Cyberkrankheit: Warum endloses Scrollen körperlich krank macht

Einst war Cyberkrankheit hauptsächlich ein Problem für Nutzer von VR-Headsets. Mittlerweile treffen die Symptome immer mehr Menschen, die viel Zeit an Bildschirmen verbringen. Ein paar Tricks können Erleichterung bringen.

Von Julia Sklar
Veröffentlicht am 19. Mai 2021, 14:28 MESZ
Forscher haben herausgefunden, dass Virtual Reality (VR) Headsets Cyberkrankheit verursachen können, die sich als Schwindel und ...

Forscher haben herausgefunden, dass Virtual Reality (VR) Headsets Cyberkrankheit verursachen können, die sich als Schwindel und Übelkeit manifestiert, ähnlich wie bei Reisekrankheit. Da die Beschäftigung mit digitalen Geräten von Laptops bis hin zu Smartphones zunimmt, berichten einige Benutzer nun auch ohne VR-Headset von Cyberkrankheit.

Foto von Illustration by Victor de Schwanberg, Science Photo Library

Als sich eine dunkle Aschewolke, die durch Waldbrände entstanden war, über Seattle legte, gehörte Jack Riewe zu den Millionen von Menschen, die plötzlich gezwungen waren, drinnen zu bleiben. Es war September 2020, und ohne Zugang zur Außenwelt während einer Pandemie wurde es für den 27-jährigen Schriftsteller noch schwieriger, andere Menschen zu sehen. Er konnte seine Tage nur damit füllen, an seinem Computer zu arbeiten, fernzusehen oder endlos auf seinem Smartphone durch Updates zu den Bränden zu scrollen.

„Ich war gezwungen, drinnen in meiner viel zu warmen Wohnung zu bleiben, ohne irgendeinen Ausweg außer dem Wahnsinn, der auf Twitter passiert“, sagt er.

Eine Woche lang scrollte er und scrollte und scrollte, bis er sich „niedergeschlagen, schwindelig und unwohl“ fühlte. Damals schrieb er diese Symptome der Luftqualität zu oder fragte sich sogar, ob er sich mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Die Ursache war jedoch etwas Heimtückischeres: der körperliche Tribut eines Lebens, das fast ausschließlich in einer virtuellen Welt stattfindet.

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Die Pandemie hat die meisten von uns in einem nie dagewesenen Ausmaß ins Internet gezwungen. Dort haben wir gearbeitet, Kurse belegt, Partys gefeiert und uns in den Nachrichtenzyklen des Jahres 2020 verloren. Aber unsere Körper sind nicht dafür gemacht, hauptsächlich in einem virtuellen Raum wie diesem zu existieren. Und während unsere kollektive digitale Zeit immer weiter zunimmt, scheint die sogenannt Cyberkrankheit in die allgemeine Bevölkerung zu sickern.

Cyberkrankheit zeichnet sich durch Schwindel und Übelkeit aus. Bisher wurde sie hauptsächlich im Zusammenhang mit aggressiven Nischentechnologien wie Virtual-Reality-Headsets untersucht. Im Jahr 2011 hatten 30 bis 80 Prozent der Nutzer von Virtual-Reality-Headsets eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, von Cyberkrankheit betroffen zu sein. Verbesserte Headset-Hardware senkte diese Zahl bis 2016 auf 25 bis 60 Prozent.

Nun scheint es so, dass auch die Scrollbewegung in der Netflix-App oder einem Social-Media-Newsfeed Cyberkrankheit verursachen kann, wenn sie unter außergewöhnlichen Umständen verwendet wird: jeden Tag, den ganzen Tag.

„Jede Art von wahrgenommener Bewegung wird zu Cyberkrankheit führen“, sagt Kay Stanney, CEO und Gründer von Design Interactive, einem kleinen Unternehmen, das Human System Integration erforscht. „Cyberkrankheit durch Virtual Reality oder Augmented Reality ist nur eine Art Cousin zu anderen Formen der Übelkeit, die mit wahrgenommener Bewegung zusammenhängen, und Scrollen wäre eine weitere Form.“

Altes Leiden in neuem Gewand

Cybersickness ist eigentlich nur der neueste Neologismus, um den ständigen Kampf zwischen dem menschlichen Körper und einer Welt zu beschreiben, die wir kontinuierlich mit Technologie umgestalten. Cyberkrankheit ist Raumkrankheit ist Autokrankheit ist Seekrankheit.

Berichte über Krankheiten, die durch eine unangepasste Wahrnehmung hervorgerufen werden, reichen bis ins Jahr 800 v. Chr. zurück, als die alten Griechen über eine „Seeplage“ schrieben. Trotz ihrer wichtigen Rolle für Handel, Krieg und Migration konnten Schiffe für manche Passagiere so unerträglich sein, dass Übelkeit nicht nur ein Symptom der Seekrankheit war, sondern das einzige Wort dafür. Das englische Wort für Übelkeit, nausea, stammt vom griechischen Wort für Schiff: naus.

Um 300 n. Chr. begannen die alten Chinesen, Übelkeit mit ihren diversen Ursachen zu dokumentieren. Sie hatten spezifische Worte, um jede einzelne Erfahrung zu beschreiben: Das Reisen in einem Karren sorgte bei manchen für zhuche, den „Einfluss des Karrens“, während ein Schiff zhuchuan oder den „Einfluss des Schiffs“ verursachte.

Nach heutigem wissenschaftlichen Verständnis liegt der Schlüssel zu allen Formen der Reisekrankheit im vestibulären System: die Kombination von Sinnesorganen im Innenohr und im Gehirn, die das Gleichgewicht und die räumliche Orientierung kontrolliert. Wenn es Bewegung wahrnimmt, während das visuelle System dies nicht tut, kann die Dissonanz dazu führen, dass man sich übergibt oder sich zumindest schwindlig und wackelig auf den Beinen fühlt.

BELIEBT

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    “Klinisch gibt es absolut keinen Unterschied zwischen [Reisekrankheit und Cyberkrankheit]. ”

    von Eugene Nalivaiko, University of Newcastle

    Der neue Aspekt des 21. Jahrhunderts ist, dass all das im virtuellen Raum umgedreht wird. Anstatt sich zu bewegen, während man das Gefühl hat, still zu stehen – wie vielleicht auf einem Boot, während man auf den unbeweglichen Horizont schaut –, steht man diesmal still, nimmt aber Bewegung wahr. Und das schafft ein ähnliches Problem für den Körper.

    „Klinisch gibt es absolut keinen Unterschied zwischen den beiden Zuständen“, sagt Eugene Nalivaiko. Der außerordentliche Professor an der University of Newcastle in Australien hat sowohl die allgemeine Reisekrankheit als auch die Cyberkrankheit eingehend untersucht: „Sie haben dieselben Symptome, dieselben Empfindungen, alles ist gleich.“

    Je mehr Scrolling, desto schlimmer die Symptome

    Sarah Colley, eine 30-jährige Content Marketerin in Asheville, North Carolina, bemerkte die schlimmsten Symptome ihrer Cyberkrankheit im März 2021. Ihre Bildschirmzeit stieg während einer arbeitsintensiven Deadline sprunghaft an, als sie mehrere Tage lang 10 bis 12 Stunden am Stück an ihrem Computer verbrachte. Zusätzlich zu Schwindel und Übelkeit sagte sie, dass der Bildschirm selbst herumzuspringen schien, was es schwierig machte, sich zu konzentrieren. Auch ein Gefühl der Beklemmung legte sich über sie.

    „Wenn ich auf denselben Bildschirm starre und er sich nicht wirklich bewegt, stört mich das nicht. Aber wenn ich scrolle, dann wird es wirklich ein Problem“, sagt sie. „Selbst wenn ich meine Augen schließe, habe ich das Gefühl, dass sich alles dreht.“ Nach dem Vorfall im März musste sie sich vier Tage von der Arbeit freinehmen, um sich vollständig zu erholen – ein Luxus, den sie sich bei ihrem früheren Job, der ihr keine Sozialleistungen bot, nicht hätte leisten können.

    Für Colley verschlimmerte die Zunahme des Remote-Arbeitens und –Lebens die leichten Symptome der Cyberkrankheit, die sie schon vor der Pandemie periodisch erlebt hatte. Aber für die meisten Menschen ist es ziemlich neu, mehr Zeit online zu verbringen, daher gibt es noch nicht besonders viel gezielte Forschung auf diesem Gebiet. Unser Verständnis des Phänomens stützt sich daher größtenteils auf Erkenntnisse aus der Virtual-Reality-Forschung.

    Ein Auslöser für Cyberkrankheit scheint die Zeit zu sein, die man in einer digitalen Welt verbringt. Laut Stanney stimmt das mit ihrer Forschung zu Virtual-Reality-Headsets sowie Prismen, 3-D-Displays und 2-D-Displays überein. Merkwürdigerweise gilt diese Regel nicht für Augmented Reality. Am Tag vor unserem Gespräch hatte Stanney gerade die Daten einer neuen, von ihr geleiteten Studie gesichtet, die noch nicht veröffentlicht wurde, und dabei ein überraschendes Muster entdeckt.

    „Vor dieser aktuellen Studie hätte ich klar gesagt: Je länger man sich in so einer Situation befindet, desto stärker ist man beeinträchtigt. Aber Augmented Reality verhält sich anders als Virtual Reality: Je länger man da drin war, desto besser fühlte man sich, was sehr seltsam ist“, sagt sie. „Ich versuche immer noch, herauszufinden, was das genau bedeutet.“

    Für gewöhnlich, sagt Stanney, ist mehr Zeit im digitalen Raum jedoch nicht besser. Wenn man ein paar Minuten durch Instagram scrollt, zwischen geöffneten Fenstern auf dem Laptop hin und her wechselt oder Netflix besucht, um eine bestimmte Sendung zu sehen, mag das harmlos sein. Aber wenn sich diese Aktivitäten über Stunden hinziehen, wie es bei Lockdowns der Fall ist, kann einem durch die ständige Bewegung auf dem Bildschirm übel werden.

    Stanney würde auch darauf wetten, dass es nicht nur die erhöhte Bildschirmzeit ist, die das Phänomen mit alltäglichen Geräten verursacht. Vor der Pandemie erlebten die Menschen regelmäßiger Bewegung in viele Richtungen, da wir in Flugzeugen flogen und regelmäßig Fahrten in Autos und U-Bahnen unternahmen. Aber im letzten Jahr haben viele Menschen das wirklich zurückgeschraubt: Wir gehen, wir stehen, wir sitzen und wir legen uns hin.

    Ruhesysteme können helfen

    Diese Verschiebung könnte dazu führen, dass manche Menschen weniger widerstandsfähig gegenüber einer Art von digitaler Bewegung sind, die sie früher toleriert haben, ohne zu bemerken, dass sie eigentlich eine Belastung für ihr System darstellt. „Wenn wir diese Diskrepanz zwischen visueller Bewegung und Ruhe sehen – und derzeit halten wir uns meist im Ruhezustand auf –, ist die Diskrepanz vielleicht stärker geworden“, sagt Stanney.

    Zum Beispiel denkt man vielleicht, dass man nachts in völliger Ruhe und Dunkelheit still im Bett liegt – bis auf einen Finger, der durch Twitter scrollt. Aber Stanney sagt: „Tatsächlich könnte das Liegen im Bett wahrscheinlich eines der schlimmsten Dinge sein, die man dabei tun kann.“ Da es die entspannteste Situation ist, in der sich das vestibuläre System befinden kann, ist es besonders schwierig, anhaltende Bewegungen auf einem Bildschirm damit zu vereinbaren.

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    Ein Faktor ist das Fehlen sogenannter Ruhesysteme, also die realen Wände oder Böden um einen herum, die als stabilisierende Signale für das Gehirn dienen. Ein Telefon im Dunkeln nur wenige Zentimeter vom Gesicht entfernt zu halten, ahmt die Umgebungsbedingungen der virtuellen Realität nach – wenn das Ruhesystem wegfällt – und ist daher auf Dauer möglicherweise ähnlich schwer zu ertragen. Wissenschaftler haben noch keine empirischen Beweise dafür, dass Ruhesysteme Nutzern helfen, Augmented Reality länger zu tolerieren als Virtual Reality. Aber Stanney spekuliert, dass dies der Fall sein könnte, und sie empfiehlt, die Nutzung des Telefons entsprechend zu optimieren.

    „Wenn das Telefon etwas weiter weg wäre, oder wenn man sich in einem beleuchteten Raum befände, könnte das helfen, einige dieser unerwünschten Folgen zu mindern“, rät sie.

    Wenn man sich nicht ausloggen kann, stimmt auch Nalivaiko zu, dass es helfen könnte, das Blickfeld zu verändern. Das geht beispielsweise, indem man das Telefon anders hält oder langsamer scrollt, um die Kontrolle über die Bildrate zu haben – ein weiterer Übelkeit auslösender Faktor der digitalen Bewegung. Seine Forschungen an Tiermodellen deuten auch darauf hin, dass eine kühle Umgebung die Reisekrankheit verhindern kann. Für Riewe könnte der erzwungene Aufenthalt in seiner heißen Wohnung seine starken Symptome ausgelöst haben.

    „Wenn man darüber nachdenkt, was Menschen während der Reisekrankheit empfinden, sieht man: Sie schwitzen, ihnen wird heiß und sie wollen an die frische Luft“, sagt Nalivaiko.

    Toxisch auf die eine oder andere Art

    Reisekrankheit und Cyberkrankheit sind mittlerweile beide unglaublich gut dokumentiert sind. Dennoch ist es für die Forscher nach wie vor ein Rätsel, warum eine Diskrepanz zwischen dem vestibulären und dem visuellen System überhaupt Übelkeit hervorrufen kann.

    „Wir haben zwei aversive Empfindungen: Wir haben Schmerz und wir haben Übelkeit“, sagt Nalivaiko. „Beides kommt zum Einsatz, wenn Mutter Natur will, dass wir etwas nicht noch einmal tun. Aber was genau die Übelkeit verhindern soll, wissen wir nicht.“

    Schmerz sendet eine klare Botschaft: Du hasst dieses Gefühl? Dann halte einfach nie wieder deine Hand über eine Flamme. Aber Übelkeit ist allmählicher, nuancierter und unvorhersehbarer. Das trifft insbesondere zu, wenn sie mit einer Aktivität verbunden ist, die nicht offensichtlich gefährlich zu sein scheint, zum Beispiel zu segeln oder durch das Smartphone scrollen.

    Die führende Hypothese ist, dass es sich um eine Fehlzündung eines Reflexes handelt, der sich entwickelt hat, um uns vor Giftstoffen zu schützen. Alkohol kann beispielsweise, wenn er zu schnell oder zu reichlich getrunken wird, dafür sorgen, dass sich ein Raum zu drehen scheint – auch wenn man schwören könnte, dass man mit den Füßen fest auf dem Boden steht. Alkohol kann bei übermäßigem Genuss sogar tödlich sein. Der menschliche Körper assoziiert dieses Schwindelgefühl dementsprechend mit einer Bedrohung und löst Übelkeit aus, um das Gift auszuscheiden.

    Wenn wir nun die gleiche vestibuläre und visuelle Fehlanpassung erleben, die durch nicht bedrohliche Faktoren wie Smartphones ausgelöst wird, denkt unser Körper, dass wir in großer Gefahr sind. Es ist eine treffende Metapher für die toxische Umgebung, die online in Kommentarspalten zu finden ist. Am Ende könnte sich die Cyberkrankheit auf Umwegen als genauso effektiv erweisen wie die Abwehr von echtem Gift.

    Als Riewe schließlich von der Cyberkrankheit erfuhr, „war das so ein Aha-Erlebnis“, sagt er. „Ich habe sofort mein Handy weggelegt und angefangen, mein Buch zu lesen. Ich musste mich nicht mehr übergeben, sondern schlief glücklich ein.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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