti am 15. April 2009 im Alter von 75 Jahren starb, war er alles andere als bekannt. Einen Großteil seiner Karriere hatte er hinter dem Eisernen Vorhang verbracht, der Europa jahrzehntelang teilte und den Austausch von Ideen behinderte.

Wären Gántis Theorien während der kommunistischen Ära bekannter gewesen, würde er heute vielleicht als einer der innovativsten Biologen des 20. Jahrhunderts gefeiert. Seine große Leistung: Er hat ein Modell des einfachsten möglichen lebenden Organismus entwickelt. Er hat es Chemoton getauft, und es könnte eine spannende Erklärung für den Beginn des Lebens auf der Erde liefern.

Der Ursprung des Lebens ist eines der verblüffendsten Rätsel der Wissenschaft – teils auch deshalb, weil es eigentlich gleich mehrere Rätsel sind. Wie war die Erde beschaffen, als sie entstand? Aus welchen Gasen bestand die Luft? Welche der Tausenden von Chemikalien, die lebende Zellen heute nutzen, sind essenziell – und wann sind diese unabdinglichen Substanzen entstanden?

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Die vielleicht schwierigste Frage ist auch die einfachste: Was war der erste Organismus?

Für Wissenschaftler, die versuchen, diesen Funken des Lebens zu rekonstruieren, bietet das Chemoton ein attraktives Ergebnis für Experimente. Wenn es gelingt, Chemikalien dazu zu bringen, sich selbst zu einem Chemoton zusammenzusetzen, zeigt das einen Weg auf, auf dem das Leben entstanden sein könnte. Schon heute kommen einige Forschergruppen diesem Modell verblüffend nahe.

Und für Astrobiologen, die an Leben jenseits unseres Planeten interessiert sind, bietet das Chemoton eine universelle Definition von Leben. Und zwar eine, die nicht auf spezifische Chemikalien wie DNA angewiesen ist, sondern auf einem übergreifenden Organisationsmodell basiert.

„Gánti hat tiefer über die Grundlagen des Lebens nachgedacht als jeder andere, den ich kenne“, sagt der Biologe Eörs Szathmáry vom Zentrum für Ökologische Forschung in Tihany, Ungarn.

Der Beginn des Lebens

Es gibt keine einheitliche wissenschaftliche Definition von Leben, auch wenn es nicht an Versuchen mangelt: Eine Arbeit aus dem Jahr 2012 identifizierte 123 veröffentlichte Definitionen. Es erwies sich als schwierig, eine Definition zu formulieren, die alles Leben umfasst, aber alles Unbelebte mit lebensähnlichen Eigenschaften ausschließt, zum Beispiel Feuer und Autos. Viele Definitionen besagen, dass Lebewesen sich fortpflanzen können. Aber ein Kaninchen, ein Mensch oder ein Wal kann sich allein nicht fortpflanzen.

1994 beschrieb ein NASA-Komitee Leben als „ein sich selbst erhaltendes chemisches System, das zur darwinistischen Evolution fähig ist“. Das Wort „System“ kann einen einzelnen Organismus, eine Population oder ein Ökosystem beschreiben. Damit umgeht man zwar das Reproduktionsproblem, aber zu einem Preis: Unschärfe.

Was damals nur wenige wussten, war, dass Gánti schon zwei Jahrzehnte zuvor eine andere Möglichkeit aufgezeigt hatte.

Tibor Gánti wurde 1933 in der kleinen Stadt Vác im Herzen Ungarns geboren. Seine Kindheit war bereits durch politische Konflikte geprägt. Ungarn unterstützte im Zweiten Weltkrieg das von den Nationalsozialisten regierte Deutschland, aber 1945 wurde die ungarische Armee von der Sowjetunion besiegt. Das totalitäre Regime dominierte die Regionen rund um die Grenze zwischen Europa und Asien jahrzehntelang und Ungarn wurde, genau wie viele osteuropäische Nationen, ein Satellitenstaat.

Fasziniert von der Natur des Lebendigen, studierte Gánti Chemieingenieurwesen, bevor er industrieller Biochemiker wurde. 1966 veröffentlichte er ein Buch über Molekularbiologie mit dem Titel „Forradalom az Élet Kutatásában“ oder „Revolution in der Lebensforschung“, das jahrelang ein verbreitetes Lehrbuch an Universitäten war – auch weil es nur wenige andere zu dem Thema gab. Das Buch stellte die Frage, ob die Wissenschaft versteht, wie das Leben organisiert ist, und kam zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall ist.

So funktioniert ein Chemoton.

Foto von Christopher Turner, QuelleLeonardo Bich And Sara Green, Synthese, April 2017

1971 gingt Gánti das Problem in einem neuen Buch an, „Az Élet Princípiuma“ oder „Die Prinzipien des Lebens“. Dieses Buch, das nur auf Ungarisch veröffentlicht wurde, enthielt die erste Version seines Chemoton-Modells, das er als die Grundeinheit des Lebens betrachtete. Dieses frühe Modell des Organismus war jedoch unvollständig, und es sollte weitere drei Jahre dauern, bis er die endgültige Version veröffentlichte – wiederum nur auf Ungarisch, in einer Arbeit, die nicht online verfügbar ist.

Wunderjahr der Wissenschaft

Weltweit war 1971 so etwas wie ein Paradejahr für die Erforschung des Ursprungs des Lebens. Neben Gántis eher unbekannter Arbeit legte die Wissenschaft zwei weitere wichtige theoretische Modelle vor.

Das erste stammt von dem US-amerikanischen theoretischen Biologen Stuart Kauffman, der argumentierte, dass lebende Organismen in der Lage sein müssen, sich selbst zu kopieren. Bei seinen Spekulationen darüber, wie das vor der Entstehung von Zellen funktioniert haben könnte, konzentrierte er sich auf unterschiedliche Kombinationen von Chemikalien.

Man stelle sich vor, dass die Chemikalie A die Bildung der Chemikalie B anstößt, die wiederum die Bildung der Chemikalie C anstößt und so weiter, bis ein Glied der Kette eine neue Version der Chemikalie A herstellt. Nach einem Zyklus existieren zwei Kopien jeder Gruppe von Chemikalien. Wenn genügend Rohstoffe vorhanden sind, wird ein weiterer Zyklus vier Kopien hervorbringen und so geht es exponentiell weiter.

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Kauffman nannte eine solche Gruppe ein „autokatalytisches Set“ und argumentierte, dass solche Gruppen von Chemikalien die Grundlage für das erste Leben gewesen sein könnten. Dabei wurden die Sets immer komplizierter, bis sie eine Reihe komplexer Moleküle wie beispielsweise DNA produzierten und nutzten.

Die zweite Idee stammt von dem deutschen Chemiker Manfred Eigen. Er beschrieb einen „Hyperzyklus“, bei dem sich mehrere autokatalytische Sets zu einem einzigen größeren verbinden. Eigens Variante hatte aber einen entscheidenden Unterschied zu Kauffmans Modell: In einem Hyperzyklus sind einige der Chemikalien Gene und bestehen daher aus DNA oder einer anderen Nukleinsäure, während andere Proteine sind, die auf der Grundlage der Informationen in den Genen hergestellt werden. Dieses System könnte sich aufgrund von Veränderungen – also Mutationen – in den Genen weiterentwickeln, eine Funktion, die bei Kauffmans Modell fehlte.

Gánti war unabhängig davon zu einer ähnlichen Vorstellung gelangt, aber er entwickelte sie noch weiter. Er argumentierte, dass in jedem lebenden Organismus zwei Schlüsselprozesse ablaufen müssen. Erstens muss er seinen Körper aufbauen und erhalten; das heißt, er braucht einen Stoffwechsel. Zweitens muss er eine Art von Informationsspeicher haben, zum Beispiel ein Gen oder Gene, die kopiert und an die Nachkommen weitergegeben werden können.

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Gántis erste Version seines Modells bestand im Wesentlichen aus zwei autokatalytischen Gruppen mit unterschiedlichen Funktionen, die sich zu einer größeren autokatalytischen Gruppe zusammenschlossen. Damit unterschied es sich gar nicht mal so sehr von Eigens Hyperzyklus. Im folgenden Jahr wurde Gánti jedoch von einem Journalisten auf einen entscheidenden Fehler hingewiesen: Gánti nahm an, dass die beiden Systeme auf im Wasser schwimmenden Chemikalien basierten. Doch sich selbst überlassen, würden sie auseinanderdriften – und das Chemoton würde „sterben“.

Die einzige Lösung bestand darin, ein drittes System hinzuzufügen: eine äußere Barriere, um sie einzudämmen. In lebenden Zellen ist diese Barriere eine Membran, die aus fettähnlichen Chemikalien besteht, den Lipiden. Das Chemoton musste eine solche Barriere haben, um sich selbst zusammenzuhalten. Gánti schloss daraus, dass sie ebenfalls autokatalytisch sein musste, damit sie sich selbst erhalten und wachsen konnte.

Und so kam das Endkonzept des Chemotons zustande – Gántis Konzept des einfachsten möglichen lebenden Organismus: Gene, Stoffwechsel und Membran, alles miteinander verbunden. Der Stoffwechsel produziert Bausteine für die Gene und die Membran, und die Gene üben Einfluss auf die Membran aus. Zusammen bilden sie eine selbstreplizierende Einheit: eine Zelle, die so einfach ist, dass sie nicht nur auf der Erde relativ leicht entstehen, sondern sogar alternative Biochemien auf fremden Welten erklären könnte.

Gántis vergessenes Modell

„Gánti hat das Leben wirklich gut abgebildet“, sagt der synthetische Biologe Nediljko Budisa von der University of Manitoba in Winnipeg, Kanada. „Es war eine Offenbarung, das zu lesen.“ Budisa entdeckte Gántis Arbeit allerdings erst um 2005. Außerhalb Osteuropas blieb sie jahrzehntelang relativ unbekannt und es gab nur wenige englische Übersetzungen auf dem Markt.

Das Chemoton wurde erst 1987 für Englischsprecher zugänglich, in einem Taschenbuch mit einer ziemlich groben Übersetzung, sagt James Griesemer von der University of California, Davis. Nur wenige nahmen Notiz davon. Später gab Szathmáry dem Chemoton einen Ehrenplatz in seinem 1995 erschienenen Buch „The Major Transitions in Evolution“, das er zusammen mit John Maynard Smith schrieb. Das führte immerhin zu einer neuen englischen Übersetzung von Gántis Buch von 1971 mit zusätzlichem Material, die 2003 erschien. Aber noch immer blieb das Chemoton ein Mauerblümchen, und sechs Jahre später war Gánti tot.

In gewisser Weise hat Gánti seinem Modell auch nicht gerade zu mehr Bekanntheit geholfen: Er galt als schwieriger Kollege. Szathmáry sagt, Gánti sei stur auf sein Modell fixiert und dazu noch paranoid gewesen, was es „unmöglich machte, mit ihm zu arbeiten“.

Doch das vielleicht größte Problem für das Chemoton-Modell war ein Trend, der sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts abzeichnete: In der Forschung versuchte man, die Komplexität des Lebens zugunsten von immer minimalistischeren Ansätzen zu vereinfachen.

Eine der prominentesten Hypothesen, die auch heute noch beliebt ist, besagt zum Beispiel, dass das Leben allein mit der RNA begann.

Wie ihr molekularer Verwandter, die DNA, kann die RNA Erbinformationen tragen. Aber entscheidend ist, dass RNA auch als Enzym fungieren und chemische Reaktionen beschleunigen kann. Das veranlasste viele Experten zu der These, dass das erste Leben nichts anderes als RNA brauchte, um in Gang zu kommen. Diese RNA-Welt-Hypothese stieß jedoch auf Widerstand, vor allem weil die Wissenschaft keine RNA-Art gefunden hat, die sich selbst kopieren kann. Selbst RNA-getriebene Viren wie das Coronavirus benötigen menschliche Zellen zur Vermehrung.

Andere Forscher haben argumentiert, dass das Leben allein mit Lipiden begann. Solche Ideen sind weit von Gántis kombiniertem Ansatz entfernt.

Wer erzeugt ein echtes Chemoton?

Seit der Jahrtausendwende geht der Trend in der Forschung jedoch wieder in die andere Richtung. Forscher fokussieren sich nun eher auf die Art und Weise, wie die Chemikalien des Lebens zusammenarbeiten und wie diese kooperativen Netzwerke entstanden sein könnten.

Seit 2003 haben Jack Szostak von der Harvard Medical School und seine Kollegen zunehmend lebensechtere Protozellen gebaut: einfache Versionen von Zellen, die eine Reihe von Chemikalien enthalten. Diese Protozellen können wachsen und sich teilen, sich also selbst replizieren.

2013 brachten Szostak und seine damalige Studentin Kate Adamala die RNA dazu, sich innerhalb einer Protozelle selbst zu kopieren. Außerdem lassen sich die Gene und die Membran koppeln: Während sich die RNA im Inneren vermehrt, übt sie Druck auf die äußere Membran aus und lässt die Protozelle wachsen.

Szostaks Forschung „erinnert sehr an Gánti“, sagt die synthetische Biologin Petra Schwille vom Max-Planck-Institut für Biochemie im bayerischen Martinsried. Sie verweist auch auf die Arbeit von Taro Toyota an der Universität Tokio in Japan. Er stellte Lipide im Inneren einer Protozelle her, sodass die Protozelle ihre eigene Membran bilden konnte.

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Ein Argument gegen die Idee eines Chemotons als erste Form des Lebens war, dass es so viele chemische Komponenten benötigt, darunter Nukleinsäuren, Proteine und Lipide. Viele Experten hielten es für unwahrscheinlich, dass diese Chemikalien alle aus denselben Ausgangsmaterialien am selben Ort entstehen würden, daher der Reiz von abgespeckten Ideen wie der RNA-Welt.

Doch kürzlich haben Biochemiker Beweise dafür gefunden, dass alle Schlüsselchemikalien des Lebens aus denselben einfachen Ausgangsmaterialien entstehen können. In einer im September 2020 veröffentlichten Studie haben Forschende unter der Leitung von Sara Szymkuć, damals an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, eine Datenbank mit Experimenten aus mehreren Jahrzehnten zusammengestellt, in denen versucht wurde, die chemischen Bausteine des Lebens herzustellen. Szymkuć fand heraus, dass mit nur sechs einfachen Ausgangsmaterialien wie Wasser und Methan Zehntausende von entscheidenden Bestandteilen hergestellt werden können, darunter auch die Grundbausteine von Proteinen und RNA.

Doch aus keinem dieser Experimente ging bisher ein funktionierendes Chemoton hervor. Das mag einfach daran liegen, dass es kompliziert ist, womöglich ist aber auch Gántis Modell keine exakte Entsprechung des ersten Lebens auf Erden. Dennoch gibt uns das Chemoton eine Möglichkeit, darüber zu spekulieren, wie die einzelnen Komponenten des Lebens zusammenarbeiten. Und genau das treibt zunehmend die heutigen Ansätze zum Verständnis der Entstehung des Lebens voran.

Es sei bezeichnend, sagt Szathmáry, dass Gántis Arbeiten mittlerweile zunehmend zitiert werden. Auch wenn sich die konkreten Details unterscheiden, sind die aktuellen Ansätze zur Entstehung des Lebens viel näher an dem, was er im Sinn hatte: ein kombinierter Ansatz, der sich nicht nur auf eines der Schlüsselsysteme des Lebens konzentriert.

„Leben ist nicht nur Proteine, Leben ist nicht nur RNA, Leben ist nicht nur Lipid-Doppelschichten“, sagt Griesemer. „Was ist es dann? Es sind all diese Dinge, die in der richtigen Organisationsstruktur miteinander verbunden sind.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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