Römer, Germanen und ein goldener Pferdekopf

Archäologische Funde in Hessen lassen auf ein überraschend diplomatisches Verhältnis der alten Römer mit den Germanen schließen.

Von Andrew Curry
Veröffentlicht am 20. Aug. 2018, 14:48 MESZ
Dieser vergoldete Pferdekopf, der im Römerkastell Saalburg ausgestellt wird, gehört vermutlich zu einer lebensgroßen Reiterstatue eines ...
Dieser vergoldete Pferdekopf, der im Römerkastell Saalburg ausgestellt wird, gehört vermutlich zu einer lebensgroßen Reiterstatue eines römischen Imperators, die im Jahr 1 n. Chr. entstand.
Foto von Arne Dedert, Picture Alliance, Dpa, AP Images

Nach fast einem Jahrzehnt juristischer Streitigkeiten wurde der Öffentlichkeit nun endlich ein Teil einer wertvollen altrömischen Skulptur präsentiert, die in Deutschland gefunden wurde. Bei dem zwölf Kilogramm schweren Fragment handelt es sich um einen lebensgroßen Pferdekopf aus dem Jahr 1 n. Chr. Er besteht aus vergoldeter Bronze und ist mehr als nur ein spektakuläres Beispiel für römische Kunst.

Der Pferdekopf wurde im Rahmen von Ausgrabungen einer römischen Siedlung in Waldgirmes, einem Ortsteil von Lahnau in der Nähe von Frankfurt, entdeckt und gewährt völlig neue Einblicke in die römischen Eroberungstaktiken, die auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands zum Einsatz kamen.

Jahrhundertelang waren sich Geschichtswissenschaftler einig gewesen, dass die Römer die germanischen Stämme mit militärischer Gewalt unterwerfen wollten, um eine neue Provinz nördlich und östlich des Rheins zu etablieren. Nach einer katastrophalen Schlacht im Jahre 9 n. Chr., bei der die römische Armee 15.000 Soldaten verlor, wurde die Eroberung Deutschlands aufgegeben. Der vernichtende Verlust – die Varusschlacht im Teutoburger Wald – brachte die Römer dazu, ein Netzwerk aus Befestigungsanlagen zu errichten, welches fast 300 Jahre lang die nördliche Grenze des Römischen Reichs darstellte.

Aber der Pferdekopf und andere Funde aus Waldgirmes, die von der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts zwischen 1994 und 2009 ausgegraben wurden, zeugen davon, dass Rom auf mehr als nur militärische Macht gesetzt hatte.

Die etwa acht Hektar große Siedlung hatte zwar eine Verteidigungsmauer, verfügte jedoch nicht über militärische Gebäude. Ihre Existenz zeigt, dass die Römer jahrelang friedlich neben den „Barbaren“ lebten und mit ihnen handelten, bis es zur Varusschlacht kam, wie die Forschungsleiterin Gabriele Rasbach vom Deutschen Archäologischen Institut erzählt.

Die meisten Gebäude der Siedlung bestanden aus Holz, und aufgrund der Baumringdatierung glauben die Archäologen, dass sie etwa im Jahr 4 v. Chr. gegründet wurde. Hinter der drei Meter hohen Mauer aus Holz befanden sich Wohngebäude im römischen Stil, Töpfereien, Holzwerkstätten und sogar Spuren sanitärer Anlagen mit Bleirohren.

Ein mehrstöckiges Verwaltungsgebäude bildete das Zentrum der Siedlung. In einer Art Hof oder Forum entdeckten die Archäologen die Sockel von vier lebensgroßen Reiterstatuen auf ihren Pferden. Der vergoldete Pferdekopf gehörte zu einer dieser Statuen, die vermutlich einen römischen Kaiser zeigte.

Sowohl für Archäologen als auch für Geschichtswissenschaftler waren die Entdeckungen von Waldgirmes völlig unerwartet.

„Es war wirklich eine Überraschung, zu sehen, dass es dort Zivilgebäude gab“, erzählt Sebastian Sommer, ein Archäologe des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege in München, der an den Ausgrabungen nicht beteiligt war. „Waldgirmes zeigt einen ausschließlich zivilen Ansatz – und womöglich eine falsche Vorstellung der Römer darüber, wie einfach es sein würde, [die Germanen] zu besänftigen.“

GOLDENES OPFER?

Mit seinen schimmernden Statuen und seinen Bleileitungen scheint Waldgirmes Teil eines Versuchs gewesen zu sein, die germanischen Stämme für sich zu gewinnen, anstatt sie im Kampf zu vernichten.

„Die Siedlung zeigt, dass dort ein großes Verwaltungszentrum entstehen sollte, vielleicht sogar eine Hauptstadt“, sagt Carsten Amrhein, ein Archäologe und Leiter des Saalburgmuseums bei Frankfurt. „Die Pläne der Römer für eine neue Provinz waren deutlich fortgeschrittener, als wir dachten.“

Ein paar Jahre nach der Varusschlacht kam das Leben in der alten Stadt jedoch zum Erliegen. Allerdings finden sich dort keine Anzeichen für einen Kampf oder ein Gemetzel, so Rasbach. Womöglich wurde die Siedlung im Jahre 16 n. Chr. stattdessen friedlich evakuiert, als die römischen Streitkräfte den Befehl erhielten, die Gebiete nördlich und östlich des Rheins aufzugeben.

Nachdem die Siedlung aufgegeben wurde, wurden die Statuen vermutlich absichtlich von germanischen Stämmen zerstört und aufgrund ihres Metallwerts neu verwertet, so Rasbach. Bronzene Bruchstücke – insgesamt 160, hauptsächlich kleine Splitter – wurden über die ganze Stadt verteilt gefunden.

Der Pferdekopf bildet die große Ausnahme. Nicht weit von den Sockeln entfernt, entdeckten die Archäologen einen etwa neun Meter tiefen Brunnen aus der Römerzeit. Der Pferdekopf befand sich am Boden des Brunnens – unter acht schweren Mühlsteinen, Holzeimern, Werkzeuggriffen, Ochsenjochen und anderem Müll.

 

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    Rasbach zufolge war der Kopf nicht versehentlich in den Brunnen gefallen. Metall war ein Luxusgut, das zu wertvoll war, um es zu verschwenden. Stattdessen war der Pferdekopf womöglich im Rahmen eines Rituals in den Brunnen geworfen worden: Die Stämme im nördlichen Europa opferten oft Pferde und warfen ihre Leichname dann in Moore oder Flüsse. Womöglich war der bronzene Kopf Teil einer ähnlichen Zeremonie gewesen, bei der die Mühlsteine und andere Gegenstände hinterhergeworfen wurden, um die Opfergabe einzuschließen.

    Obwohl der Fund schon 2009 gemacht wurde, blieb der Kopf fast ein Jahrzehnt lang in einem Lager, während ein Landwirt, auf dessen Land der Fund gemacht wurde, sich durch die deutschen Gerichte klagte. Das Landgericht Limburg sprach dem Landwirt schließlich 773.000 Euro als Entschädigung zu. Mittlerweile ist das Artefakt in der Dauerausstellung im Römerkastell Saalburg zu sehen.

    Falls Waldgirmes tatsächlich Teil eines römischen Plans war, die Germanen durch Handel und Kultur für sich zu gewinnen, war es womöglich auch nicht der einzige Außenposten, der in der Wildnis erbaut wurde.

    „Es muss noch mehr davon geben“, sagt Rasbach. „Meist wurden aber moderne Siedlungen über den alten römischen Stätten errichtet. Bei Waldgirmes hatten wir viel Glück.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht

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