Computerspiele helfen bei Rekonstruktion von 1.800 Jahre altem Kettenhemd

Mithilfe einer Technologie, die bei der Entwicklung von Computerspielen zum Einsatz kommt, haben Wissenschaftler den germanischen Kettenpanzer aus Vimose rekonstruiert und gezeigt, wie innovativ die Germanen waren.

Von Andrew Curry
Veröffentlicht am 5. Aug. 2021, 17:39 MESZ, Aktualisiert am 6. Aug. 2021, 09:06 MESZ
Der Vimose-Kettenpanzer ist ein fast zehn Kilo schweres Teilstück einer Rüstung, das vor 1.800 Jahren in ...

Der Vimose-Kettenpanzer ist ein fast zehn Kilo schweres Teilstück einer Rüstung, das vor 1.800 Jahren in einem dänischen Moor als Geschenk an die Götter versenkt wurde.

Foto von M.A. Wijnhoven

Im Jahr 200 n. Chr. verlor ein hochrangiger germanischer Krieger bei einer Schlacht irgendwo im heutigen Dänemark sein Leben. Nach dem Kampf stahlen die Mörder seinen kostbaren Kettenpanzer, der in mühevoller Handarbeit aus 20.000 kleinen Eisenringen gefertigt worden war, und warfen ihn ins Moor – als Opfer für die Götter, zum Dank für den Sieg.

Im späten 19. Jahrhundert wurde der Kettenpanzer gemeinsam mit anderen Artefakten von Archäologen im Moor Vimose in Dänemark gefunden. Das fast zehn Kilogramm schwere Rüstungsteil wird aufgrund seines Fundorts Vimose-Kettenpanzer genannt. Dank des niedrigen Sauerstoffgehalts des Moorschlamms ist er fast noch vollständig und extrem gut erhalten.

Fast 1.800 Jahre nachdem der Kettenpanzer im Moor versank, wollten Forscher herausfinden, wie er an seinem langverstorbenen, ehemaligen Besitzer ausgesehen hatte – und das alles, ohne ihn tatsächlich anzuziehen. Ein abschließender Bericht zu dieser Untersuchung erschien in der Zeitschrift „Journal of Cultural Heritage“.

Antike Artefakte: nur Anschauen, nicht Anziehen

Die Frage, wie sich Menschen in vergangenen Zeiten gekleidet haben, können Wissenschaftler relativ leicht beantworten: Da wir die damals verwendeten Stoffe heute noch kennen, wissen wir, wie sie sich dehnen, wie sie fallen und hängen. „Anhand von Merkmalen wie Dehnbarkeit, Gewicht und Beschaffenheit eines Materials können wir einschätzen, wie die Schwerkraft sich darauf auswirkt“, sagt Aleksei Moskvin, Co-Autor der Studie und Computerwissenschaftler an der staatlichen Universität St. Petersburg für Technologie und Design.

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Die Rekonstruktion der Trageeigenschaften eines bestimmten Kettenpanzers – auch Kettenhemd genannt – ist da schon um einiges schwieriger. Erste Hinweise auf das Rüstungsteil stammen aus der Zeit um 300 v. Chr., danach hat es sich in alle Länder verbreitet und wurde von germanischen Stammeskriegern, römischen Legionären und spanischen Konquistadoren gleichermaßen getragen. Doch Tausende kleine, miteinander verbundene Metallglieder, aus denen der Panzer besteht, sind mit Stoff nicht vergleichbar. Wirkt die Schwerkraft auf eines von ihnen, beeinflusst das den Fall und die Bewegung aller anderen. Flach auf dem Tisch abgelegt, verhalten sich die Glieder anders zueinander, als wenn der Kettenpanzer auf den Schultern eines Kriegers ruht.

Und damit hören die Schwierigkeiten nicht auf. „Man kann so ein uraltes Artefakt natürlich nicht einfach anziehen“, erklärt Martijn Wijnhoven, Archäologe an der VU Universität in Amsterdam und Co-Autor der Studie. „Um zu sehen, wie das Material sich in Bewegung verhält, mussten wir uns also etwas anderes einfallen lassen.“

Aleksei Moskvin und Martijn Wijnhoven fanden die Lösung in einer Technologie, die bei der Entwicklung von Computerspielen zum Einsatz kommt. Von den Kuratoren des dänischen Nationalmuseums, in dem der Kettenpanzer verwahrt wird, bekamen sie zum Zweck ihrer Forschungen die Erlaubnis, ihn einer Modellpuppe anzuziehen.

Eine perfekte Simulation

Sie wandten dann ein spezielles Computerspiel Framework, die sogenannte Engine, an, um jeden einzelnen Ring des Vimose-Kettenpanzers am Computer nachzubilden und zogen die digitale Version des Artefakts einer virtuellen Figur an. Dabei war die größte Herausforderung die Berechnung des physikalischen Zusammenspiels der 20.000 individuellen Bestandteile. „Zwanzig oder hundert Ringe – kein Problem”, sagt Aleksei Moskvin. „Aber die Wechselwirkung von weiteren 19.000 Ringen zu simulieren war sehr schwierig.“

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    Nachdem es den Forschern gelungen war, den Kettenpanzer mithilfe der Engine präzise nachzubauen, fügten sie der Simulation Computermodelle anderer Kleidungsstücke hinzu, die im Moor gefunden worden waren. Auf diese Weise erstellten sie einen virtuellen, vollständig bekleideten germanischen Krieger und konnten ermitteln, wie dieser im Kampf ausgesehen und wie sich der Kettenpanzer bei seinen Bewegungen verhalten hat. „Mir gefällt dieser neue Forschungsansatz sehr”, sagt Gregory Aldrete, emeritierter Professor an der University of Wisconsin-Green Bay, der an der Studie nicht beteiligt war. „Informationen dieser Art kann man nur erlangen, indem man mithilfe einer Simulation verschiedene Variablen ausprobiert. Das ist genau das, was die beiden gemacht haben – mit Erfolg.“

    Die Simulation zeigte zum Beispiel, dass durch das Tragen eines Gürtels über dem Kettenpanzer das Gewicht der Glieder gleichmäßiger verteilt und ein Verrutschen des Kettenhemdes im Kampf vermieden wurde. Die Forscher fanden auch heraus, dass der Kettenpanzer weit und dehnbar genug war, um darunter eine dicke Unterbekleidung aus Filz zu tragen, die in Schlachten zusätzlichen Schutz bot.

    Von den meisten Kettenpanzern, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden, sind nur noch Fragmente übrig, die darüber hinaus oft verrostet oder beschädigt sind. Der Vimose-Kettenpanzer hingegen ist einer der am besten erhaltenen antiken Kettenpanzer der Welt und „für diese Art von Experiment hervorragend geeignet“, so Jonathan Coulston, Archäologe an der University of St. Andrews in Schottland, der nicht Teil des Forschungsteams war. 

    Die Wissenschaftler hoffen, dass sie die Methode in der Zukunft auf andere Artefakte dieser Art anwenden können. „Mit nur zwei oder drei gut erhaltenen Gliedern ist es möglich, das gesamte Gewebe zu rekonstruieren“, sagt Martijn Wijnhoven.

    Dies könnte wiederum tiefere Einblicke in die Präferenzen der Hersteller und Träger antiker Rüstungen liefern. Waren die Kettenpanzer schwer und steif, um maximalen Schutz zu bieten? Oder wurden leichte, flexible Kettenhemden bevorzugt? „In der virtuellen Welt können wir Aspekte untersuchen, die uns in der realen Welt nicht zugänglich sind“, erklärt Martijn Wijnhoven. „Etwa ob man in dem Kettenpanzer auf einem Pferd reiten konnte. Oder ob es möglich war, darin zu rennen.”

    Laut Jonathan Coulston könnte sich diese Methode noch als sehr hilfreich erweisen. „Möglicherweise liefert sie nicht nur Informationen dazu, wie sich solche Rüstungsteile beim Tragen verhalten haben, sondern auch darüber, inwieweit sie Schutz gegen Geschosse oder scharfe oder stumpfe Waffen geboten haben.“

    Neue Erkenntnisse über die Germanen

    Was ursprünglich dazu gedacht war, die Eignung der Computersimulation als wissenschaftliche Methode zu beweisen, hat in diesem Zuge bereits einige neue Erkenntnisse gebracht. Etwa, dass der germanische Krieger, der einst den Vimose-Kettenpanzer getragen hat, offenbar Wert auf Flexibilität legte und deswegen für seine Rüstung große, dünne Glieder verwenden ließ, die das Kettenhemd vergleichsweise leicht machen.

    Nach genauerer Betrachtung fiel den Forschern noch etwas anderes auf. Laut Martijn Wijnhoven gingen Archäologen bisher davon aus, dass die Barbaren jenseits der Grenzen des Römischen Reichs nicht kultiviert genug waren, um selbst Kettenhemden herzustellen und diese stattdessen importierten oder von römischen Legionären stahlen.

    Der Ausschnitt des Vimose-Kettenpanzers weist jedoch ein ausgeklügeltes Schnallensystem an beiden Seiten des Halses auf, mithilfe dessen die Öffnung erweitert oder verengt und die Passform verändert werden konnte. „Dies ist ein einzigartiges Merkmal, das wir so an keinem Kettenpanzer aus dem Römischen Reich festgestellt haben“, sagt Martijn Wijnhoven. „Das allein verrät uns viel über die Technologien und die Gesellschaft der germanischen Stämme.“

    So wie die Wissenschaft für ihre Forschung von der Computerspieltechnologie profitiert hat, können auch die Computerspielindustrie und Special Effect-Einheiten von Filmproduktionen ihren Vorteil aus den Erkenntnissen der Forscher ziehen. Deren Designer haben nun die Möglichkeit, antike Rüstungen realistischer darzustellen. Und eines Tages, so hofft Martijn Wijnhoven, könnte die Technologie sogar Einzug in die Museen dieser Welt halten.

    „Es wäre doch fantastisch, wenn man irgendwann einer digitalen Version von sich selbst diese Rüstungsteile anziehen könnte“, sagt er.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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