Ratten womöglich doch nicht für mittelalterliche Pestausbrüche verantwortlich

Eine provokante Studie hält menschliche Parasiten für die primären Überträger des Pestbakteriums.

Von Michael Greshko
Eine Hausratte (Rattus rattus) am George M. Sutton Avian Research Center.
Eine Hausratte (Rattus rattus) am George M. Sutton Avian Research Center.
Foto von Joël Sartore, National Geographic Photo Ark

Lange galten Ratten als die Verbreiter der Parasiten, welche die Pest im mittelalterlichen Europa und in Asien übertragen haben, die Millionen von Todesopfern forderte. Eine provokante neue Studie hat nun Modelle dieser vergangenen Krankheitsausbrüche erstellt und deutet an, dass die Nager vielleicht doch nicht die Schuldigen waren.

Die Studie wurde am 15. Januar 2018 in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht und verweist auf menschliche Parasiten – wie Läuse und Flöhe – als primäre Überträger des Pestbakteriums während der Ausbrüche vom 14. bis zum 19. Jahrhundert.

Zu denen zählt auch die europäische Pandemie, die als Schwarzer Tod bekannt ist und Mitte des 14. Jahrhunderts ein Drittel der europäischen Bevölkerung auslöschte – geschätzte 25 Millionen Menschen.

„Die Pest hat die menschliche Geschichte wirklich umgestaltet, deshalb ist es so wichtig zu verstehen, wie sie sich ausbreitete und warum sie das so schnell tat“, sagt die Hauptautorin der Studie Katharine Dean. Die Doktorandin arbeitet am Zentrum für ökologische und evolutionäre Studien der Universität von Oslo.

TÖDLICHER BISS

Wenn Flöhe, die mit dem Bakterium Yersinia pestis infiziert sind, Menschen beißen, kann das Bakterium in den Blutkreislauf gelangen und sich in den Lymphknoten ansammeln. Durch die Infektionen schwellen die Lymphknoten zu Beulen an – daher auch die Bezeichnung „Beulenpest“.

BELIEBT

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    Im Falle der Pestausbrüche seit dem späten 19. Jahrhundert – darunter auch ein Ausbruch auf Madagaskar im Jahr 2017 – haben Ratten und andere Nagetiere bei der Ausbreitung der Krankheit geholfen. Wenn Y. pestis eine Ratte infiziert, kann das Bakterium in die Flöhe übergehen, die das Blut des Nagers trinken. Wenn eine erkrankte Ratte dann stirbt, verlassen die Flöhe ihren Wirt und können auf Menschen übergehen und sie beißen.

    Aufgrund der Rolle der Ratten bei modernen Pestausbrüchen und genetischen Belegen dafür, dass mittelalterliche Pestopfer an Y. pestis starben, glauben viele Experten, dass Ratten die Krankheit auch während der Ausbrüche nach 1300 verbreitet haben.

    1986 entdeckten Archäologen ein Massengrab in East Smithfield in London, in dem Opfer des Schwarzen Todes aus den 1340ern begraben wurden. Laut einem Zeitzeugen wurden damals jeden Tag 200 Pestopfer begraben.
    Foto von Mola, Getty

    Manche Historiker sind allerdings der Meinung, dass sich der Schwarze Tod auf andere Art verbreitet hat. Zum einen griff er in Europa weitaus schneller um sich als jeglicher moderne Ausbruch.  Zum anderen wird in mittelalterlichen Aufzeichnungen zur Pest kein massenhaftes Sterben von Ratten erwähnt.

    „Genetiker und moderne Geschichtswissenschaftler haben Ratten in die Position [des Pestüberträgers] gebracht und strapazierten die Beweise dafür“, sagt Samuel Cohn. Der Historiker, der sich mit dem Mittelalter beschäftigt, ist ein Kritiker der Rattenfloh-Theorie. (Lesenswert: Insekten, die in Insekten leben – oder auf unserem Gesicht)

    VIRTUELLE PANDEMIE

    Alternativ dazu spielen einige Wissenschaftler schon länger mit dem Gedanken, dass Menschenflöhe den Schwarzen Tod verbreitet haben könnten. Wenn Flöhe und Läuse den Pesterreger über erkrankte Menschen aufgenommen haben, könnten die Parasiten auf Personen in der Nähe übergehen und die Krankheit übertragen.

    Mathematisch gesehen unterscheiden sich die Ausbreitungsmuster der Krankheit innerhalb einer Population je nachdem, ob ein Rattenfloh oder ein Menschenfloh der Überträger ist. Um das zu testen, erstellte Deans Team am PC Modelle mit Gleichungen, die den Verlauf eines Ausbruchs simulierten – und zwar jeweils für Ratten, Flöhe und Läuse als Überträger der Krankheit.

    Gummiente & Co: Ein Paradies für Bakterien
    Eine Studie lässt darauf schließen, dass sich Bakterien an mehr Oberflächen als gedacht befinden – sogar in Gummienten.

    „Im Grunde ist es Buchhaltung – man sieht, wie sich Leute [in der Simulation] bewegen“, sagt der Co-Autor Boris Valentijn Schmid, ein Biologe von der Universität Oslo.

    Nachdem Dean und Schmid die Modelle viele Male haben durchspielen lassen, werteten sie statistisch aus, welche Modelle am ehesten zu den Mustern von neun verschiedenen europäischen Pestausbrüchen nach 1300 passten. Zu ihrer Überraschung fanden sie heraus, dass bei sieben von neun untersuchten Städten das Modell für die menschlichen Parasiten besser zu den Aufzeichnungen über die Todesraten passte als das Modell für Rattenflöhe.

    „Das ist eine ziemlich coole Arbeit“, sagt Charles Macal, ein Wissenschaftler vom Argonne National Laboratory, der Modelle zur Ausbreitung von Krankheiten erstellt, an dieser Studie aber nicht beteiligt war. „Sie widmet sich der zugrundeliegenden Fragen, warum diese Ausbrüche überhaupt auftraten.“

    Dean und Schmid zufolge ist noch Raum vorhanden, um ihre Modelle mit weiteren experimentellen Daten zu verbessern. Sie räumen auch ein, dass ihre Studie wahrscheinlich eine Kontroverse unter den Gelehrten auslösen wird, die sich mit der Pest beschäftigen. Einige von ihnen vertreten geradezu leidenschaftlich die Ansicht, dass die mittelalterlichen Ausbrüche durch Ratten ausgelöst wurden.

    „Es gibt eine Menge heißer Debatten, was die Pest angeht“, sagt Dean, die sich selbst und Schmid in diesem Fall als objektive Beobachter betrachtet. „Wir haben da kein Pferd im Rennen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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