Wer war Hypatia von Alexandria?

Bekannt ist sie heute vor allem durch ihre spektakuläre Ermordung. Aber die spätantike Wissenschaftlerin und Philosophin hat auch über die Umstände ihres Todes hinaus einen Platz in der Philosophiegeschichte verdient.

Als Universalgelehrte leistete Hypatia von Alexandria auch in anderen Disziplinen Herausragendes: in der Mathematik, der Astronomie, der Technik.

Foto von Science History Images / Alamy Stock Photo
Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 18. Nov. 2021, 11:24 MEZ, Aktualisiert am 22. Nov. 2021, 10:11 MEZ

Im fünften Jahrhundert wurde eine Frau ermordet. Eine Philosophin, die zwischen die Fronten der zu ihrer Zeit herrschenden politischen und religiösen Kämpfe geriet. Eine Philosophin, die ihre Zeit vorantrieb, wie kaum eine andere. Trotzdem ist in den Geschichtsbüchern von Hypatia von Alexandria vor allem eines hängen geblieben: die Geschichte ihres Todes.

Aber Hypatia war eine hochgebildete und hochintelligente Frau, die von ihren Zeitgenossen geschätzt und bewundert wurde: als Mathematikerin, Astronomin und Philosophin. Kurz um eine Universalgelehrte, deren Ausbildung der ihrer männlichen Kollegen in nichts nachstand. „Es gab in Alexandria eine Frau, […] die in Literatur und Wissenschaft so erfolgreich war, dass sie alle Philosophen ihrer Zeit übertraf“, schrieb ihr Zeitgenosse Sokrates Scholastikos und traf es damit wohl auf den Punkt. Doch mit den Jahrhunderten geriet sie fast in Vergessenheit. Nur dass sie ermordet wurde, blieb von ihrem Erbe übrig.

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Die Frau im Philosophenmantel

Geboren wurde Hypatia von Alexandria um 370 n. Chr. als Tochter des angesehenen Mathematikers und Astronomen Theon von Alexandria und genoss als solche eine umfangreiche Ausbildung. Sie wuchs in der Schule ihres Vaters und in einem Umfeld aus Gelehrten auf, studierte am Museion – einer philosophischen Bibliothek und Schule in Alexandria – und galt schon früh als außerordentlich intelligent.

Schnell unterrichtete sie selbst an Theons Schule, an der sie schließlich Vorsteherin wurde und sie maßgeblich weiterentwickelte. Ihr Wirken ging jedoch über die Schule hinaus. Sie hielt öffentliche Vorträge in Alexandria, zu denen Menschen, darunter vor allem auch Philosophen, die von überall kamen – nur, um sie sprechen zu hören. Unter ihren Zeitgenossen wurde Hypatia schnell als eloquente und geschickte Rednerin bekannt, die im griechisch-antiken Geist und dennoch zukunftsgewandt die Lehren der Philosophie verbreitete.

Wie es damals üblich war, entwickelte Hypatia dabei keine eigene neue philosophische Lehre, sondern unterrichtete und interpretierte die Lehren Platons und Aristoteles und die neuplatonische Lehre. Diese trug sie an ihre Schüler und Zuhörer heran. Dabei war sie so erfolgreich, dass ihr sogar die Ehre, den Philosophenmantel zu tragen, zuteilwurde. Der sogenannte Tribon war in der Antike und Spätantike eigentlich nur Männern vorbehalten und zeigte einen besonderen Status unter Philosophinnen und Philosophen an.

Als Universalgelehrte leistete Hypatia von Alexandria auch in anderen Disziplinen Herausragendes: in der Mathematik, der Astronomie, der Technik. Sie soll mehrere Schriften zu mathematischen Prinzipien und technischen Erfindungen verfasst haben. In ihrem Unterricht ließ sie beispielsweise nach eigener Anleitung ein astronomisches Messgerät bauen – ein sogenanntes Astrolabium.

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    Wie die Philosophie ihre Frauen vergisst

    Heutzutage wird vor allem Hypatias Vater in der Philosophiegeschichte aufgeführt. Hypatia wird dabei bis auf die Schilderungen ihres Todes weitestgehend ausgeblendet – trotz ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Leistungen und trotz ihrer besonderen Stellung als Frau, die sich öffentlich frei bewegte und frei lehrte. Der Grund dafür ist so einfach wie traurig: Die Philosophie ist und war in den Augen vieler eine Männerdomäne.

    Prof. Dr. Maria Nühlen von der Uni Merseburg forscht seit Jahren im Bereich der Philosophinnen der griechischen Antike. Sie sagt: „Es sind nicht wenige Frauen, die man in der Philosophiegeschichte finden kann, aber die schriftlichen Dokumente – die Fragmente – die fehlen.“ So seien dann viele Philosophinnen in Vergessenheit geraten.

    Auch das, was man über Hypatias Lehren weiß, geht fast ausschließlich aus den Schriften anderer hervor. Beispielsweise weiß man von ihrer Anleitung zur Anfertigung des Astrolabiums aus den Briefen und Schriften des Synesios von Kyrene, einem zeitgenössischen Philosophen und Freund Hypatias. Doch damit nicht genug: Historisch wird diesen Sekundärquellen gerade in Bezug auf Frauen oft nicht genug Wert beigemessen – ihre Errungenschaften gelten dann häufig als nicht nachweisbar.

    Laut Maria Nühlen wird hier bei Frauen und Männern mit zweierlei Maß gemessen: „Bei Philosophen reicht es aus, dass andere über sie berichtet haben. Von Pythagoras gibt es beispielsweise keinen einzigen von ihm schriftlich fixierten Satz, sondern nur solche über ihn. Wenn das aber bei den Frauen der Fall ist, heißt es sofort, es gäbe keinen Beweis“.

    Dieser Umgang mit den Lehren und Schriften weiblicher Gelehrter zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte hindurch. Denn bereits zu Hypatias Lebzeiten ging es bei Philosophinnen oft um mehr als nur ihren Intellekt. „Man beschäftigte sich bei den Philosophinnen mit ihrem Aussehen – alle Philosophinnen waren natürlich sehr schön und mussten auch schön sein, um zu lehren. Bei den Männern spielte das keine Rolle“, so Nühlen.

    Auch im Falle von Hypatia wurde und wird immer wieder über ihr Aussehen geschrieben. In dem Film Agora – die Säulen des Himmels, der 2010 in die deutschen Kinos kam und von Hypatias Leben handelt, wird der Fokus ebenfalls von ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Arbeit genommen. Es geht um ihre Schönheit, um Männer, die in sie verliebt waren und um den fiktionalen Sklaven Davus, der die Filmfigur Hypatia erstickt, um sie von einem grausameren Tod zu bewahren. Bei so viel Fiktion bleibt in der Geschichte wenig Inhaltliches übrig.

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    Alexandria im Umbruch

    Wichtig sind die Umstände von Hypatias Ermordung dennoch. Hypatia lebte zu einer Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs in Alexandria. Der zunehmende christliche Einfluss resultierte immer wieder in Unruhen zwischen der christlich-religiösen und der weltlichen Lehre.

    Hinzu kamen verschiedene Machtansprüche der Römer und der alten Griechen, Kämpfe zwischen kommunalen Herrschern, Straßenkriege zwischen den einzelnen Vierteln Alexandrias und Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen christlichen Strömungen.

    Inmitten dieses Konglomerats der Geistesströmungen und Machtansprüche befand sich Hypatia. Durch ihre hohe Stellung in der philosophischen Gemeinschaft Alexandrias stand sie gewissermaßen für die alte griechische Lehre, die Götterwelt und so auch gegen den aufstrebenden Monotheismus.

    Hypatia selbst führte mit verschiedensten Leuten politische Gespräche. Beispielsweise gehörte der Präfekt Orestes, der sich gegen den christlichen Einfluss richtete, zu ihrem engeren Kreis und die beiden tauschten sich regelmäßig politisch aus. Aber auch der Philosoph und Bischof von Ptolemais – der bereits erwähnte Synesios von Kyrene – gehörte zu ihren Vertrauten und auch unter ihren Schülern befanden sich Christen.

    Hypatias Tod: ein historischer Mord

    Zum Verhängnis wurde Hypatia dann sowohl ihre Stellung als neuplatonische Philosophin und die Tatsache, dass sie sich als unverheiratete und sehr gelehrte Frau öffentlich und frei in Alexandria bewegte.

    Die genauen Umstände der Ermordung Hypatias wurden über die Zeit hinweg immer wieder ausgeschmückt und teilweise spektakulär fiktionalisiert. Aus verschiedenen Quellen kann man aber Folgendes schließen: Im Jahr 415 wurde Hypatia entweder auf offener Straße oder in ihrem Zuhause von einer wütenden Menschengruppe ergriffen, entkleidet und schließlich brutal getötet. Anschließend wurde ihr Leichnam verbrannt. Sie wurde circa 45 Jahre alt.

    Vermutlich geschah die Verbrennung Hypatias in einer Kirche in Alexandria. Dieser Umstand gibt ihrem Mord durchaus den Charakter eines Ritualmordes, der stellvertretend für eine ganze Geistesströmung stehen sollte. Laut Maria Nühlen sollte so „die alte Lehre des griechisch-antiken Glaubens auch mitverbrannt werden“.

    Aufgeklärt wurde Hypatias Mord letztendlich nie. Er war zu dieser Zeit der politischen und religiösen Kämpfe auch nicht der Einzige – aber sicherlich einer der brutalsten. Und er zeigt auch, welch hohen Stellenwert Hypatia in Alexandria genoss und welche Furcht sie in ihren politischen Gegenübern ausgelöst haben musste.

    „Verteidige dein Recht zu denken.“ Dieses Zitat kann man Hypatia aufgrund des Fehlens ihrer Schriften nicht eindeutig nachweisen. Dennoch scheint es programmatisch für ihre Lehren und ihr Leben zu stehen.

    Sie war eine Universalgelehrte, eine Philosophin und vor allem eine Frau, die sich in der spätantiken Gesellschaft Alexandrias einen Namen gemacht hatte – einen Namen, der für mehr steht als einen brutalen Mord.

     

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