12 Theorien, wie wir Menschen wurden, und warum sie alle falsch sind

Mörder? Hippies? Werkzeugmacher? Köche? Die Wissenschaft ist sich nicht einig, was das Wesen des Menschen ausmacht – und wann und wie wir uns diese Eigenschaft angeeignet haben.

Von Mark Strauss
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Diese in Israel gefundene primitive Handaxt ist 790.000 Jahre alt und wurde wahrscheinlich von einem Homo erectus hergestellt. Die ältesten Steinwerkzeuge sind 3,3 Millionen Jahre alt.
Foto von Kenneth Garrett, National Geographic Creative

Der Mensch ist ein Kunstwerk! Bis hierhin sind sich alle einig. Doch was genau hebt den Homo sapiens von anderen Tieren, vor allem von Affen ab, und wann und wie haben sich unsere Vorfahren dieses gewisse Etwas angeeignet? Im letzten Jahrhundert sind dazu die unterschiedlichsten Theorien entstanden. Manche von ihnen verraten allerdings mehr über die Zeit, in der sie aufgestellt wurden, als über die menschliche Evolution.

1. Wir stellen Werkzeuge her: „Es ist die Herstellung von Werkzeugen, die uns einzigartig macht“, schrieb der Anthropologe Kenneth Oakley 1944 in einem Artikel. „Affen setzen zwar gefundene Objekte als Werkzeuge ein“, erklärt er, „doch das Formen von Stöcken und Steinen für bestimmte Zwecke war die erste erkennbare menschliche Aktivität.“ In den frühen 1960er Jahren schrieb Louis Leakey den Beginn des Werkzeugbaus, und damit der Menschheit, einer Spezies namens Homo habilis („geschickter Mensch“) zu, die vor rund 2,8 Millionen Jahren in Ostafrika lebte. Doch Forscher wie Jane Goodall haben mittlerweile gezeigt, dass auch Schimpansen Stöcke für bestimmte Zwecke formen, indem sie beispielsweise die Blätter entfernen, um nach Insekten im Boden zu stochern. Selbst Krähen, die keine Hände haben, sind sehr geschickt.

2. Wir sind Mörder: Dem Anthropologen Raymond Dart zufolge unterschieden sich unsere Vorfahren dadurch von Affen, dass sie nachweislich Mörder waren. Fleischfressende Kreaturen, die „lebende Opfer gewaltsam ergriffen, zu Tode schlugen, ihre zerstörten Körper zerrissen, Glied für Glied entfernten, ihren grausamen Durst mit dem warmen Blut der Opfer stillten und das rohe Fleisch gierig verschlangen.“ Es hört sich wie reißerische Schundliteratur an, doch nach den schrecklichen Gräueln des zweiten Weltkriegs fand Darts Artikel mit der Theorie zum „Killeraffen“ 1953 großen Anklang.

 

Raymond Dart, Begründer der Killeraffen-Theorie der menschlichen Evolution, hält den Schädel des Taung-Kindes, dem ersten gefundenen Australopithecus.
Foto von David L. Brill, National Georgaphic Creative

3. Wir teilen Nahrung: In den 1960er Jahren machte der Killer-Affe Platz für den Hippie-Affen. Der Anthropologe Glynn Isaac entdeckte Überreste von Tierkadavern, die gezielt von ihrer Todesstelle an Orte gebracht wurden, an denen das Fleisch vermutlich mit der gesamten Gemeinschaft geteilt werden konnte. Isaacs Hypothese: Das Teilen von Nahrung führte dazu, dass Informationen darüber ausgetauscht werden mussten, wo dieses Essen gefunden werden konnte. Dies resultierte in der Entwicklung der Sprache und anderer besonderer menschlicher Verhaltensweisen.

4. Wir schwimmen nackt: Wenig später, im Wassermannzeitalter, behauptete die Dokumentarfilmautorin Elaine Morgan, dass sich der Mensch so sehr von anderen Primaten unterscheidet, weil unsere Vorfahren sich in einer anderen Umgebung entwickelt haben: in der Nähe von und im Wasser. Durch die spärliche Körperbehaarung waren sie schnellere Schwimmer, und sie konnten aufrecht durch das Wasser waten. Die Wasseraffen-Hypothese wird von der wissenschaftlichen Gemeinschaft weitestgehend als verfehlt erachtet. Doch 2013 fand sie bei David Attenborough Beachtung.

5. Wir werfen Dinge: Der Archäologe Reid Ferring glaubt, dass unsere Vorfahren zu Menschen wurden, als sie die Fähigkeit entwickelten, Steine mit hoher Geschwindigkeit zu werfen. In Dmanissi, einem 1,8 Millionen Jahre alten Hominidenfundort in Georgien, fand Ferring Hinweise, dass der Homo öffentliche Steinigungen erfand, um Raubtiere von ihrer Beute zu verjagen. „Die Urmenschen aus Dmanissi waren klein“, berichtet Ferring. „Und die Gegend war voll von Raubkatzen. Wie haben die Hominiden überlebt? Wie haben sie es aus Afrika hierhin geschafft? Das Steinewerfen ist ein Teil der Antwort.“ „Das Steinigen von Tieren hat uns sozialisiert“, argumentiert er, „weil für den Erfolg die Zusammenarbeit der Gruppe erforderlich war.“

BELIEBT

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    Dieses von Funden aus Dmanissi, Georgien inspirierte Gemälde zeigt einen weiblichen Homo erectus, der Hyänen durch einen Steinwurf von einem Rehkadaver vertreiben will.
    Foto von John Gurche, National Geographic Creative

    6. Wir jagen: „Die Jagd hat viel mehr als nur die Zusammenarbeit angeregt“, behaupten die Anthropologen Sherwood Washburn und C. S. Lancaster in einem Artikel von 1968: „Tatsächlich sind unser Intellekt, unsere Interessen, Emotionen und unser grundlegendes gesellschaftliches Leben allesamt evolutionäre Produkte der erfolgreichen Anpassung an die Jagd.“ Unsere größeren Gehirne haben sich beispielsweise aus dem Erfordernis entwickelt, mehr Informationen darüber zu speichern, wo und wann wir Beute finden können. Außerdem führte die Jagd angeblich zur Aufteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern, wobei den Frauen die Nahrungssuche zukam. Das wirft die Frage auf: Warum haben auch Frauen ein großes Gehirn?

    7. Wir tauschen Nahrung gegen Sex. Genauer gesagt, monogamen Sex. Der entscheidende Wendepunkt in der menschlichen Evolution war laut einer 1981 veröffentlichten Theorie von C. Owen Lovejoy das Aufkommen der Monogamie vor sechs Millionen Jahren. Bis dahin hatten brutale Alphamännchen, die rivalisierende Verehrer vertreiben konnten, den meisten Geschlechtsverkehr. Monogame Weibchen hingegen bevorzugten die Männchen, die am besten Nahrung besorgen konnten und bei ihnen blieben, um den Nachwuchs großzuziehen. Lovejoy zufolge begannen unsere Vorfahren aufrecht zu gehen, damit sie die Hände frei hatten und mehr Lebensmittel transportieren konnten.

    8. Wir essen (gekochtes) Fleisch: Große Gehirne sind hungrig – graue Zellen benötigen 20 Mal mehr Energie als Muskeln. Manche Forscher behaupten, dass sie sich mit einer vegetarischen Ernährung niemals so hätten entwickeln können. Stattdessen begannen unsere Gehirne ihnen zufolge erst zu wachsen, als wir vor etwa zwei bis drei Millionen Jahren anfingen, Fleisch zu essen – eine wichtige Protein- und Fettquelle. Und nach Auffassung des Anthropologen Richard Wrangham vergeudeten unsere Vorfahren seit der Erfindung des Kochens – einer ausschließlich menschlichen Methode, durch die Essen leichter verdaulich wird – weniger Energie für das Kauen oder Zerstampfen von Nahrungsmitteln und konnten diese für ihre Gehirne nutzen. Schließlich wurden diese Gehirne groß genug, um die bewusste Entscheidung zu treffen, vegan zu werden.

    An einem eines natürlichen Todes gestorbenen Elefanten testeten Archäologen, wie schnell sie Fleisch mit primitiven Steinwerkzeugen zerlegen können. Jeder von ihnen schnitt fünfzig Kilo pro Stunde.
    Foto von David L. Brill, National Geographic Creative

    9. Wir essen (gekochte) Kohlenhydrate: Vielleicht verdanken wir unsere größeren Gehirne aber auch den Kohlenhydraten, wie ein aktueller Artikel suggeriert. Nachdem unsere Vorfahren das Kochen erfunden hatten, wurden stärkehaltige Pflanzen wie Knollengewächse, die wesentlich leichter verfügbar waren als Fleisch, zu einer hervorragenden Quelle für Gehirnfutter. Ein Enzym in unserer Spucke, die Amylase, hilft bei der Spaltung von Kohlenhydraten in die Glukose, die das Gehirn benötigt. Der Evolutionsgenetiker Mark G. Thomas vom University College London weist darauf hin, dass unsere DNA mehrere Kopien des Gens für Amylase besitzt. Dies deutet darauf hin, dass sie zusammen mit den Knollengewächsen zum explosiven Wachstum des menschlichen Gehirns beigetragen haben könnte.

    10. Wir laufen auf zwei Beinen: War es der Wendepunkt der menschlichen Evolution, als unsere Vorfahren von den Bäumen kletterten und aufrecht gingen? Verfechter der „Savannen-Hypothese“ glauben, dass die Anpassung durch einen Klimawandel gefördert wurde. Als Afrika vor rund drei Millionen Jahren trockener wurde, schrumpften die Wälder, und die Landschaften wurden immer mehr von Savannen dominiert. Dadurch hatten Primaten, die aufstehen konnten, einen Vorteil. Sie könnten über das hohe Gras hinweg nach Raubtieren Ausschau halten und effizienter durch eine offene Ebene wandern, in der Nahrungs- und Wasserquellen weiter voneinander entfernt waren. Gegen diese Hypothese spricht der 2009 entdeckte Ardipithecus ramidus, ein Hominid, der vor 4,4 Millionen Jahren im heutigen Äthiopien lebte. Diese Region war damals feucht und bewaldet – aber „Ardi“ lief trotzdem auf zwei Beinen.

    Als das Klima in Afrika vor etwa drei Millionen Jahren trockener wurde, wurden Wälder zu Savannen – und unsere Vorfahren mussten sich anpassen.
    Foto von Mauricio Antón, National Geographic Creative

    11. Wir passen uns an: Richard Potts, Leiter des Human Origins Program an der US-amerikanischen Forschungs- und Bildungseinrichtung Smithsonian, geht davon aus, dass die menschliche Evolution nicht durch eine einzelne Entwicklung, sondern durch mehrere klimatische Veränderungen beeinflusst wurde. Das Auftreten des Homo-Geschlechts vor fast drei Millionen Jahren fiel nach seinen Angaben in eine Zeit, in der es sehr starke Fluktuationen zwischen feuchtem und trockenem Klima gab. „Die natürliche Selektion begünstigte Primaten, die mit den ständigen, unberechenbaren Änderungen zurechtkamen“, so Potts. „Unsere Anpassungsfähigkeit ist das bestimmende Abgrenzungsmerkmal der Menschen.“

    12. Wir vereinen uns und erobern: Die Vorstellung des Anthropologen Curtis Marean über die menschlichen Ursprünge passt sehr gut zu unserem globalisierten Zeitalter: Wir sind die ultimative invasive Spezies. Nachdem wir Zehntausende Jahre lang auf einem einzigen Kontinent gefangen waren, begannen unsere Vorfahren, die Erde zu kolonialisieren. Wie war das möglich? Marean zufolge war der Schlüssel eine genetische Veranlagung zur Zusammenarbeit, die nicht aus Selbstlosigkeit, sondern aus Konflikten entstand. Primatengruppen, die sich zusammentaten, hatten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber rivalisierenden Gruppen, und ihre Gene überlebten. „Als unsere Vorfahren ihre kognitiven Fähigkeiten um diese einzigartige Neigung erweitert hatten, konnten sie sich flexibel an neue Umgebungen anpassen“, schreibt Marean. „Zudem förderte sie die Innovation und führte zur Entstehung einer alles verändernden technischen Entwicklung: fortschrittlichen Projektilwaffen.“

    Von frühen Homo sapiens angefertigte Wurfwaffen, die am Pinnacle Point in Südafrika gefunden wurden, zeugen dem Anthropologen Curtis Marean zufolge von der menschlichen Fähigkeit zur Zusammenarbeit.
    Foto von Per-Anders Pettersson, Getty Images

    Und was ist nun falsch an all diesen Theorien?

    Viele von ihnen machen Sinn, doch sie alle teilen eine Widersprüchlichkeit: die Vorstellung, dass sich die Menschheit an einer einzelnen, genau festgelegten Eigenschaft oder Gruppe von Eigenschaften definieren lässt, und dass eine einzige Phase der Evolution ein entscheidender Wendepunkt auf dem unvermeidlichen Weg zum Homo sapiens war.

    Unsere Vorfahren waren keine Betatests. Sie entwickelten sich nicht in eine bestimmte Richtung, sondern überlebten einfach als Australopithecus oder Homo erectus. Und kein einzelner Wesenszug, den sie erwarben, war ein Wendepunkt, denn es ist nichts unvermeidlich an dem Ergebnis: dem Werkzeug machenden, Steine werfenden, Fleisch und Kartoffeln essenden, höchst kooperativen, anpassbaren, großhirnigen Killeraffen, der wir sind. Und die Evolution geht weiter.

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    Artikel in englischer Sprache veröffentlicht am 12. September 2015

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