Geisterstadt Venedig: Quarantäne wie zu Zeiten der Pest

Venedigs Maßnahmen zur Coronavirus-Pandemie haben die Straßen leergefegt und erinnern an die Zeit der großen Pestausbrüche.

Von Cathy Newman
Veröffentlicht am 13. März 2020, 15:09 MEZ
Rialtobrücke
In Venedig wird am 11. März, einen Tag nach dem Beginn des nationalen Ein- und Ausreiseverbots, die Rialtobrücke desinfiziert. Die beispiellose Maßnahme soll dabei helfen, die Ausbreitung des neuen Coronavirus einzudämmen.
Foto von Stefano Mazzola, Awakening/Getty Images

Bis vor Kurzem war die einzige moderne Plage in Venedig der Touristenstrom von jährlich 23 Millionen Besuchern, der die Ressourcen der Stadt ebenso strapaziert wie die Nerven der Einwohner.

Durch die rasante Ausbreitung von COVID-19 hat nun eine echte Seuche die Straßen leergefegt: Die Piazza San Marco, der Markusdom, der Palazzo Ducale und andere Wahrzeichen dieser Stadt der goldenen Dome und plätschernden Wellen stehen verlassen. Mit mehr als 12.400 bestätigten Fällen weist Italien die höchste Infektionsrate außerhalb Chinas auf.

Am 8. März verordnete der Premierminister Giuseppe Conte eine Quarantäne für die norditalienische Region der Lombardei und 14 weitere Provinzen, darunter Venedig, Parma und Padua. Als die Infektionszahlen weiter stiegen, wurde die rote Zone einen Tag später auf das gesamte Land und seine 60 Millionen Einwohner ausgedehnt. Schulen, Sporthallen, Museen und andere öffentliche Orte bleiben geschlossen. Sportveranstaltungen, die bis vor Kurzem noch in leeren Stadien ohne Zuschauer stattfinden durften, wurden abgesagt.

Die Piazza San Marko in Venedig ist normalerweise von Touristen überlaufen. Am Tag nach der Bekanntgabe der Reiseeinschränkungen lag eine unheimliche Stille über dem Platz.
Foto von Marco Di Lauro, Getty Images

Stille Straßen und Piazzen

Niemand kann die Stadt verlassen, schreibt Antonietta Poduie, die in Venedig lebt – es sei denn aus Gründen der Gesundheit oder für die Arbeit. Poduie lebt, wie auch 54.000 andere Menschen, im historischen Stadtkern. Die Zahl der Einwohner in diesem Bereich nimmt jedes Jahr ab. Die Einheimischen werden durch steigende Lebenshaltungskosten und hohe Mieten verdrängt. Zu dem chronischen Problem der regelmäßigen Überschwemmungen durch die absinkenden Fundamente gesellt sich nun eine virale Pandemie durch das Coronavirus (benannt nach der kronenförmigen Gestalt des Pathogens).

Geschäftsinhaber schließen ihre Läden und Restaurants, nachdem Premierminister Giuseppe Conte am 9. März den nationalen Notstand erklärte.
Foto von Marco Di Lauro, Getty Images

Umarmungen und Küsse sind verboten, schreibt Poduie. „Können Sie sich vorstellen, dass man Italienern sagt, sie sollen sich nicht mehr küssen und umarmen?“ Genau wie alle anderen Theater ist auch das Teatro La Fenice mittlerweile geschlossen. In dem goldenen Opernsaal spielte letzte Woche noch ein Streichquartett vor leeren Sitzen. Das Konzert wurde auf YouTube per Livestream übertragen (das virtuelle Publikum reagierte der New York Times zufolge mit einer „Ovation aus klatschenden Emojis“). Es war ein betrübliches Ereignis für das gebeutelte Etablissement: Das Fenice hatte sich gerade erst von den Schäden erholt, die die Rekordfluten vor ein paar Monaten angerichtet hatten.

Galerie: Die Geisterdörfer Italiens

Im Februar wurde der berühmte venezianische Karneval zwei Tage vor seinem großen Finale beendet, berichtet Poduie. „Wir haben gehört, es sei eine Grippe, aber eine sehr ansteckende und aggressive, und dass wir so viel wie möglich drinnen bleiben und – wie ich hinzufügen möchte – beten sollen, aber nicht bei der Messe (die wurden auch abgesagt).“ Solche Maßnahmen betrafen aber nicht nur Venedig.

In Rom übertrug der Papst seine Sonntagsmesse und sein Mittwochsgebet per Livestream. In den Gemeinden wurden die Weihwasserbecken geleert. Bevor die Messen abgesagt wurden, legten die Priester die Hostien in die Hände der Teilnehmer statt auf die Zunge.

Maskierte Feiernde nehmen an der Prozession der Pestdoktoren teil. Am 25. Februar wurde der venezianische Karneval vorzeitig beendet.
Foto von Andrea Pattaro, AFP/Getty Images

Quarantänemaßnahmen aus der Geschichte

Trotz der drohenden finanziellen Katastrophe, die die ohnehin schon gebeutelte italienische Wirtschaft noch weiter belastet, versucht Italien konsequent, die Pandemie mit aggressiven Maßnahmen einzudämmen. Einige Italiener versuchten, sich dem zu entziehen: Als erste Gerüchte einer bevorstehenden Quarantäne in der Lombardei die Runde machten, wurden die Bahnhöfe in Milan von Menschen überrannt, die der Quarantäne zu entfliehen versuchten. „Wir dürfen jetzt nicht versuchen, ganz besonders schlau zu sein“, gebot der Premierminister. Da es mittlerweile ein Ein- und Ausreiseverbot für das ganze Land gibt, ist eine „Flucht“ nun ohnehin schwieriger.

Die Eindämmungsmaßnahmen erinnern an historische Vorbilder. Venedig und andere Stadtstaaten wie Milan waren zu Pestzeiten in der Renaissance die ersten, die Quarantänemaßnahmen verhängen. Diverse „Quarantäneinseln“ in der Lagune von Venedig zeugen noch heute davon.

„Venedig war ein Handelsknotenpunkt, an dem sich Menschen verschiedenster Herkunft trafen. Um die Gesundheit und den Handel zu schützen, wurden also pragmatische Entscheidungen getroffen“, erklärt Anna Marie Roos, eine Professorin für Wissenschaft- und Medizingeschichte an der britischen University of Lincoln. „Stadtstaaten waren klein genug, um dem Staat genügend Kontrolle für die Ausübung von Quarantänemaßnahmen zu ermöglichen.“ In den Gebäuden auf den Quarantäneinseln lebten hauptsächlich Arme. Die reichen Bürger zogen sich in ihre Landhäuser zurück.

Dieses Gemälde aus dem 16. Jahrhundert zeigt das Leben zur Zeit des Pestausbruchs von 1523. In der Geschichte Italiens kam es mehrfach zu Epidemien – die Quarantäneinseln in der Lagune von Venedig zeugen noch heute von den Maßnahmen.
Foto von Heritage Images, Getty Images

Der lange Schatten der Pest zieht sich durch mehrere Jahrhunderte. Zwischen 1361 und 1528 gab es laut Roos 22 Ausbrüche der Beulenpest in Venedig. Ein weiterer Ausbruch im Jahr 1576 tötete ein Drittel der Bevölkerung. Eine Pestepidemie, die 1680 begann, forderte im Laufe von 17 Monaten 80.000 Todesopfer. Jedes Jahr erinnert zum venezianischen Karneval eine maskierte Figur an die Seuche: Dr. Peste, eine Verkörperung des Pestdoktors, der einen langen schwarzen Umhang und eine charakteristische Maske trägt. In dem Schnabel der Maske befanden sich traditionell Kräuter und Öle, die vor dem Pesthauch schützen sollten.

Als während der Renaissance die Pest in Italien wütete, waren Pestdoktoren ein gewohnter Anblick. Sie trugen Wachsmäntel, Handschuhe und Masken mit aromatischen Stoffen.
Foto von De Agostini Editorial, Getty Images

Damals war der Auslöser der Infektion das Bakterium Yersinia pestis, das im Magen von Flöhen lebt. Aber auch die Masern, Pocken, Grippe oder Typhus konnten zu einem plötzlichen Anstieg der Todesfälle beitragen und wurden als Pest bezeichnet, erklärt Roos. In Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“, in welcher den Geruch von Desinfektionsmittel unheilverkündend über der Stadt liegt, ist der Übeltäter die Cholera.

Einbruch im Tourismussektor

Venedigs Tourismus trifft die Pandemie schwer. Laut Claudio Scarpa, dem Direktor der Venetian Hoteliers Association, planen 80 Prozent der Hotels in der Stadt, zeitweise den Betrieb einzustellen. 90 Prozent der 8000 Beschäftigten in dem Sektor werden voraussichtlich zu Hause bleiben. Die Verluste im Hotelbereich belaufen sich auf etwa eine Milliarde Euro, inklusive der Schäden durch die Überschwemmungen im November. Größere Unternehmen mit mehr finanzieller Unterstützung werden vermutlich weniger unter der Situation leiden.

Es sind vor allem die Kleinunternehmer, die den größten Schaden davontragen. Am Dienstag nach dem landesweiten Quarantänebeginn servierte Giacomo Donato, der Besitzer des kleinen Familienrestaurants Le Feluca auf der Calle della Mandola, ein paar Büroangestellten Abendessen. Mit den vorgegebenen Öffnungszeiten schien der Betrieb des Restaurants aber kaum lohnenswert: Italiener essen normalerweise deutlich später als 18:00 Uhr zu Abend. Restaurants durften aber nur noch bis 18:00 Uhr öffnen.

Genau wie andere Unternehmern in Venedig warteten auch viele Gondolieri vergeblich auf Kundschaft, nachdem die Regierung am 5. März Schulen und Universitäten geschlossen hatte. Am 10. März machte das Land aufgrund der steigenden Fallzahlen seine Grenzen dicht.
Foto von Andrea Pattaro, AFP/Getty Images

Am 11. März erübrigte sich dieses Dilemma für Donator: der Premierminister Conte hatte angeordnet, dass alle Läden und Restaurants, mit Ausnahme von Apotheken und Supermärkten, binnen 24 Stunden zu schließen hätten, da die Fallzahlen um 30 Prozent gestiegen waren.

Auf den Spuren einer Geisterstadt in Italien
Das verlassene Dorf Roghudi Vecchio wurde im elften Jahrhundert gegründet und liegt am Abhang eines Bergsporns des italienischen Bergmassivs Aspromonte. 

Das Virus hat eine ernüchternde Realität geschaffen – selbst für jene, die sich sonst am Tourismus stören. „Als ich am Tag nach dem Karnevalsabbruch über die Rialtobrücke ging und den völlig verlassenen Campo Bartolomeo sah, wurde mir das Herz schwer“, erzählt Poduies Freundin Silvia Zanom, die auf der Lido wohnt. „Im Internet äußerten sich viele Venezianer zufrieden darüber, dass sie ihre Stadt nun wieder für sich hatten. Ich konnte mich darüber nicht freuen. Venedig ist nicht dafür gemacht, so leer zu sein. Schönheit nützt nichts, wenn man sie nicht teilen kann.“

Ob es einem nun gefällt oder nicht: Der Tourismus ist ein wichtiger Pfeiler der Wirtschaft. Er generiert Einnahmen in Milliardenhöhe – genaue Zahlen sind allerdings irreführend, da viele Geschäfte unter der Hand laufen. Womöglich, so spekuliert Donato, kann man nach der Pandemie darüber nachdenken, wie ein nachhaltigerer Tourismus in Venedig aussehen könnte. Aktuell gibt es allerdings dringlichere Probleme.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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