Moorleiche aus der Eisenzeit: Was sein letztes Mahl über den Tollund-Mann verrät

Vor rund 2.400 Jahren wurde ein Mann im Moor ermordet. Um mehr Rückschlüsse auf das Leben von damals ziehen zu können, haben Wissenschaftler nun den Mageninhalt des sogenannten Tollund-Mannes untersucht.

Von Elizabeth Djinis
Veröffentlicht am 22. Juli 2021, 10:08 MESZ
Vor etwa 2.400 Jahren wurde der Tollund-Mann mit einer Lederschlinge erwürgt und in einen dänischen Sumpf ...

Vor etwa 2.400 Jahren wurde der Tollund-Mann mit einer Lederschlinge erwürgt und in einen dänischen Sumpf geworfen.

Foto von Robert Clark, Nat Geo Image Collection

Von all den sterblichen Überresten der Menschheitsgeschichte, mit denen sich die moderne Archäologie beschäftigt, sind Moorleichen wohl die geheimnisvollsten – und auch unheimlichsten. Die circa 2.000 Jahre alten Leichen, die in den Torfmooren Nordeuropas und Englands gefunden wurden, sind so gut konserviert, dass man bei manchen noch die Gesichtszüge erkennen kann. Auch Rückschlüsse auf die genaueren Umstände ihres Todes im Moor sind möglich.

Eine besonders berühmte Moorleiche ist der Tollund-Mann. Er wurde am 6. Mai 1950 in der Nähe von Silkeborg in der nördlichen Mitte Dänemarks gefunden. Die Frau eines Torfstechers entdeckte seinen Körper in einer Grube – nackt bis auf eine wollene Mütze auf seinem Kopf, um den Hals eine Lederschlinge, mit der er erdrosselt worden war. Aufgrund seines guten Erhaltungszustands nahmen die Finder an, es handele sich um einen noch jungen Mord. Die Polizei wurde gerufen und schnell stellte sich heraus, dass der Mann in der Grube schon vor langer Zeit gestorben war: etwa 350 v. Chr., in der Eisenzeit.

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Die genaue Todesursache können Archäologen im Fall von Moorleichen leicht feststellen: Meist starben die Menschen infolge eines Schlags mit einem stumpfen Gegenstand, durch Ersticken oder weil ihre Kehle durchschnitten wurde. Doch herauszufinden, was dem tödlichen Finale vorausging, ist schwierig. Handelt es sich bei der Leiche um ein zufälliges Mordopfer oder war der Tod Teil eines Rituals? Wie wurden die Opfer für eine zeremonielle Tötung ausgewählt? Aßen sie ein besonderes letztes Mahl und wurden ihnen vielleicht sogar Rauschmittel verabreicht, die dem nahenden Tod den Schrecken nehmen sollten?

Für eine in der Zeitschrift „Antiquity“ erschienene Studie haben Wissenschaftler den Mageninhalt des Tollund-Mannes analysiert – und waren überrascht von dem Mangel an Überraschungen.

Speiseplan einer Moorleiche

Bereits kurz nach seiner Entdeckung in den 50er Jahren wurde der extrem gut erhaltene Verdauungstrakt des Tollund-Mannes untersucht. Die Forscher stellten damals fest, dass der etwa 40-jährige Mann seine letzte Mahlzeit 12 bis 24 Stunden vor seinem Tod zu sich genommen haben musste.

Nina Nielsen ist Forschungsdirektorin des dänischen Silkeborg Museums, in dem der Tollund-Mann ausgestellt wird. Unter ihrer Leitung hat ein Forschungsteam unter Einsatz modernster Technologie den Mageninhalt erneut untersucht – die umfangreichste Magenanalyse einer Moorleiche, die jemals durchgeführt worden ist. Dabei fanden die Wissenschaftler makrofossile Reste von Pflanzen, Blütenstaub und andere mikroskopisch kleine Hinweise auf Speisen und Getränke.

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    Eine Zusammenfassung des Mageninhalts des Tollund-Mannes (Fisch ausgenommen) im Mengenverhältnis: 1) Gerste 2) Ampfer-Knöterich 3) Flachs 4) Windenknöterich 5) Sand 6) Leindotter 7) Weißer Gänsefuß 8) Acker-Spark 9) Gemeiner Hohlzahn 10) Acker-Stiefmütterchen

    Foto von Museum Silkeborg

    Ergebnis der Analyse war, dass der Tollund-Mann vor seinem Tod Gerste, Flachs, Wildpflanzen und etwas Fisch zu sich genommen hat. Damit ist der Mageninhalt des Tollund-Mannes so gut wie deckungsgleich mit dem von etwa zwölf anderen europäischen Moorleichen aus der Eisenzeit, deren Mageninhalt in früheren Studien analysiert wurde. Auch bei ihnen wurden hauptsächlich Reste von Getreidespeisen, etwas Fleisch und Beeren im Verdauungstrakt festgestellt. Neben den Ergebnissen aus den Untersuchungen von Moorleichen gibt es aber so gut wie keine weiteren Informationen über die Ernährungsgewohnheiten der Menschen der damaligen Menschen. Aus diesem Grund zögern Wissenschaftler, diesen Speiseplan als allgemeingültig für die Eisenzeit anzusehen.

    Was die Forscher jedoch sicher bestimmen konnten, war die Art, auf die das letzte Mahl des Tollund-Mannes zubereitet worden war. Anhand mikroskopisch kleiner Stücke verkohlten Breis, die sie im Verdauungstrakt fanden, kamen sie zu dem Schluss, dass das Essen in einem Tontopf gekocht worden und dabei angebrannt war.

    „Die Studie kann einen Eindruck davon geben, welche Ernährung in der Eisenzeit möglicherweise Standard war. Wirklich interessant ist jedoch die konkrete Information darüber, was der Mann am Tag seines Todes gegessen hat“, so Nina Nielsen. „Dadurch ist man sehr nah am Geschehen.“

    Rituale, Menschenopfer – Drogen?

    Ihr Team suchte außerdem nach besonderen Wirkstoffen. Spuren von Halluzinogenen, anderen Rausch- oder schmerzstillenden Mitteln wären deutliche Hinweise darauf, dass die letzte Mahlzeit und der Tod des Tollund-Mannes ritueller Natur waren und ihm unnötiges Leid erspart werden sollte.

    Eine weitere bekannte Moorleiche, der Lindow-Mann, wurde in den 80er Jahren im Nordwesten Englands gefunden. In seinem Magen stellten Forscher damals Reste von Mistelkraut fest, einer Pflanze, die für medizinische Zwecke eingesetzt werden kann. Die Wissenschaftler kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass die gefundene Menge zu gering war, um einen nennenswerten Effekt zu haben. 

    Mikroskopische Ansicht des Mageninhalts des Tollund-Mannes.

    Foto von P.S. Henriksen, The Danish National Museum

    Bei einer Untersuchung des Grauballe-Mannes, der ganz in der Nähe des Tollund-Mannes gefunden wurde und etwa aus derselben Zeit stammt, wurde Mutterkorn im Magen festgestellt. Die Einnahme dieses Pilzes, der Getreidepflanzen befällt und bei der Entwicklung von LSD eine große Rolle spielte, kann schwere psychoaktive Folgen haben. Doch auch im Fall des Grauballe-Mannes war die gefundene Menge zu klein, als dass sie einen relevanten Effekt gehabt haben könnte. Forscher vermuten, dass die Substanz aus Versehen aufgenommen wurde.

    Dass im Verdauungstrakt des Tollund-Mannes keine Reste von Halluzinogenen oder medizinischen Pflanzen gefunden wurden, deckt sich also mit den bisherigen Untersuchungen anderer Moorleichen. „Wir konnten keine Beweise dafür erbringen, dass der Tollund-Mann vor seinem Tod eine spezielle Medizin zu sich genommen hat“, sagt Nina Nielsen.

    Alte Körper, neue Studien

    Laut den neuen Forschungsergebnissen gibt es aber trotzdem Ähnlichkeiten zwischen den letzten Mahlzeiten der Moorleichen, die von zeremonieller Bedeutung sein und auf den Tod als Teil eines Rituals hinweisen könnten. Im Magen mehrerer Moorleichen wurden Samen und Spreu wilder Pflanzen festgestellt, besonders bemerkenswert ist dabei der Fund von Ampfer-Knöterich.

    „Die Mahlzeiten bestanden nicht nur aus Getreidekörnern und -brei, sondern im Fall des Tollund-Mannes auch aus vielen, vielen verschiedenen Samen und Teilen von Wildpflanzen“, sagt Miranda Aldhouse-Green, emeritierte Professorin an der Cardiff University. „Es scheint so, als wäre es von besonderer Signifikanz für das letzte Mahl gewesen, dass mit diesem eine große Vielfalt regionaler Pflanzen aufgenommen wurde.“

    Laut Henry Chapman, Archäologieprofessor an der University of Birmingham, könnten die Landschaften rund um die europäischen Sümpfe, in denen Moorleichen gefunden wurden, Aufschluss darüber geben, warum solche Rituale überhaupt durchgeführt wurden.

    In den Jahren bevor der Lindow-Mann starb, nahm die Feuchtigkeit des Moores, in dem er schließlich seine letzte Ruhe fand, stark zu. Für die Menschen, die in dieser Gegend lebten, bedeutete das eine Verschlechterung des Klimas und den Verlust landwirtschaftlicher Nutzflächen.

    „Es besteht die Vermutung, dass ein Menschenopfer gebracht wurde, um diese Entwicklung zu beenden“, so Henry Chapman.

    In der Erforschung von Moorleichen dürfte als nächstes die DNA-Analyse zum Einsatz kommen. Noch ist es fast unmöglich, die Technik auf diesem Gebiet anzuwenden, da durch das saure Milieu des Moores, in dem die Leichen konserviert werden, kein genetisches Material entnommen werden kann. Wissenschaftler sind aber optimistisch, dass es schon bald Technologien geben wird, für die das kein Hindernis mehr ist.

    In den Moorleichen, die bislang von der Wissenschaft erforscht wurden, sind Informationen über die Menschen und das Leben vor Tausenden von Jahren auf bemerkenswerte Weise konserviert. Trotzdem sind Archäologen zurückhaltend, anhand der bisherigen Ergebnisse weitgreifende Rückschlüsse auf das alltägliche Leben im Europa der Eisenzeit zu ziehen.

    „Moorleichen sind ungewöhnlich“, sagt Henry Chapman. „Das ist Fluch und Segen zugleich.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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