Gab es einen mittelalterlichen Orden der Assassinen?

Geschichten über heimliche Austragsmörder aus dem Nahen Osten, die im Drogenrausch töteten, sind in der Popkultur beliebt – aber wie viel ist an den Legenden über die Assassinen dran?

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 2. Juli 2020, 14:00 MESZ
Nizariten-Festung von Masayf in Syrien

Die Ruinen der Nizariten-Festung von Masayf in Syrien. Die Nizari-Ismailiten, oft mit dem abwertenden Begriff Assassinen bezeichnet, operierten im Mittelalter von befestigten Burgen aus.

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Hat ein geheimer Orden von Assassinen einst heimlich den Nahen Osten kontrolliert? Es ist eine faszinierende Legende, wie geschaffen für Videospiele und Chroniken aus der Zeit der Kreuzzüge. Aber das Wort „Assassine“ leitet sich eigentlich von einem abwertenden Begriff für die Nizariten ab – die geheimnisvolle Glaubensgemeinschaft schiitischer Muslime herrschte während des Mittelalters für kurze Zeit über ein begrenztes Gebiet.

Die Wurzeln der Nizariten liegen in der ursprünglichen Spaltung des Islam im Jahre 632 n. Chr. Damals spaltete ein Streit darüber, wer die Nachfolge des Propheten Mohammed als Imam antreten sollte, die muslimische Gemeinschaft in Schiiten und Sunniten. Im 9. Jahrhundert kam es dann unter den Schiiten zu einer weiteren Meinungsverschiedenheit bezüglich der Führung. Die Anhänger eines Imams namens Ismail gründeten daraufhin ihre eigene Sekte, die Ismailiten.

Ein mittelalterliches Gemälde zeigt die Ermordung eines persischen Wesirs (hochrangiger Beamter) aus dem 11. Jahrhundert durch ein Mitglied der Fedajin. Diese Krieger führten Schläge gegen die Feinde der Nizari-Ismailiten mit chirurgischer Präzision aus.

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Im Jahr 1095 stand ein ismailitischer Prinz namens Nizar an erster Stelle der Thronfolge in Kairo. Als er zugunsten seines jüngeren Bruders übergangen wurde, eroberte Nizar Alexandria und regierte für kurze Zeit über die Stadt. Wenig später wurde er jedoch hingerichtet. Seine Anhänger flohen nach Persien, wo sie ihre eigene Nachfolgelinie etablierten und forthin als Nizari-Ismailiten bekannt waren. Der ismailitische Missionar Hassan-i-Sabbah wurde zum Führer dieser Nizariten.

Die als dekadente Ketzer gebrandmarkten Nizariten wurden von schiitischen und sunnitischen Muslimen gleichermaßen gehasst. In der Unterzahl und auf allen Seiten von Feinden umgeben, tat die umkämpfte Gruppierung, was sie zum Überleben tun musste. Die Sekte errichtete Hochburgen in den Bergen Persiens und Syriens und bildete eine ausgewählte Gruppe von Kämpfern aus, die Fedajin genannt wurden – „diejenigen, die sich selbst opfern“. Die Fedajin waren für ihre Hingabe ebenso wie für ihr tödliches Geschick bekannt.

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    Traditionelle Militärtaktiken wären für die zahlenmäßig unterlegenen Nizariten nutzlos gewesen. Stattdessen führten die Fedajin mit fast schon chirurgischer Präzision einzelne Angriffe gegen ausgewählte politische Ziele durch. Ein Fedajin der Nizariten wurde ausgebildet, um zu infiltrieren, zu töten und sich gegebenenfalls der Folter und dem Tod hinzugeben. So eilte den Kämpfern schon bald ein überlebensgroßer Ruf voraus. Christliche Kreuzritter, die in das Heilige Land kamen, lernten ebenfalls, die Fedajin zu fürchten – obwohl die Nizariten teilweise auch Bündnisse mit Kreuzrittern eingingen.

    Historiker glauben, dass westliche Besucher mitunter nicht verstanden, warum die Nizariten mit Guerillataktiken kämpften. Sie gingen womöglich davon aus, dass die Krieger unter dem Einfluss einer Art Droge wie Haschisch standen. Andere muslimische Gruppen betitelten die Nizariten abwertend als hashishin (aus dem Arabischen: „Haschischkonsumenten“). Der Begriff wurde von den Kreuzrittern übernommen und als „Assassine“ verwestlicht. Im Englischen wurde er schließlich ein Synonym für einen Auftragsmörder („assassin“).

    Europäische Reisende wie Marco Polo verbreiteten fantasievolle Geschichten über die Nizari-Ismailiten – beispielswiese die Geschichte des Alten vom Berge, der angeblich Männer unter Drogen setzte, um sie zu Mördern zu machen. Eine Miniaturdarstellung aus dem 15. Jahrhundert zeigt den Alten vom Berge, wie er sich mit seinen Anhängern trifft.

    Foto von Universal History Archive, Getty

    Marco Polo und andere Westler verbreiteten reißerische Legenden über die Assassinen, darunter die Behauptung, dass die Fedajin dem Alten vom Berge, einem Nachfolger von Hassan, hörig waren. Angeblich nutzte der Alte Drogen, um die jungen Männer zu berauschen und sie dann mit dem Versprechen eines dekadenten, falschen Paradieses, das er innerhalb seiner Festungsmauern schuf, zum Kampf zu überreden. „Die Mythen der Ismailiten wurzeln in Furcht, Feindseligkeit, Ignoranz und Fantasie. Aber sie haben sie Vorstellungskraft unzähliger Generationen beflügelt“, schreibt der Historiker Farhad Daftary.

    Die Nizari-Ismailiten schafften es 166 Jahre lang zu überleben. Dann kamen die Mongolen. 1219 begannen sie mit der Eroberung der islamischen Welt und vertrieben die Nizariten Stück für Stück aus ihren Festungen. Die Überlebenden flohen im Angesicht der horrenden Verluste an Land und Leben.

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    Jahrhunderte, nachdem die Nizariten ihren Einflussbereich verloren hatten, besteht die ismailitische Sekte weiter. Heute sind bis zu 15 Millionen Ismailiten in mehr als 25 Ländern rund um den Globus verteilt, und sie sind die zweitgrößte Gruppe der schiitischen Muslime. Die Mehrheit der Ismailiten sind nach wie vor Nizariten und akzeptieren Shāh Karim al-Husayni als Aga Khan – ein Ehrentitel, den die Imame der Nizari-Ismailiten seit dem 19. Jahrhundert tragen.

    Die Tage der Assassinen sind längst vorbei, aber in der Popkultur sind die Legenden von den Nizariten so beliebt wie eh und je: Die Videospielreihe „The Assassin's Creed“ hat sich zu einem der meistverkauften Videospiel-Franchises aller Zeiten entwickelt – aber das geheimnisvolle, sensationslüsterne Bild, das sie von den Assassinen zeichnet, entbehrt jeder historischen Grundlage.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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