Transi: Das Kadaver-Selfie des Spätmittelalters

Wohlhabende Ritter und Kaufleute ließen oft noch zu Lebzeiten unschmeichelhafte Grabplastiken ihrer künftigen Leichname anfertigen. Eine Forscherin aus Großbritannien ging der Frage nach, was sie mit diesen Darstellungen bezweckten.

Die Skulptur eines Kadavers ziert das Grab des Adeligen John Fitzalan, der 1435 starb. Sie befindet sich im Arundel Castle in Arundel, Großbritannien.

Foto von Christina Welch
Von Becky Little
Veröffentlicht am 4. Juni 2021, 10:57 MESZ

Einen Künstler dafür zu bezahlen, eine tote, abgemagerte und fast nackte Version von sich selbst zu modellieren, klingt ziemlich bizarr – aber nur, weil es aus der Mode gekommen ist. Laut Christina Welch zahlten einige wohlhabende Personen und Familien im Spätmittelalter Höchstpreise für gemeißelte Kadaver-Selfies. 

Manchmal gaben die Menschen die Grabplastiken von sich selbst in Auftrag, während sie noch lebten; manchmal ließen ihre Familien sie anfertigen, entweder vor oder nach dem Tod eines geliebten Menschen.

Welch, eine Dozentin für Religionswissenschaften an der University of Winchester in Großbritannien, hat 41 dieser als Transi bekannten Skulpturen in England und Wales untersucht. Sie sprach mit National Geographic darüber, warum mittelalterliche Ritter und Kleriker ein Abbild ihres künftigen Leichnams haben wollten.

Was ist ein Transi?

Transi ist ein französisches Wort, das „übergegangen“ bedeutet. Als Transi bezeichnet man also jede Form des Gedenkens, die die Toten abbildet. Ich erforsche eine spezifische Form der Transi-Kunst.

Der in Stein gemeißelte Kadaver eines nicht identifizierten, wohlhabenden Mannes befindet sich in der St. Andrew's Church in Feniton, Großbritannien.

Foto von Christina Welch

Wen stellen diese Transis dar?

Die Transis, mit denen ich mich befasse, sind allesamt in England und Wales zu sehen. Sie alle [stellen] jemanden dar, der wohlhabend war. Unter denen, die identifiziert werden konnten, finden sich hochrangige Kleriker und Ritter des Reiches. Auch eine Frau ist dabei, der Rest sind wohlhabende Kaufleute.

Die Skulpturen kosteten etwa so viel wie heute ein Luxussportwagen der Oberklasse. Es war außerordentlich teuer, sie anfertigen zu lassen. Das konnte man nicht einfach mal eben beim örtlichen Steinmetz abholen.

Stilistisch gibt es sie vor allem in zwei Arten von Ausführungen. Es gibt eine ausgemergelte, nackte Figur, die in ein Leichentuch gehüllt ist und deren Hände ihre Blöße bedecken. Und es gibt die Kinderfiguren mit einem Auferstehungsmotiv. Aber die meisten sind einfach nur gemeißelte Kadaver.

BELIEBT

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    An der gemeißelten Leichenplastik von John Fitzalan sind Rippen und Nackenmuskulatur sichtbar.

    Foto von Christina Welch

    Warum wurden solche Plastiken überhaupt angefertigt?

    Man kennt sie auch als memento mori. Sie dienen dazu, dass man für die dargestellte Person betet, die im Fegefeuer leidet. Wenn der eigene Vater oder die Mutter sich im Fegefeuer befand, konnte man Gebete für sie sprechen lassen. Dadurch wurde ihre Zeit im Fegefeuer verkürzt oder sie mussten weniger leiden. Fromm zu sein war damals wirklich wichtig. War man wohlhabend, spendete man zum Beispiel Almosen an Armenhäuser und im Gegenzug wurde für die eigene Seele gebetet.

    Ein Teil meiner Theorie ist, dass die extrem abgemagerten Darstellungen – im Grunde sehen die meisten Transi magersüchtig aus – den Zweck haben, spirituelle Demut zu zeigen, die dem Inneren entsprang. Denn ehrlich gesagt aßen die wohlhabenden Leute damals ziemlich gut und starben eher an Krankheiten, die mit Fettleibigkeit zusammenhängen, als an Magersucht.

    Für die damalige Zeit sind sie anatomisch überraschend korrekt.

    Die allererste bekannte Plastik wurde etwa zwischen 1420 und 1425 in Auftrag gegeben. Mit dieser Zeit assoziieren wir in der Regel – vor allem in Nordeuropa – einen Mangel an anatomischen Kenntnissen.

    Bildhauer hatten, anders als heute, keine lebenden Modelle, weil es im Allgemeinen als sehr beschämend angesehen wurde, sich nackt vor jemandem zu zeigen. Die Tatsache, dass dieses Maß an anatomischen Details zu sehen ist – einige von ihnen haben eingemeißelte Venen, es gibt Muskeldetails, Knochendetails an Teilen des Fußes –, ist für die 1420er absolut erstaunlich.

    Der gemeißelte Kadaver eines nicht identifizierten Mannes bedeckt seine Blöße in der Kirche St. Nicholas in Denston, Vereinigtes Königreich.

    Foto von Christina Welch

    Wie gelang den Bildhauern diese Detailgenauigkeit?

    Ich habe eine Theorie dazu, aber sie ist ziemlich umstritten. Ich denke, dass sie wahrscheinlich Ärzte bezahlt haben, um Zugang zu echten, ausgemergelten Toten zu bekommen. Das klingt zwar überraschend, aber es wäre tatsächlich nicht das einzige Mal in der Geschichte, dass sowas passiert ist. Ford Madox Brown wurde mal beauftragt, Gedichte zu [illustrieren] – und damit er die anatomischen Details in einem bestimmten Gedicht richtig darstellen konnte, ließ er sich von einem Freund eine Leiche besorgen.

    Einige Figuren sehen so aus, als wären sie fast lebendig. Es scheint, als würden sie gegen etwas ankämpfen.

    Nicht alle sind so dargestellt, aber die meisten. Sie stehen unter Spannung – sie befinden sich in einer Art Grenzzustand zwischen Leben und Sterben. Ihre Münder sind offen, ihre Augen teilweise geöffnet. Sie sehen aus, als hätten sie ziemliche Schmerzen.

    Das ist jetzt auch wieder umstritten, aber ich behaupte, dass man in England und Wales davon ausging, dass man den Schmerz des Fegefeuers spürte, während der eigene Körper verweste. Bilder und Schriften über das Fegefeuer aus dieser Zeit sprechen eine sehr eindringliche Sprache. Ich denke also, dass diese Darstellungen untermauern sollten, dass das Fegefeuer ein sehr böser Ort sein könnte und man besser so fromm leben sollte, wie man nur konnte.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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