Exklusiv: 7.000 Jahre alte „Schamanin“ zählte zu Schwedens letzten Jägern und Sammlern

Sie wurde sitzend auf einem Bett aus Geweihen bestattet und trug aufwendigen Schmuck. Wer war diese besondere Frau?

Von Kristin Romey
Veröffentlicht am 13. Nov. 2019, 12:15 MEZ
Forscher nutzten skelettierte Überreste und alte DNA, um die Grabstätte einer Frau zu rekonstruieren, die vor 7.000 Jahren im heutigen Schweden lebte.
Foto von Gert Germeraad, Trelleborgs Museum

Für den Archäologen, der ihre Überreste freilegte, ist sie „Grabstelle XXII“. Für die Angestellten des Museums, in dem sie ausgestellt wird, ist sie „die sitzende Frau“. Und für den Künstler, der ihre lebensgroße Gestalt rekonstruierte und ihren stechenden Blick ersann, ist sie „die Schamanin“.

Ihr wahrer Name wurde wahrscheinlich vor etwa 7.000 Jahren zum letzten Mal ausgesprochen, in den fruchtbaren Sümpfen und Wäldern im Südwesten des heutigen Schweden. Ihr Name mag in Vergessenheit geraten sein, aber unter der Leitung des Archäologen und Künstlers Oscar Nilsson konnte ein Team ihren sterblichen Überresten und bemerkenswerten Grabbeigaben neues Leben einhauchen. Das Werk der Forscher und Wissenschaftler wird am 17. November 2019 im schwedischen Trelleborg Museum für die Öffentlichkeit enthüllt.

Die Frau wurde in aufrechter Haltung begraben und saß im Schneidersitz auf einem Bett aus Geweihen. Ein Gürtel aus mehr als 100 Tierzähnen zierte ihre Taille, an ihrem Hals hing ein großer, rechteckiger Anhänger aus Schiefer. Ihre Schultern waren von einem kurzen Umhang aus Federn bedeckt.

Archäologen entdeckten, dass die Frau aufrecht sitzend begraben worden war. Ihr Gürtel bestand aus Zähnen von Hirschen, Wildschweinen und Elchen, während ihr Schulterumhang aus Federn von Krähen, Elstern, Möwen, Hähern, Gänsen und Enten gefertigt wurde.
Foto von Gert Germeraad, Trelleborgs Museum

Anhand ihrer Knochen konnten Archäologen darauf schließen, dass sie knapp unter 1,50 m groß und zu ihrem Todeszeitpunkt zwischen 30 und 40 Jahre alt war. Die extrahierte DNA anderer Menschen, die rund um ihren Fundort begraben wurden, bestätigte, was über die Menschen im mesolithischen Europa bereits bekannt war: dass sie dunkle Haut und helle Augen hatten.

Der Beginn des Ackerbaus

Lars Larsson erinnert sich an seine Ausgrabung von Grabstelle XXII an der archäologischen Fundstätte Skateholm bei Trelleborg in den frühen Achtzigern. Es war eines von mehr als 80 alten Gräbern in Skateholm, die von 5.500 bis 4.600 v. Chr. angelegt wurden. Die Forscher stießen dort auf mehrere Bestattungsformen, darunter auch Menschen, die als Paar oder zusammen mit Hunden bestattet wurden, sowie einzelne Hundegräber mit reichen Grabbeigaben. Grabstelle XXII war eine von nur einer Handvoll Sitzbestattungen. Die Archäologen entschieden sich dazu, XXII als Block zu bergen und zur näheren Untersuchung in ein Labor zu transportieren.

„Das war vielleicht das schwierigste Grab, das wir in Skateholm ausgegraben haben“, sagt Larsson, ein emeritierter Professor für Archäologie an der Universität Lund.

Skateholm und andere spätmesolithische Grabstätten entlang der Südküste Skandinaviens sind für die Archäologen besonders interessant. Sie zeigen, dass Gemeinschaften von Jägern und Sammlern noch fast 1000 Jahre lang dort lebten, nachdem neolithische Farmer den Ackerbau auf das europäische Festland gebracht hatten.

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    Es scheint so, als wäre die geografische Isolation nicht der Grund für den späten Einzug des Ackerbaus in Skandinavien gewesen, sagt Larsson. Er verweist auf Grabbeigaben aus Skateholm, die auf Handelsbeziehungen zu Bauerngemeinschaften auf dem europäischen Festland schließen lassen. Das Festhalten an der alten Lebensweise war wohl eher eine bewusste Entscheidung.

    „Die Leute halten Jäger und Sammler oft für unzivilisiert“, sagt Larsson, „aber warum sollten sie zum Ackerbau wechseln, wenn sie mit der Jagd, Fischerei und dem Sammeln [von Kräutern und Beeren] hervorragend zurechtkamen?“

    Schamanin als Tor zwischen den Welten

    Auch wenn die Forscher mit Hilfe von Knochen und DNA eine physische Rekonstruktion der Frau erstellen konnten, scheut sich Larsson, allzu viel über ihre Rolle in der Gemeinschaft zu spekulieren. Nur so viel kann er sagen: Sie war wohl etwas Besonderes.

    Ingela Jacobsson, die Direktorin des Trelleborg Museums, stimmt zu: „Sie hatte irgendeine besondere Position innerhalb der Gesellschaft inne, wenn man bedenkt, mit welchen Gegenständen sie bestattet wurde. Aber abseits davon können wir nichts Genaues sagen.“

    Für den Künstler Oscar Nilsson ergab sich aus dem, was er sah, ein konkreteres Bild: „Man kann die Befunde auf vielerlei Art interpretiere, aber in meinen Augen ist sie definitiv eine Schamanin. Sie wurde aufrecht sitzend auf diesen Geweihen begraben. Das ist sehr auffällig, und offensichtlich war sie eine Person von großer Bedeutung und Würde“, sagt er.

    Nilssons forensische Technik beginnt immer mit einer exakten, dreidimensionalen Nachbildung des Schädels. Dieser wird gescannt, 3D-gedruckt und dann von Hand modelliert. Im Hinblick auf die Herkunft, das Geschlecht und das geschätzte Alter des Individuums werden dabei auch die Knochenstruktur und Gewebedichte berücksichtigt.

    Für den Körper der Schamanin ließ Nilsson eine Bekannte im Schneidersitz posieren, die ungefähr dieselbe Größe und denselben Körperbau wie die Schamanin hatte. Zusammen mit seinen Kolleginnen Elina Kumlander und Cathrine Abrahamson fertigte er Gipsabdrücke des Körpermodels an, die später in Silikon gegossen wurden. Die Kleidung und der Schmuck – darunter auch der Gürtel aus 130 Tierzähnen – stammen aus lokalen Bezugsquellen und wurden von Helena Gjaerum gefertigt.

    Die meiste Aufmerksamkeit zieht aber ihr fesselnder, tiefer Blick auf sich.

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    „Ich mache selten Rekonstruktionen, die so viel Charakter haben“, sagt Nilsson. „Aber sie ist eine echte Persönlichkeit. Als wir zu dem Schluss kamen, dass sie eine Schamanin war, war es auch einfacher, ihren Gesichtsausdruck zu kreieren. Sie bewegt ihre Gesichtsmuskeln nicht sehr stark, aber es fühlt sich trotzdem an, als würde sie kommunizieren.“

    „Sie ist wie ein Tor zwischen unserer Welt und einer anderen“, so Nilsson. „Und das musste in ihrem Gesicht zu sehen sein.“

    Die Museumsdirektorin Jacobsson erzählt, dass sie eine Gänsehaut bekam, als sie die Rekonstruktion zum ersten Mal sah. „Sie hatte so einen besonderen Blick.“

    Die Museumspädagogin Maria Jiborn vom Trelleborg Museum erzählt, dass sie ein Déjà-vu hatte, als sie der mesolithischen Frau zum ersten Mal ins Gesicht sah. „Ich weiß noch, wie ich dachte: Kennen wir uns nicht von irgendwo her? Sie wirkte auf eine seltsame Art und Weise vertraut. Vermutlich sieht sie wie eine entfernte Bekannte von mir aus.“

    „Wir sind alle Menschen, egal wann und wo wir gelebt haben“, fügt sie hinzu.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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