Artefakte einer mysteriösen Religion im Titicacasee entdeckt

Goldartefakte, seltene Muscheln und die Knochen von Opfertieren im Titicacasee zeugen von einem Glaubenssystem, das dem Tihuanaco-Reich zum Aufstieg verhalf, wie Forscher sagen.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 2. Apr. 2019, 15:15 MESZ
Unter den rituell geopferten Gegenständen befanden sich auch Gold, Halbedelsteine und Räuchergefäße, die mit Pumaköpfen verziert ...
Unter den rituell geopferten Gegenständen befanden sich auch Gold, Halbedelsteine und Räuchergefäße, die mit Pumaköpfen verziert sind.
Foto von Teddy Seguin

Vor etwa 1.200 Jahren wurde ein Riff inmitten des Titicacasees im heutigen Bolivien zu einem rituellen Verwahrungsort für die wertvollsten Besitztümer der damaligen Menschen. Unterwasserarchäologen förderten diesen funkelnden Schatz 2013 schließlich wieder zutage. Sechs Jahre später glauben die Forscher nun zu wissen, um was es sich bei den Objekten aus dem See handelt: Belege für eine Religion, die der Tihuanaco-Kultur dabei half, zu einer der dominantesten Kräfte der Region zu werden.

Die Ergebnisse der Ausgrabung wurden in einem wissenschaftlichen Artikel zusammengefasst, der in „Proceedings of the National Academy of Sciences“ erschien. Gegenstände aus Gold, Metallornamente, Halbedelsteine und Räuchergefäße lassen darauf schließen, dass das Riff – welches in der Nähe der Sonneninsel liegt, auf der sich mehrere Tihuanaco-Stätten befinden – der Kultur einst als Ritualplatz diente.

Archäologen graben rituell geopferte Artefakte im Titicacasee in Bolivien aus.
Foto von Teddy Seguin

Aktuell sind die Archäologen noch immer damit beschäftigt, weitere Details über jene Religion in Erfahrung zu bringen, die zur Machtanhäufung des Tihuanaco-Reiches beitrugt, welches sich zwischen 500 und 1000 n. Chr. bis nach Chile und Peru erstreckte. Die Tihuanaco hinterließen keine nennenswerten Zeugnisse militärischer Macht. Man geht daher davon aus, dass sich das Reich über Religion und Handel Einfluss verschaffte. Obwohl Archäologen mittlerweile zahlreiche Belege für den Glauben der Tihuanaco gefunden haben, entschlüsseln sie noch immer die Bedeutung der Religion sowie die Rolle, die sie bei der Ausdehnung des Reiches gespielt haben könnte.

Zu den Artefakten aus dem Khoa-Riff gehören zwei Goldmedaillons, auf denen die rotgesichtige Gottheit der Tihuanaco abgebildet ist, sowie Metallplaketten, auf denen ein mythologisches Mischwesen aus Puma und Lama prangt. Darüber hinaus fanden die Taucher auch Überreste echter Tiere, darunter die Knochen von drei jungen Lamas, die anscheinend geopfert wurden.

Das Gehäuse einer Stachelauster (Spondylus) galt im Tihuanaco-Reich als wertvoller Gegenstand und verdeutlicht, dass in dem See vor allem wertvolle Objekte geopfert wurden.
Foto von Teddy Seguin

Ein weiterer überraschender Fund bestand aus fünf Objekten, die aus dem Gehäuse von Stachelaustern (Spondylus) gefertigt wurden, sowie ein vollständiges Gehäuse. Die Muscheln spielten für die frühen Andenkulturen eine wichtige Rolle, sind jedoch im Pazifik heimisch, nicht im Titicacasee. Dass die Muscheln fast 2.000 Kilometer von ihrem nächsten bekannten Habitat entdeckt wurden, deutet sowohl auf ihren großen Wert als auch auf die Handelsbeziehungen der Tihuanaco hin.

„Es war wirklich bemerkenswert, dass wir so viele Spondylus gefunden haben“, sagt José M. Capriles, ein Anthropologe und Professor der Pennsylvania State University und einer der Autoren des Artikels.

Warum aber ließen die Tihuanaco so wertvolle Gegenstände in dem hoch gelegenen Andensee zurück? Für Capriles sind diese Opfergaben Zeugnisse einer aufkeimenden religiösen Tradition – und zwar einer, die dazu beitrug, dass das Reich der Tihuanaco wuchs und florierte. Indem die Verehrer für ihre Rituale wertvolle und begehrte Materialien nutzten, zeigten sie ihre Hingabe und Verpflichtung gegenüber ihren neuen religiösen Traditionen. Solche Bräuche spielen für die Bildung von Gesellschaften eine enorm wichtige Rolle, wie Capriles sagt. „Die Gottheiten, die diese Menschen schaffen, werden zu Institutionen, die das Verhalten steuern.“

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Diese neue Religion bildete das Fundament für moralische und gesellschaftliche Normen. „Wenn Sie sich gut benehmen, werden sie unsterblich“, sagt Capriles. „Aber wenn sie sich falsch verhalten, werden sie von der Gottheit des Häuptlings bestraft.“ Das bedeutet auch, dass die Menschen zwischen den Siedlungen umherreisen und dabei darauf vertrauen konnten, dass ihr gemeinsamer Glaube eine Ausgrenzung verhinderte – sie waren also auch an fremden Orten keine Außenseiter, sondern Teil der Gruppe. Das begünstigte die Ausbreitung des Tihuanaco-Reiches, so die These des Forschungsteams.

Auf ihrem Höhepunkt hatte sich diese Gesellschaft enormen politischen Einfluss, wirtschaftliche Macht und kulturelles Prestige verschafft. Nach ihrem Zusammenbruch um das Jahr 1000 wurde sie jedoch von jenen Kulturen überschattet, die nach ihr kamen. „Tihuanaco ist das bedeutendste große Reich amerikanischer Ureinwohner, von dem viele Amerikaner noch nie gehört haben“, scherzt Paul Goldstein, ein Archäologe am Institut für Anthropologie der University of California in San Diego. Goldstein war an dem Forschungsprojekt zwar nicht beteiligt, arbeitet aber auch mit dem Scripps Center for Marine Archaeology zusammen. „Jedes Mal, wenn wir etwas finden, das die Komplexität der Gesellschaft widerspiegelt, vertieft das unser Verständnis für die Entstehung komplexer Gesellschaftsformen auf der ganzen Welt.“

Das Reich und die Kultur der Tihuanaco mögen wie ein Relikt aus ferner Vergangenheit wirken, aber für Capriles sind es solche Artefakte wie jene aus dem See, die die Menschen wieder zum Leben erwecken. „Sie waren dankbar und sie brachten Opfergaben dar“, sagt er. „Das waren Menschen wie Sie und ich.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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