Angst vor dem Telefonieren: Woher sie kommt – und was hilft

Immer mehr Menschen haben Angst vorm Telefonieren und meiden das einst so beliebte Kommunikationsmittel. Doch ist Telefonangst eine Störung, die behandelt werden muss? Oder ist sie gar nicht so problematisch, wie Betroffene sie wahrnehmen?

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 13. Apr. 2023, 08:34 MESZ
Frau schaut auf ihr Smartphone.

Wenn das Telefon klingelt, warten viele Menschen lieber, bis der Anrufer wieder auflegt, als ranzugehen. Die Angst vor einer unkontrollierbaren Situation ist zu groß.

Foto von Kev Costello / unsplash

Im Jahr 1992 kam mit dem Motorola International 3200 das erste Mobiltelefon auf den deutschen Markt. Der sogenannte Knochen war unhandlich und nur für wenige erschwinglich. Doch der erste Schritt zur uneingeschränkten Erreichbarkeit war getan und die Entwicklung schritt rasant voran: Laut dem Statistischen Bundesamt verfügten im Jahr 2018 bereits 96,7 Prozent der deutschen Haushalte über ein Mobiltelefon.

Was vor über 30 Jahren wie die Erfüllung eines futuristischen Traums erschien, ist heute für viele ein Fluch. Denn inzwischen gibt es immer mehr Menschen, die unter Angstsymptomen leiden, wenn ihr Telefon klingelt – und deshalb lieber nicht rangehen. Das gilt vor allem für junge Menschen: Laut der JIM-Studie 2018, für die der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen untersucht hat, vermeidet es fast jede fünfte Person zwischen 12 und 19 Jahren, Anrufe zu tätigen.

Konkrete Zahlen dazu, wie häufig diese Telefonphobie bei Erwachsenen auftritt, gibt es bisher nicht. Dr. Nadine Wolf, Oberärztin an der Klinik für Allgemeinpsychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg, erklärt, warum das so ist, was die Angst vorm Telefonieren auslöst, wie man ihr begegnen kann – und wieso das in manchen Fällen gar nicht nötig ist.

Frau Dr. Wolf, mir fiel es nicht leicht, Sie anzurufen: Telefonieren macht mich unglaublich nervös – und das geht vielen anderen Menschen auch so. Ist das eine neue Volkskrankheit?

Es gibt keine konkreten Zahlen zur Telefonphobie. Situationsspezifische Phobien, das heißt, übertriebene Ängste, die ausschließlich auf diese bestimmte Situation bezogen sind, spielen im wissenschaftlichen Diskurs kaum eine Rolle. Aber öffentlich und medial wird das Interesse größer, das merken wir. Im klinischen Alltag sehen wir eine Telefonangst am ehesten im Zusammenhang mit sozialen Phobien.

Was sind soziale Phobien?

Bei einer sozialen Phobie fürchtet man die prüfende Betrachtung oder Bewertung durch andere Menschen. Man spürt in diesen sozialen Situationen eine starke Angst. Also vermeidet man sie – das ist menschlich.

Wie äußert sich diese Angst?

Sie kann sich in körperlichen Phänomenen äußern, also Herzrasen, Zittern, Stottern, Angst vor Erbrechen und so weiter. Es treten auch kognitive Symptome auf: ein Leeregefühl im Kopf, wie eine Blockade, und starkes Grübeln davor oder danach. Bezogen auf das Telefonieren wäre das die Frage: Was habe ich gesagt? Beziehungsweise: Was soll ich sagen?

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    Klingt vertraut…

    Eine soziale Phobie ist eine häufige Angsterkrankung: Über die Lebensspanne können bis zu zwölf Prozent der Bevölkerung betroffen sein. Dabei trifft es Frauen häufiger als Männer – das Verhältnis ist da ungefähr drei zu zwei. Es gibt auch Studien, die im Kontext der sozialen Phobien gemacht wurden, die darauf hinweisen, dass Jugendliche stärker betroffen sind: Demnach könnten bis zu 17 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren darunter leiden.

    Woran liegt das?

    Wir haben heute viele neue Kommunikationsmittel. Vor allem das Smartphone, das das Telefonieren größtenteils überflüssig macht. Man könnte fast sagen, dass das Telefonieren in gewisser Weise Oldschool ist und junge Menschen eben andere Kommunikationswege nutzen: E-Mail oder Chat-Apps, wo man schriftlich kommuniziert.

    Schreiben dauert länger – warum ziehen es viele einem kurzen Telefonat vor?

    Das Gute an der schriftlichen Kommunikation ist, dass man zeitlich komplett unabhängig vom Gegenüber ist. Man kann eine Textnachricht verfassen, wann und wie man möchte, man kann antworten, wann und wie man möchte. Andererseits sind bei der schriftlichen Kommunikation aber etwa 90 Prozent der Kommunikationsmuster wie Mimik, Gestik und Betonung von Aussagen nicht sichtbar. Die sind komplett ausgeblendet, wenn man nur schreibt.

    Ist das problematisch?

    Nutzt man ausschließlich die Schriftform, werden diese Kommunikationsmuster nicht geübt. Bin ich dann aber gezwungen, zu telefonieren, befinde ich mich plötzlich in Echtzeit: Ich muss reagieren, flexibel und spontan sein – und das fällt vielen schwer. Ich weiß jetzt gerade zum Beispiel gar nicht, wie Sie gucken, wenn ich etwas sage und muss versuchen, das durch die Leitung zu decodieren. Wenn ich das nicht geübt habe oder nicht gewohnt bin, kann das ganz schön unangenehm sein. Deswegen – das ist meine Hypothese – tritt das Phänomen bei jüngeren Leuten verstärkt auf. Die ältere Generation hatte ja früher nur das Telefon.

    Also erlebt man beim Telefonieren eine Art Kontrollverlust?

    Das ist sicherlich ein wichtiger Teilaspekt. Kommuniziere ich schriftlich, kann ich Korrekturen vornehmen, muss nicht sofort reagieren und kann mir stundenlang überlegen, wie ich etwas formulieren möchte. Ich kann alles planen und habe somit viel mehr Kontrolle.

    “Personen, die Angst haben zu telefonieren, sind im sozialen Kontakt allgemein eher unsicherer – das muss nicht gleich ein Störungsausmaß haben. ”

    von Dr. Nadine Wolf
    Oberärztin, Klinik für Allgemeinpsychiatrie (Universitätsklinikum Heidelberg)

    Welche Sorgen haben Menschen mit Telefonphobie konkret?

    Sozialphobiker fürchten sich in erster Linie vor dem sozialen Kontakt und dessen negativen Folgen. Die Angst besteht davor, mit jemandem sprechen zu müssen. Das ist gekoppelt an Befürchtungen, also Gedanken, die ich mir über eine Situation mache und was darin passieren könnte. Dass ich nicht vorhersehen kann, was in dem Gespräch gefordert wird und ob es mir gelingen wird, mein Anliegen zu formulieren. Beginne ich, zu stottern, finde ich keine Worte, versteht der andere mich nicht – oder kommen Rückfragen, die mich bloßstellen könnten oder die ich nicht beantworten kann? Und da treten dann diese Effekte auf, die kognitiven Symptome gepaart mit der körperlichen Anspannung – schwitzen, zittern, Unruhegefühle.

    Haben die Betroffenen im persönlichen Kontakt denn dieselben Probleme wie am Telefon?

    Im klinischen Kontext ist es schwer zu sagen, ob eine Telefonphobie auch isoliert auftritt. Ich vermute eher nein. Personen, die Angst haben zu telefonieren, sind im sozialen Kontakt allgemein eher unsicherer – das muss nicht gleich ein Störungsausmaß haben. Jemand, der ganz extrovertiert und selbstsicher ist, wird sehr wahrscheinlich keine Schwierigkeiten haben, jemanden anzurufen und sein Anliegen zu transportieren.

    Was kann man gegen die Angst vorm Telefonieren machen? Manchmal muss es ja sein.

    Telefonphobie, so wie sie jetzt als neues Verhaltensmuster bezeichnet wird, sollte man nicht grundsätzlich pathologisieren. Heutzutage gibt es viele alternative Kommunikationsmittel und damit viele Möglichkeiten, das Problem zu umgehen.

    Also ist es eigentlich gar kein so großes Problem?

    Nur dann, wenn Betroffene darunter leiden und sich in ihrer Lebensführung eingeschränkt fühlen. Dann ist es natürlich wichtig, dass man ihnen die Angst nimmt. Aus psychiatrischer Sicht geht es dann erst einmal darum, herauszufinden, ob man das weiter abklären muss: Liegt hier nur eine isolierte Angst vor dem Telefonieren oder eine Störung vor, die man behandeln kann oder sollte. Wenn es nur isoliert darum geht, dass jemand Angst hat, zu telefonieren und diese Situation vermeidet, wäre die Strategie zu sagen: Ich vermeide die Situation nicht mehr, sondern fordere sie heraus und übe das Telefonieren.

    Wie macht man das?

    Das erfolgt, wie bei anderen Angsterkrankungen auch, in kleinen Schritten. Wenn ich vorher im Restaurant immer per E-Mail einen Tisch reserviert habe, nehme ich mir vor, stattdessen dort anzurufen. Das ist eine Situation, in der nicht so viel schief gehen kann, weil man sie gut planen kann: Ich kann mir überlegen, bei welchem Restaurant ich anrufe, an welchem Tag und zu welcher Zeit ich den Tisch reservieren möchte, mit wie vielen Personen ich komme und kann dieses Anliegen transportieren. Als nächstes buche ich dann einen Arzttermin nicht online, sondern rufe da an. So erweitert man das. Wenn ich Bekannte habe, mit denen ich sonst nur gechattet habe, telefoniere ich mit ihnen. Das kann ich steuern, indem ich die Situation vorbereite und vorher schreibe: „Könntest du morgen Abend um 20 Uhr eine halbe Stunde telefonieren?“

    Was hilft, wenn ich dann trotzdem wieder nervös werde?

    Am wichtigsten ist: Leicht anfangen, eine einfache Situation wählen. Das Ziel ist, solche Situationen ohne Hilfsstrategien zu bewältigen. Wenn ich jetzt aber einen wichtigen, unvermeidbaren Telefonanruf habe, den ich bewältigen muss, kann ich versuchen, bestimmte Strategien anzuwenden, die helfen, meine Anspannung zu regulieren. Zum Beispiel, indem ich einen Igelball in der Hand halte und mich damit parallel beschäftigte. Aber eigentlich ist es am besten, die Situation vorzubereiten, sie durchzuführen und hinterher zu merken: So schlimm war es gar nicht.

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