Portrait von Tara-Louise Wittwer.

Junge Männer, alte Rollenbilder: Steckt die Männlichkeit in der Krise?

Von Alpha-Males bis Tradwives – traditionelle Rollenbilder feiern gerade ein Comeback auf Social Media. Warum? Ein Gespräch mit Kulturwissenschaftlerin und Autorin Tara-Louise Wittwer über toxische Männlichkeit und Politik.

Tara-Louise Wittwer ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und SPIEGEL-Kolumnistin. Auf Social Media klärt sie unter dem Namen wastarasagt über Misogynie – Frauenhass –, Feminismus und toxische Männlichkeit auf. Mehr als eine halbe Million Menschen schauen ihr täglich dabei zu. 

Foto von Lewis Jones, We Are Era
Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 28. März 2025, 15:35 MEZ

Nach der Bundestagswahl ging ein Foto der CDU/CSU-Parteispitze viral: Sechs weiße Männer mittleren Alters lächeln darauf in die Kamera. Frauen: Fehlanzeige. Der Bundestag wird wieder männlicher und der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ist nicht gerade bekannt dafür, Frauenrechte zu fördern. Du setzt dich jeden Tag für Feminismus ein. Wie sehr frustriert dich diese Entwicklung?
Natürlich sehr, es ist wirklich besorgniserregend. Die Lösung kann nicht sein, dass wir in ein veraltetes System zurückkehren und Männer die Kontrolle über Frauen zurückbekommen. Die Lösung muss sein, dieses System zu hinterfragen und im Einklang zusammenzuleben. Und Einklang heißt nicht: Ein Mann kontrolliert Frauen und die müssen den Mund halten. 

Das Foto der CDU/CSU-Parteispitze ging vor kurzer Zeit viral. „Auf diesem Foto sind mehr Türen als ...

Das Foto der CDU/CSU-Parteispitze ging vor kurzer Zeit viral. „Auf diesem Foto sind mehr Türen als Frauen“ scherzten einige User*innen auf Social Media.

Foto von @Markus_Soeder/X

Nicht nur in der Politik sieht man einen Rückschritt in Sachen Gleichberechtigung. In den sozialen Medien drehen Männer Videos, in denen sie erklären, dass ein ‚echter‘ Mann für seine Frau sorgt und sie beschützt. Frauen inszenieren sich wiederum als sogenannte Tradwives, die für ihre Männer kochen und putzen. Warum trenden diese alten Rollenbilder gerade wieder?
Wir stecken in einer Zeit allgemeiner Krisen. Dann sucht man sich Stabilität – und die findet man häufig in Systemen, die man schon kennt. Das reicht von rechtspopulistischen Ansichten bis zu alten Rollenbildern, wo Frauen sich um die Familie kümmern statt Start-ups zu gründen. Wenn die Stabilität im Außen fehlt, wünschen viele sich zumindest im eigenen Zuhause Klarheit und eine einfache Rollenverteilung. Und so ist man gerade wieder händeringend auf der Suche nach Konzepten, die das Patriarchat in einer Weise rebranden und es wieder schmackhaft für die Gen Z machen. Damit man Frauen weiterhin legitim unterdrücken kann und sie auch noch gerne dabei mitmachen. 

Man wundert sich: Viele junge Männer wurden viel progressiver erzogen, haben teilweise vielleicht auch andere Vorbilder zuhause gehabt. Ist die Männlichkeit in einer Krise?
Männlichkeit ist in den letzten Jahrzehnten komplexer geworden, Feminismus lauter. Da haben viele Männer das Gefühl, nicht mehr gesehen, gehört und vor allem nicht mehr gebraucht zu werden. Außerdem gibt es zu jeder Bewegung auch Gegenbewegungen. Aktuelle Studien zeigen: Je liberaler und progressiver junge Frauen gerade werden, desto konservativer werden junge Männer. Die Differenz dazwischen wird immer größer – vor allem in Südkorea, im Vereinigten Königreich und in Deutschland. Ein Grund dafür sind die anhaltenden Krisen, ein anderer ist gesellschaftlicher Druck. Männer müssen neue Rollen finden, hören von „sanfter Männlichkeit“, sollen emotional und unterstützend sein. Gleichzeitig propagieren Figuren wie Andrew Tate das Gegenteil: Dominanz und Aggression. Dieser Widerspruch kann verunsichern. 

Also flüchten sich junge Männer aus Unsicherheit in alte Rollenbilder?
Das ist zumindest ein Grund. Ich kann verstehen, dass sich manche Männer verloren oder abgehängt fühlen. Das ist aber kein Grund, seine Frustration auf Frauen zu projizieren und sie für die Situation verantwortlich zu machen. Wer sich orientierungslos fühlt, weil die Unterdrückung von Frauen nicht mehr so greift, wie man sich das einmal ausgedacht hat, sollte nach neuen Wegen suchen – nicht nach Mitleid. 

Es gibt aber offenbar auch junge Frauen, die sich nach alten Rollenbildern sehnen – zum Beispiel danach, Hausfrau zu sein?
Wenn eine Frau sagt, dass das ihr größter Traum ist, dann sage ich: Go for it. Hausfrau und Mutter sein ist ein anstrengender Job. Aber das wird im traditionellen Rollenbild eben nicht honoriert. Die Arbeit im Haus wird da als nettes Hobby gesehen, während Männer als Ernährer gelten. Traditionelle Werte sind immer vom Patriarchat und der Unterdrückung von Frauen gekennzeichnet. Männer mussten ja eigentlich auch nur Versorger sein, weil sie Frauen systematisch von Bildung und Erwerbsarbeit ausgeschlossen haben. Ähnliches gilt für den Mann als Beschützer: Männer sind Frauen in den meisten Fällen körperlich überlegen. Das könnten sie nutzen, um sie zu beschützen. Aber müssten Frauen überhaupt vor jemandem beschützt werden, wenn es das Patriarchat nicht gäbe? 

Toxische Männlichkeit ist ein Begriff, den man aktuell viel liest und hört. Schließt das diese traditionellen Werte mit ein? 
Toxische Männlichkeit ist das alles, nur ein bisschen lauter. Sie ist vor allem sehr wütend. Frauen sollen nicht arbeiten, sondern zuhause bleiben, Männer sind aggressiv, beschützend und eifersüchtig, weil Eifersucht ein Beweise für Liebe ist… Alpha Males würden mir jetzt wahrscheinlich widersprechen und behaupten, sie seien einfach sehr fokussiert, auf sich bedacht und diszipliniert. Aber das sind Frauen ja auch. Das sind keine exklusiv männlichen Eigenschaften.

Für deine feministischen Positionen bist du nicht überall beliebt: Du bekommst viele Reaction-Videos und Hass-Kommentare. Wer sind die Menschen, die sich von dir angegriffen fühlen?
Häufig sind es Männer, die ich eigentlich gar nicht als Person angreife, und die nicht verstehen, worum es geht: Es geht in meinen Positionen nicht um einzelne Menschen, sondern um ein gesellschaftliches Konzept, das toxisch ist. Doch anstatt das zu reflektieren, schreiben sie lieber in die Kommentarspalten „not all men…“ – „Nicht alle Männer sind so“. Oder unterstützen andere Männer in ihrem Verhalten, anstatt sie zum Beispiel darauf hinzuweisen, dass sie eine Frau nicht sexuell belästigen sollten. Viele Männern verteidigen offensichtlich immer noch lieber ihre Kumpels als Frauen. 

BELIEBT

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    Plato und Aristoteles stehen im Mittelpunkt während Menschen um sie herum stehen.

    Warum, meinst du, ist das so?
    Wenn du in der Position mit den meisten Privilegien bist und merkst, da will jemand ran und diese Privilegien auch anderen zugänglich machen, dann bist du natürlich erstmal nicht zufrieden. Dabei wollen Frauen Männern gar nichts wegnehmen. Wir wollen einfach nur Gleichberechtigung.

    Das sehen manche anders. Der Soziologe Walter Hollstein zum Beispiel erklärt Männer in einem Artikel zu Emanzipationsverlierern. Sie hätten häufiger schlechtere Schulabschlüsse als Frauen, seien vermehrt arbeitslos und begingen öfter Suizid… 
    Kann es vielleicht sein, dass nicht die Emanzipation, sondern das Patriarchat etwas damit zu tun hat? Ich denke, dass man Männern eingeimpft hat, nicht über ihre Gefühle, Emotionen und Probleme zu reden. Deswegen werden Depressionen bei ihnen viel schlechter erkannt. Männer gehen weniger zur Psychotherapie als Frauen. Da müsste man ansetzen, nicht bei der Emanzipation. Und wenn Männer schlechtere Schulabschlüsse machen und häufiger arbeitslos sind, liegt das dann wirklich an den Frauen? Wenn Frauen angeblich schon so in der Übermacht sind, warum spiegelt sich das nicht auf dem Arbeitsmarkt wider? Warum sind dann die ganzen Top-Positionen nicht von ihnen besetzt? 

    Also ist das Patriarchat an allem Schuld?
    Könnte man so sagen. Patriarchales Verhalten schadet nicht nur Frauen, sondern der ganzen Gesellschaft – auch Männern selbst. Wenn diese Wut, die man fühlt, nicht raus kann, kommt es nämlich zu diesen höheren Suizidraten und Suchtkrankheiten. Dann tritt man nach unten, wählt rechter, übt vielleicht Gewalt gegen seine Partnerin aus. Ich weiß nicht, ob ich es unbedingt toxische Männlichkeit nennen würde oder ob das nicht einfach frustrierte Männer sind. Ich würde sagen, das sind die frustrierten Folgen einer Orientierungslosigkeit, die aus Fragen resultiert wie „Was wollen wir von Männern?“ und „Was wollen Männer in der Gesellschaft sein?“. 

    Wie ließe sich das ändern?
    Viele Personen arbeiten gesellschaftliche Zuschreibungen und Glaubenssätze auf und trainieren sie sich ab. Ich arbeite zum Beispiel auch seit sieben Jahren daran, meine internalisierte Misogynie Stück für Stück abzulegen. Um zu sehen, dass andere Frauen weder meine Konkurrenz noch böse oder gemein sind oder mir etwas Schlechtes wollen. Die gleiche Arbeit müssen auch Männer investieren. Es ist zu einfach, jetzt dichtzumachen und Frauen für die eigene Unzufriedenheit verantwortlich zu machen. 

    Was könnte man als Mann stattdessen tun?
    Frauen zuhören und sich zurücknehmen. Eben nicht direkt mit „Ja, aber…“ oder „Nicht alle Männer…“ zu antworten. Man kann auch in einer Therapie lernen, über seine Gefühle und Frustrationen zu reden. Und zu schauen: Sind das gerade meine gelebten Gefühle und meine Realität oder ist das auch mit aktuellen Statistiken und Informationen vereinbar? In einer Therapie lernt man auch, was man gegen seine negativen Gefühle tun kann. 

    Inwiefern siehst du die Politik mehr in der Pflicht? 
    Natürlich viel stärker, aber da passiert momentan fast gar nichts. Es ist gut, dass mittlerweile so viel über Rassismus als Diskriminierungsform gesprochen wird. Aber es müsste auch viel mehr über Frauenhass als Diskriminierungsform gesprochen werden. Nicht nur rassistische Attentate sind politisch motivierte Taten, Frauenhass und daraus resultierende Femizide sind das auch. Jeden zweiten Tag wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner umgebracht, weil er einen Anspruchsgedanken hat, der ihm durch das Patriarchat eingeimpft wurde. Manche Männer denken, sie hätten ein Recht auf eine Frau. Dieser Gedanke entspringt einer tiefen Misogynie. Der Wunsch mancher Männer nach Überlegenheit und Dominanz ist etwas, wo man meiner Meinung nach in der Wurzel ran muss. 

    Was könnte eine politische Aufarbeitung bewirken?
    Man könnte zeigen, dass das ultimative Ziel für Männer vielleicht nicht sein sollte, wieder zu herrschen und gebraucht zu werden – und dabei aggressiv und wütend sein zu dürfen. Vielleicht könnte das neue Ziel sein, seine eigene Männlichkeit neu zu evaluieren. Dazu gehört dann möglicherweise auch, seiner Freundin zuzuhören und ein emotional zugänglicher Partner und eine emotionale Stütze zu sein.

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