Röntgenaufnahme des Fußes eines 54 Jahre alten Patienten mit Hallux valgus.

Überbein am Fuß: Warum haben so viele Menschen einen Hallux valgus?

Der Ballenzeh ist die am häufigsten auftretende Fehlstellung des Fußes und kann sehr schmerzhaft sein. Stimmt es, dass er durch die falschen Schuhe verursacht wird? Tritt er erst ab einem bestimmten Alter auf? Und wie wird man ihn wieder los?

Röntgenaufnahme des Fußes eines 54 Jahre alten Patienten mit Hallux valgus. Die Fußfehlstellung kommt bei etwa einem Viertel der heutigen erwachsenen Bevölkerung vor.

Foto von Zephyr, SCIENCE PHOTO LIBRARY
Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 17. Mai 2024, 14:24 MESZ

Vor über 8.000 Jahren spazierten Menschen barfuß durch ein Gebiet, das an der heutigen Küste im Nordwesten Englands liegt, und hinterließen dabei Spuren. Einer der Fußabdrücke, der von einem männlichen Teenager stammt, stellt eine überraschende Verbindung zwischen den prähistorischen Jägern und Sammlern und uns modernen Menschen her: Der Ballen seines Fußes weist eine seitliche Wölbung auf – er hatte eine Fußfehlstellung namens Hallux valgus.

Der sogenannte Ballenzeh plagt Menschen also schon seit tausenden von Jahren. Aber wie entsteht er – und warum konnten bisher weder seine Ursache noch eine operationsfreie Behandlungsmethode gefunden werden? Wie kam es dazu, dass die Fehlstellung zu dem weit verbreiteten Leiden wurde, das sie heute ist und das die Wissenschaft bis heute rätseln lässt?

Verformter Fuß – ein Jahrtausende altes Problem

Es gibt viele archäologische und historische Belege dafür, dass Hallux valgus so alt ist wie die Menschheit selbst. Neben den Fußspuren in England wurden zum Beispiel auch Mumien aus dem Alten Ägypten mit Ballenzeh gefunden. 27 Prozent der Skelette aus dem 14. und 15. Jahrhundert, die bei Ausgrabungen in der Nähe von Cambridge, England, freigelegt wurden, wiesen die Fehlstellung auf. Bei älteren Funden lag der Anteil nur bei sechs Prozent. Das gibt Forschenden Anlass zu der Annahme, dass an der explosionsartigen Entwicklung von Ballenzehen ein spezielles mittelalterliches Schuhwerk schuld gewesen sein könnte: der Schnabelschuh mit seiner langen Spitze.

Was ist ein Hallux valgus?

Die Fehlstellung ist dadurch definiert, dass ein Zeh – meistens der Hallux, also der große Zeh – sich in Richtung der anderen Zehen lehnt. Weil dadurch das Zehengelenk nach außen gedrückt wird, verbreitert sich der Fuß. Die anderen Zehen werden dabei ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, was zu Nervenschmerzen, Taubheit, Hautentzündungen, Schwielen und Hühneraugen, Schwellungen und Rötungen und sogar Hammer- und Krallenzehen führen kann. Statt des großen kann auch der kleine Zeh betroffen sein – in diesem Fall spricht man von einem Schneiderzeh, der jedoch weitaus seltener vorkommt.

Ballenzehen sind heute die am häufigsten auftretende Fußfehlstellung. Die Schätzungen schwanken zwar etwas, im Schnitt wird aber davon ausgegangen, dass ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung einen Hallux valgus hat – mehrheitlich Frauen und Menschen, die 65 Jahre oder älter sind. In den meisten Fällen verursachen Ballenzehen keine größeren Beschwerden. In schlimmen Fällen können sie jedoch die Lebensqualität und Bewegungsfähigkeit stark einschränken und chronische Schmerzen und Stürze auslösen.

Aus evolutionärer Sicht ergibt es keinen Sinn, dass der Hallux valgus sich durchsetzen konnte – eigentlich sollte die natürliche Selektion Füße begünstigen, die sich nicht mit der Zeit verformen. Dass das Problem trotzdem so weit verbreitet ist, könnte Forschenden zufolge am einzigartigen Aufbau des menschlichen Fußes liegen.

Im Jahr 2017 wurden im Rahmen einer Studie anhand von Museumsspezimen Aufbau und Funktionsweise des Mittelfußknochens bei Menschen, Schimpansen und Gorillas untersucht. Dabei stellten die Wissenschaftler*innen beim Menschen im Vergleich zu den mit ihm verwandten Primaten eine „erhebliche Umstrukturierung“ des großen Zehs fest. Primaten nutzen diesen zum Greifen, Menschen hingegen zum Laufen. Dabei werden Muskeln und Bänder, die den Zeh umgeben, stark belastet – und das kann dazu führen, dass sich das Großzehengelenk zur Seite verschiebt.

Ergebnislose Suche nach einer Ursache

Was konkret die Fehlstellung verursacht, ist allerdings bis heute nicht geklärt. Möglicherweise spielen die Gene eine Rolle: Im Jahr 2007 nahmen 350 Menschen, die über schmerzende Ballenzehen klagten, an einer Studie teil. Befragt nach dem Auftreten von Hallux valgus in ihren Familien gaben 90 Prozent an, dass mindestens ein Familienmitglied der letzten drei Generationen einen hatte.

Laut Timothy Miller, Podologe und Fuß- und Knöchelchirurg in Orlando, Florida, ist das Erbgut jedoch nicht der einzige Faktor. „Der zweithäufigste Grund ist der Fuß-Typ“, sagt er. Personen mit niedrigem Fußgewölbe neigen ihm zufolge eher zu Ballenzehen, weil die Bänder und Muskeln des großen Zehs zu locker sind.

Miller zufolge spielt aber auch die Wahl des Schuhwerks eine Rolle. „Unsere Füße sind dafür gemacht, auf Gras und weichen Böden zu laufen“, sagt er. „Heutzutage bewegen wir uns aber meistens auf Asphalt und anderen harten Untergründen fort – und viele Schuhe federn das nicht gut ab.“ Wenn die Schuhe diese Funktion nicht erfüllen, passt sich der Fuß langsam den Gegebenheiten an. Dadurch werden Hüfte und Wirbelsäule geschützt, doch der Fuß selbst wird anfällig für Ballenzehen und andere Fehlstellungen.

BELIEBT

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    Kann man Ballenzehen auch ohne Operation behandeln?

    Ist ein Ballenzeh entstanden, kann der Prozess mit unterstützenden Schuhen und Dehnungsübungen verlangsamt werden – rückgängig machen kann man den Hallux valgus damit aber nicht. „Wenn der Ballenzeh erst einmal da ist, lässt er sich nur operativ entfernen“, sagt Miller. Jährlich führt er hunderte dieser meist ambulanten Operationen durch.

    Zwar sei jeder Fall ein bisschen anders, eigentlich immer werde aber ein Stück vom Knochen entfernt und das Bindegewebe mit Drähten und Platten gestützt, um den ursprünglichen Aufbau des Fußes wiederherzustellen. Manchmal sei auch ein Gelenkersatz oder eine Versteifung nötig. Die Heilung nach einer solchen OP dauere mehrere Monate. Podolog*innen betonen immer wieder, dass es sich bei diesem Eingriff nicht um eine Schönheitsoperation handelt. Durch fortschrittliche Techniken ist es im Laufe der Zeit gelungen, die Eingriffe weniger invasiv durchzuführen, was zu besseren Ergebnissen und kürzeren Heilungszeiten geführt hat.

    Weil gegen den Ballenzeh nur Operationen helfen, ist es nicht überraschend, dass es im Internet vor verrückten und oft nutzlosen Tipps rund um den Hallux valgus nur so wimmelt. Über die Methoden kann Miller nur lachen.

    „Epsom Salz soll angeblich helfen“, sagt er. „Oder Fußbäder in Apfelessig.” Nichts davon sei wirklich wirksam – und tatsächlich ist das Internet einer der schlechtesten Orte, um an verlässliche Informationen zu Ballenzehen zu kommen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2013 können nur 24 Prozent der Webseiten zu dem Thema als akkurat und auf dem neuesten Stand bezeichnet werden. Eine Analyse aus dem Jahr 2022 hat gezeigt, dass fast zwei Drittel aller Online-Quellen zu der Fehlstellung nicht transparent sind.

    Falsche Informationen, falsche Scham

    Trotzdem herrscht in Bezug auf den Hallux valgus ein gewisser DIY-Ethos, der von Influencern angefeuert wird, die in den sozialen Medien immer neue Geräte und Verfahren zur Behandlung anpreisen. Viele Betroffene investieren laut Miller zum Beispiel in Ballenschienen, die lediglich die Symptome, nicht aber die Fehlstellung behandeln.

    „Die bringen nichts“, sagt er. „Sobald man sie abnimmt, ist der Ballenzeh wieder da.“ Statt sein Geld für vermeintlich schnelle, in Wahrheit aber unnütze Therapieversuche auszugeben, rät er dazu, schnellstmöglich medizinischen Rat einzuholen, sobald man einen Ballenzeh bemerkt. Je früher man mit der Behandlung beginne, desto besser die Ergebnisse. „Patient*innen bereuen es oft, nicht früher gekommen zu sein“, so Miller.

    Wer sich in dieser Situation wiederfindet, ist nicht allein. Die Ballenzeh-Industrie hat einen jährlichen Umsatz von 730 Millionen US-Dollar. Viele denken aber, ihr Ballenzeh sei keiner oder er müsste nicht behandeln werden, weil sie dem hartnäckigen Klischee glauben, die Fehlstellung beträfe nur ältere Menschen.

    „Meine Patient*innen sind zwischen zehn und 98 Jahren alt“, sagt Miller. „Wenn man also Schmerzen hat, sollte man jegliche Scham ablegen und sich in ärztliche Behandlung begeben – man ist da in bester Gesellschaft.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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