Gertrude Elion zeigte der Welt, wie man Viren bekämpft
Noch vor 50 Jahren glaubte kaum jemand, dass die Bekämpfung von Viren ohne schlimme Nebenwirkungen überhaupt möglich sei.
Die 1918 in Manhattan geborene Gertrude Elion entwickelte das Medikament Aciclovir. Der potente Inhibitor von Herpesviren hat eine bemerkenswert geringe Toxizität und wurde 1978 von ihrem Team vorgestellt.
Als im April bekannt wurde, dass das Medikament Remdesivir bei COVID-19-Patienten nachweislich die Genesung beschleunigt, war die Zuversicht zunächst groß. Anthony Fauci, der Direktor des US-amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases, bezeichnete den Befund als „einen wichtigen Machbarkeitsnachweis“ im Wettlauf um die Bekämpfung der Pandemie.
Traditionelle Impfstoffe veranlassen den Körper dazu, eine Abwehr gegen spezifische eindringende Viren aufzubauen. Remdesivir ist allerdings ein antivirales Medikament. Das heißt, es behindert die Fähigkeit eines Virus, sich zu vermehren und zu verbreiten. Zurzeit sind die Ergebnisse in Bezug auf Remdesivir gemischt, auch wenn einige Studien weiterhin darauf hindeuten, dass das Medikament den Zustand von Patienten mit schweren Verlaufsformen von COVID-19 verbessern kann. Noch vor wenigen Jahrzehnten bezweifelten die meisten Wissenschaftler, dass so etwas überhaupt möglich sei: dass ein winziger, parasitärer Partikel, der zur Vermehrung vollständig auf eine Wirtszelle angewiesen ist, ausgebremst werden kann, ohne die Zelle selbst zu schädigen.
Heute werden antivirale Medikamente zur Behandlung von Herpes, Hepatitis, HIV, Ebola und anderen Krankheiten eingesetzt. Womöglich gäbe es ohne eine überaus entschlossene Frau aber keines dieser Medikamente.
Die 1918 in Manhattan geborene Gertrude „Trudy“ Elion überwand finanzielle Not und trotzte dem unverblümten Sexismus ihrer Zeit. Im Jahr 1988 wurde sie mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet und war erst die fünfte Frau, die überhaupt je einen Nobelpreis erhalten hatte. Sie teilte sich die Auszeichnung mit ihrem langjährigen Kollegen George Hitchings, der sie 1944 in seinem Biochemie-Labor beim Pharmaunternehmen Burroughs Wellcome (heute Teil von GlaxoSmithKline) eingestellt hatte.
Erst nach Hitchings' Rückzug aus der aktiven Forschung im Jahr 1967 begann Elion mit dem, was sie später als ihre „antivirale Odyssee“ bezeichnete. Zu diesem Zeitpunkt hatte Elion „schon genug davon, immer nur die Junge“ zu sein, und ergriff endlich die Gelegenheit, „zu zeigen, was ich alleine schaffen kann“, sagte sie der Schriftstellerin Sharon Bertsch McGrayne. Die Autorin veröffentlichte 2001 das Buch „Nobel Prize Women in Science“.
Medikamentenentwicklung: Zufall vs. System
Elion war erst 19 Jahre alt, als sie 1937 ihr Bachelor-Studium in Chemie am Hunter College summa cum laude abschloss. Ihre Eltern, Einwanderer aus Osteuropa, waren durch die Weltwirtschaftskrise Bankrott gegangen. Sie konnten die weitere Ausbildung ihrer Tochter nicht bezahlen, und keines der Programme, bei denen sie sich beworben hatte, bot ihr finanzielle Hilfe an.
Schlimmer noch: Egal, wie gut sie im Studium abgeschnitten hatte –die Forschungslabors wollten keine Frau einstellen. Noch Jahre später erinnerte sie sich an die Begründung, die sie mehr als einmal hörte. Sie sei für die Stelle zwar qualifiziert, würde aber „eine Ablenkung“ für das Laborpersonal darstellen.
Aber Elion blieb hartnäckig, nahm befristete Jobs an und wohnte weiter bei ihren Eltern, um Geld zu sparen. Sie arbeitete als Lebensmittelanalytikerin für eine Supermarktkette, als Telefonistin einer Arztpraxis und unterrichtete Chemie an New Yorker Highschools, während sie nachts und an Wochenenden ihren Master an der New York University machte.
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Dank des Arbeitskräftemangels, der durch den Zweiten Weltkrieg entstanden war, eröffneten sich ihr schließlich echte berufliche Möglichkeiten – zunächst bei Johnson & Johnson und dann bei Burroughs Wellcome.
Bis in die 1970er wurden die meisten neuen Medikamente über die Trial-and-Error-Methode gefunden oder zufällig entdeckt. So entdeckte Alexander Fleming nur zufällig Penicillin, das die Behandlung bakterieller Infektionen revolutionierte. Auch der französische Armeechirurg Henri Laborit bemerkte durch Zufall, dass ein Anästhetikum namens Chlorpromazin eine beruhigende Wirkung auf Patienten mit Schizophrenie hatte. Es war der erste in einer Reihe von Durchbrüchen in der psychiatrischen Medikation.
Hitchings schlug einen anderen Weg vor – einen rationalen, wissenschaftlichen Ansatz, der auf der Kenntnis des biologischen Ziels basierte. Er stellte die Hypothese auf, dass Wissenschaftler die Vermehrung von Krankheitserregerzellen hemmen könnten, indem sie defekte Kopien ihrer genetischen Bausteine anfertigen. Sobald diese Kopien in die Stoffwechselwege des Keims integriert seien, würden sie die Zellmaschinerie blockieren und die für die DNA-Synthese notwendigen Reaktionen stören.
Pionierarbeit im Labor
Kurz nachdem er Elion eingestellt hatte, beauftragte Hitchings sie mit der Arbeit an Purinen. Diese ringförmigen Stickstoffmoleküle waren bereits als Nukleosid-Typus bekannt, ein Begriff für Strukturbasen der RNA und DNA. Elion wusste zunächst nicht, was Purine sind. Aber nach monatelangem Studium der Literatur begann sie mit der Herstellung von Verbindungen, „die noch nie zuvor beschrieben worden waren“.
„Trudy stellte schon Nukleoside her, bevor wir überhaupt wussten, wie die Struktur der DNA aussieht“, sagt Marty St. Clair. Die Virologin stoß 1976 zu Elion, um für das Unternehmen zu arbeiten. „So gut verstand sie die Chemie.“
Gemeinsam leisteten Elion und Hitchings Pionierarbeit auf dem Gebiet der rationalen Medikamentenentwicklung. Und sie waren phänomenal erfolgreich. Über einen Zeitraum von 20 Jahren erfand das Duo neue Medikamente für eine lange Liste schwerer Krankheiten und Beschwerden: Leukämie, Malaria, Gicht, rheumatische Arthritis, Organabstoßung, bakterielle Infektionen und mehr.
Ihr erstes Medikament, 6-Mercaptopurin (6-MP), entstand 1951 durch eine Zusammenarbeit mit Forschern des Memorial Sloan-Kettering Cancer Center, einem Krebsforschungszentrum in New York. Es wird noch heute in einer Kombinationstherapie für Kinder mit akuter lymphatischer Leukämie (ALL) angewandt. 6-MP machte eine der großen Erfolgsgeschichten in der Krebsbehandlung erst möglich und trug dazu bei, die Heilungsrate von ALL bei Kindern von 10 Prozent in den 1950ern auf heute über 80 Prozent zu steigern.
Einige Jahre später entwickelten Elion und Hitchings das Malariamedikament Pyrimethamin, das heute vor allem zur Behandlung von Toxoplasmose eingesetzt wird. (2015 machte das Mittel unter dem Markennamen Daraprim Schlagzeilen, als es von dem in Ungnade gefallenen ehemaligen Pharmamanager Martin Shkreli gekauft und verteuert wurde). Auch die Entwicklung von Trimethoprim, das üblicherweise als Teil der Kombinationsbehandlung von Harnwegsinfektionen verschrieben wird, geht auf das Konto des Duos, das praktisch das Goldene Zeitalter der Antibiotikaentwicklung eingeleitet hatte.
Im Gegensatz dazu gestaltete sich die Suche nach Medikamenten zur Behandlung von Viren deutlich schleppender.
Das Mittel, das alles veränderte
Die ersten zugelassenen virenhemmenden Mittel kamen erst in den frühen 1960ern auf den Markt – und alle blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Wie ein Artikel zur Geschichte der antiviralen Medikamente beschrieb, bewegten sich die frühen Versionen dieser Medikamente „irgendwo zwischen den chemotherapeutischen Prinzipien der Krebsbehandlung und der Volksheilkunde“. Sie waren hochgiftig, minimal wirksam und bestätigten, was die meisten Wissenschaftler ohnehin schon lange angenommen hatten: Weil sich Virus und Zelle so untrennbar miteinander verbinden, sind Viruserkrankungen einfach nicht behandelbar.
“Aciclovir war das Medikament, das für die Entwicklung wirksamer antiviraler Medikamente alles verändert hat. ”
Im Jahr 1968, kurz nachdem Hitchings das Labor verlassen hatte, um Vizepräsident der Forschung zu werden, stieß Elion auf einen Bericht, der ihre Aufmerksamkeit weckte. Darin hieß es, dass eine Verbindung, die 2,6-Diaminopurin ähnelte, vor Kurzem antivirale Aktivität gezeigt hatte. Die Nachricht „ließ es bei mir klingeln“, sagte sie später. Der Bericht veranlasste sie und ihr Team von „fleißigen und hingebungsvollen Wissenschaftlern“, dort weiterzumachen, wo sie zwei Jahrzehnte zuvor aufgehört hatte.
Während der nächsten vier Jahre untersuchten sie heimlich eine bemerkenswerte neue Verbindung, die sie Aciclovir nannten. Fieberhaft arbeiteten sie daran, die Geheimnisse ihrer Aktivität und ihres Stoffwechsels zu lüften, ohne die Konkurrenz auf ihren Fund aufmerksam zu machen.
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1978 wurde Aciclovir auf einer Konferenz in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia vorgestellt. So etwas hatte die Welt noch nie zuvor gesehen: Als potenter Inhibitor von Herpesviren mit bemerkenswert geringer Toxizität änderte es die gängige Meinung zur Behandlung von Viruserkrankungen auf einen Schlag. Ähnlich wie Penicillin ein halbes Jahrhundert zuvor läutete es den Beginn einer neuen therapeutischen Ära ein.
„Aciclovir war das Medikament, das für die Entwicklung wirksamer antiviraler Medikamente alles verändert hat“, sagt Keith Jerome, Direktor des Labors für molekulare Virologie an der medizinischen Fakultät der University of Washington. „Es bewies, dass es möglich war, hochspezifische Medikamente zu entwickeln, die auf Viren abzielten, ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu verursachen.“
Elion nannte Aciclovir ihr „letztes Juwel“, und tatsächlich war es das letzte Medikament, das sie während ihrer offiziellen Anstellung bei Burroughs Wellcome entwickelte. Sie ging 1983 in den Ruhestand – aber wer in ihrem Labor arbeitete, merkten davon fast gar nichts. „Sie kam immer noch jeden Tag“, erinnert sich St. Clair, die maßgeblich an der Aufklärung des Wirkmechanismus von Aciclovir beteiligt war.
1991 wurde Elion mit der prestigeträchtigen National Medal of Science geehrt. Sie wurde ihr vom damaligen US-Präsidenten George Bush verliehen, der sie als Beispiel dafür lobte, wie die Arbeit eines Menschen dazu beitragen kann, „Leiden zu mindern und das Leben vieler Millionen Menschen zu verlängern“. Elion starb 1999 im Alter von 81 Jahren.
St. Clair zufolge hatten sie und ihre Kollegen „viele der gleichen Verfahren wie bei Aciclovir angewandt, um nach einem Medikament gegen HIV zu suchen“. Sie fanden es bald in einem anderen Nukleosid-Analogon, das aus einer Handvoll der vielversprechendsten Verbindungen des Unternehmens ausgewählt worden war. „Das wäre ohne Trudy nicht passiert“, sagt St. Clair. „Wir taten das, wozu sie uns ausgebildet hatte, und am Ende erhielten wir AZT.“ Azidothymidin war das erste Medikament, das für die Behandlung von HIV zugelassen war.
Obwohl es nur mäßig wirksam war, ebnete AZT den Weg für spätere Generationen einer lebensrettenden antiretroviralen Therapie. Fauci glaubt, dass Remdesivir das Gleiche tun und die Tür zur Entdeckung und Entwicklung neuer, wirksamerer Medikamente für COVID-19 öffnen könnte.
„Trudy hat uns gezeigt, dass wir das schaffen können“, sagt St. Clair. „Dass Dinge, die die Menschen für unmöglich hielten, nicht unmöglich sind.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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