Das Geheimnis der Langeweile
Spaßig ist Langeweile für niemandem. Und doch scheinen manche Menschen mit den wenig inspirierenden Zwangspausen besser zurecht zu kommen als andere. Was ist Langeweile, wie entsteht sie und lässt sich der unbefriedigende Zustand auch positiv nutzen?
„Langeweile ist das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können“, lautet eine gängige Definition von Langeweile.
Ist es simples Nichtstun, fehlende Inspiration oder einfach nur ein Mangel an sinnvoller Beschäftigung? An einem einheitlichen Verständnis des Begriffs Langeweile scheiden sich die Geister und auch die Einordnung des Forschungskonstrukts – wird Langeweile als Eigenschaft, Zustand oder Emotion betrachtet? – ist je nach Studienlage unterschiedlich. Als Gegenstand von Philosophie, Psychologie und Pädagogik bis hin zur Kulturwissenschaft ist das Thema ausgesprochen vielfältig – inhaltlich wie auch in seiner Wirkung aufs Individuum.
Klar ist: Wir müssen nicht untätig sein, um uns zu langweilen. „Langeweile ist das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können“, lautet eine von vielen Wissenschaftlern akzeptierte Definition von Dr. John Eastwood, Principal Investigator des Boredom Labs der York University in Toronto, Kanada. Trotz möglicher Aktivitätsoptionen greifen wir nicht auf das Angebot zurück, weil es uns nicht stimuliert, wir keinen Sinn darin sehen oder schlichtweg „keine Lust“ darauf haben. Liegt das an uns selbst oder an den vorhandenen Optionen?
In der englischsprachigen Forschung wird zwischen „State Boredom“ und „Trait Boredom“ unterschieden – während ersteres eine situativ erlebte Langeweile mit Anfang und Endpunkt bezeichnet (etwa das Verbringen einer langweiligen Schulstunde oder das Warten auf die Bahn), handelt es sich bei „Trait Boredom“ um ein Persönlichkeitsmerkmal, das beeinflusst, wie schnell und häufig sich jemand langweilt und wie intensiv das Gefühl der Langeweile empfunden wird. „Unangenehm ist Langeweile für alle. Jeder von uns versucht, sobald er Langeweile verspürt, sie irgendwie zu verhindern oder abzuwenden“, sagt Prof. Dr. Sabrina Krauss von der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Der Psychologin zufolge sind für die langfristige Wirkung die Verhaltensweisen entscheidend, die das Individuum aus der Langeweile heraus entwickelt: „Wer unter Langeweile besonders leidet? Diejenigen, die Verhaltensweisen wählen, die dysfunktional sind.“
Was entscheidet darüber, wie wir Langeweile erleben?
Physiologische Erregbarkeit, Motivations- und Konzentrationsfähigkeit – viele individuelle Faktoren beeinflussen, wie Langeweile erlebt wird. Auch Selbstregulierung und Langeweile hängen Forschungen zufolge zusammen. „Ich charakterisiere Langeweile als Mangel an Selbstregulierung, (…) als Schwierigkeit, sich mit Aufgaben in (der eigenen) Umgebung zu beschäftigen. Je mehr Selbstbeherrschung man hat, desto weniger langweilt man sich“, wird der kanadische Neuropsychologe James Danckert, der Langeweile seit über 20 Jahren erforscht, in einem Beitrag des Magazins Nature zitiert. Auch Psychologin Krauss sieht einen Zusammenhang zwischen Langeweile und geringer Selbstkontrolle – auch wenn noch nicht final klar sei, was Ursache und Wirkung ist. „Wir wissen aber, dass eine fehlende Tagesstruktur mit Langeweile korreliert. Geringe Selbstkontrolle führt dazu, dass ich den Tag nicht strukturieren oder mich an Pläne nicht halten kann. Langeweile kann dann an eine empfundene Sinnlosigkeit grenzen: Warum mache ich das Ganze überhaupt, was soll der ganze Tag?“
Langeweile und daraus entstehende Verhaltensweisen
„Das Empfinden von Langeweile führt in neue Verhaltensweisen, die funktional sein können. Es kann aber auch sein, dass man mehr isst, aggressiv reagiert oder ähnliches“, sagt Krauss. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Zahlreiche Forschungen bringen Essstörungen, Angststörungen sowie Depressionen mit Langeweile in Verbindung. Eine Studie von 2008 belegte einen Zusammenhang von aggressivem und schnellem Fahren mit dem Hang zur Langeweile. In einem Projekt der Forscher Wijnand Van Tilburg und Eric Igou wurde die Auswirkungen von Sinnsuche und Langeweile auf die politische Gesinnung untersucht: Demnach schließen sich gelangweilte Menschen besonders häufig radikalen politischen Vereinigungen an. „Langeweile lässt die Menschen versuchen, ein Gefühl der Sinnhaftigkeit wiederherzustellen“, heißt es in dem Forschungsartikel, der 2016 im European Journal of Social Psychology erschien: „Politische Ideologien und insbesondere das Festhalten an linken vs. rechten Überzeugungen können als Bedeutungsquelle dienen.“ Kurze Zeit später zogen Tilburg und Igou nach zwei weiteren Studien den Schluss, dass Langeweile auch prosoziales Verhalten fördern kann, und zwar insbesondere dann, wenn das Verhalten als bedeutsam wahrgenommen wird. Einschränkend erwähnten die Forscher allerdings, dass die Untersuchungen mit einer kleinen Stichprobe durchgeführt worden waren und die Studien keine direkten Verhaltenseffekte untersuchten, sondern sich auf fiktive Szenarien stützten – ein Problem, das viele Forschungsprojekte beim so spannenden Thema Langeweile haben.
Eine fehlende Tagesstruktur und geringe Selbstkontrolle korrelieren mit Langeweile. Langeweile kann dann an eine empfundene Sinnlosigkeit grenzen: Warum mache ich das Ganze überhaupt, was soll der ganze Tag?
Spezialfall: Corona-Langeweile
Weit entfernt vom fiktiven Szenario ist das Gefühl der Langeweile, das viele Menschen in Zeiten der Pandemie verspüren. „Wir sind es gewöhnt, immer Zugriff auf alle möglichen Angebote zu haben: rund um die Uhr zu shoppen, etwas trinken oder essen zu gehen. Jetzt sind wir plötzlich in einer gesellschaftlichen Situation, die uns ganz viele dieser Möglichkeiten wegnimmt – dabei handelt es sich auch um Möglichkeiten der Ablenkung, der Freizeitgestaltung“, beschreibt Prof. Krauss die besondere Art von Langeweile, die mit den Einschränkungen der Pandemie einhergeht. „Die Leute sind es nicht mehr gewöhnt, Langeweile auszuhalten, Zwangspausen zu erdulden. Die aktuelle Situation fällt vielen Menschen schwer, wobei es sich dabei nicht nur um Langeweile handelt, sondern auch um Reaktanz – eine innere Ablehnung gegen die Situation, weil wir sie selbst nicht mit gesteuert haben. Frust und Langeweile kumulieren sich miteinander hoch, auch Angst ist mit im Spiel. Das Ergebnis ist eine Situation, in der sich die Menschen sehr unwohl fühlen.“
Und die sich auch auf die Leistungen ausüben kann, wenn einige Vorzeichen gegeben sind: Ein Schweizer Forschungsteam untersuchte mittels mehrerer Befragungen den Einfluss von Langeweile und Selbstkontrolle im Bereich des pandemiebedingten Homeschoolings. Die Ergebnisse der im Februar 2021 in Frontiers in Psychology veröffentlichten Studie bestätigten bestehende theoretische Prognosen: Demnach geht hohe Selbstkontrolle mit geringeren Schwierigkeiten und einer besseren Umsetzung der Aufgaben im Homeschooling einher. Starke Langeweile war mit vermehrten Schwierigkeiten und einer schlechteren Umsetzung der Aufgaben verbunden.
Haben wir verlernt, Langeweile auszuhalten, weil uns seit dem Siegeszug von Smartphones, verlängerten Ladenöffnungszeiten und Entertainment-on-Demand-Angeboten nicht mehr langweilig sein muss? „Wir wollen das alles ja gar nicht rückgängig machen, auf Netflix oder Smartphone verzichten“, sagt Psychologin Krauss. „Wir dürfen aber nicht vergessen: Die ständige Reizkonfrontation pusht uns auf ein Level, an dem es nicht mehr gesund ist, wenn man den ganzen Tag Input bekommt. Die Zwangspausen von früher, die damals schon langweilig waren, haben wir uns abtrainiert.“ Innere Unruhe und die Unfähigkeit, den Reizfluss zu unterbrechen, können die Folge sein: „Genau dieses kurze Aushalten, keine neuen Reize zuzulassen, sondern das, was man am Tag erlebt hat, wirken zu lassen, das benennen Leute dann mit Langeweile.“ Ob es sich dabei um die gleiche Langeweile handle wie bei der Form, die aus Monotonie erzeugt werde, muss demnach jedoch in weiteren Forschungsarbeiten nachjustiert werden.
Die Expertin: Sabrina Krauss ist Professorin für Psychologie an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Sie leitet dort die Studiengänge Psychologie sowie Arbeits- und Organisationspsychologie und beschäftigt sich im Besonderen mit den Themen Langeweile, psychologische Auswirkungen der Digitalisierung und Resilienz.
Die Vorteile der Langeweile – oder: Warum wir ein bisschen Langeweile aushalten sollten
Ein wichtiger Aspekt bei allem Unwohlsein, das Langeweile auslöst: Auch erzwungene Pausen können für etwas gut sein. „Langeweile kann der Nährboden für geistige Aufgeräumtheit und Kreativität sein. Wenn man sie in kleinen Etappen aushält, führt das dazu, dass man sich besser fühlt, dass die physiologischen Parameter herunterfahren“, sagt Prof. Krauss. „Dann kann man innerlich anfangen, die aufgenommenen Reize zu sortieren. Man weiß aus neurologischen Studien, dass sich dabei die Hirnleistung verändert und diese Sortierprozesse zuträglich für Konzentration, Kreativität und Wohlbefinden sind.“
Die Forscher der Schweizer Studie zum Umgang mit Langeweile haben eine klare Empfehlung – zumindest im Bereich des Homeschoolings: eine möglichst ablenkungsfreie Gestaltung der Lernsituation und den Gebrauch einfacher Selbstregulationsstrategien. Auch Psychologin Krauss setzt auf Übung, gepaart mit Achtsamkeit: „Sich mal auf die Couch oder in den Garten setzen, das Handy zur Seite legen und schauen, was die Langeweile mit einem macht. Am Anfang ist es sicher sehr unangenehm, weil Langeweile aversiv erlebt wird. Das Aushalten kann man aber trainieren. Und dann entstehen möglicherweise ganz andere Ideen oder Kreativität.“ Ein Anfang könnte eine Tagesstruktur sein, die den Tag einteile, der kleinen Langeweile zwischendurch dennoch Zeit einräume. Bei anhaltend hohem Leidensdruck über einen längeren Zeitraum empfiehlt die Psychologin jedoch einen Besuch beim Psychotherapeuten: „Übermäßig erlebte Langeweile und psychische Erkrankungen sind oft miteinander verknüpft.“