„Lost Places“: Neugier, Nervenkitzel und die morbide Schönheit des Verfalls
Dieses alte Hotel in einem kleinen Dorf ist schon viele Jahre verlassen und die Natur holt es sich Stück für Stück zurück. „Manchmal dekorieren Besucher die Orte um“, sagt Nic. „Da werden dann zum Beispiel Tabletten oder ein Gebiss auf den Nachttisch gelegt.“
Als im Jahr 1804 tief unter der Erde in den Katakomben von Paris eine Leiche gefunden wurde, waren die Schlüssel an ihrem Gürtel der einzige Hinweis auf ihre Identität. Sie wiesen den Toten als Philibert Aspairt aus, den Pförtner des Val-de-Grâce-Krankenhauses, der elf Jahre zuvor spurlos verschwunden war.
Das Motiv für seinen Ausflug in die Katakomben konnte nie geklärt werden, es wird jedoch vermutet, dass er aus freien Stücken in die Unterwelt hinabgestiegen war – auf der Suche nach einem Abenteuer. Das würde ihn zum ersten Cataphilen machen: einem „Katakombenliebhaber“ und einer Art Urvater der Idee, die abwegigen, unerlaubten Orte seiner Stadt zu erforschen. Bis heute erkunden Cataphile in fünf bis 35 Metern Tiefe die verschlungenen Gänge der ehemaligen Steinbrüche unter der französischen Hauptstadt – obwohl das Betreten offiziell verboten ist.
Galerie: Lost Places – die Schönheit des Verfalls
Oft sind es genau dieser Reiz des Verbotenen und der damit einhergehende Nervenkitzel, die Menschen dazu bewegen, verlassene, für die Öffentlichkeit gesperrte Orte zu besuchen. Nic, der nicht möchte, dass sein richtiger Name veröffentlicht wird, betreibt dieses Hobby seit dem Jahr 2012. Er sucht, betritt und dokumentiert „Lost Places“ und veröffentlicht die Bilder auf seiner Internetseite. Da er unter diesem Kurznamen in der Szene bekannt ist, möchte er seinen vollständigen Namen nicht nennen. „Es fing damit an, dass meine Freunde und ich nach ein wenig Grusel und Abenteuer suchten. Das haben wir auch gefunden – ich war sofort fasziniert“, sagt er über seinen ersten Besuch eines verlassenen Orts. „Dass sich um dieses Haus auch noch einige Geschichten rankten, machte das Erlebnis umso spannender. Ich denke, vielen Leuten geht es so: Es beginnt oft mit Abenteuerlust und dem Drang, etwas Verborgenes zu entdecken.“
Nic zufolge hat die „Lost Places“-Community in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren einen regelrechten Boom erlebt – unter anderem weil immer mehr Videos verlassener Orte auf YouTube gepostet werden. Auch auf Instagram und Facebook teilen Zehntausende ihre Fotos und Erfahrungen. Durch das aktuelle rasante Wachstum der Gemeinde wird der Eindruck vermittelt, es handele sich bei ihr um eine Erfindung unserer Zeit. Tatsächlich ist „Lost Places“ jedoch lediglich ein neuer Name für eine Idee, die schon jahrzehntealt ist.
Eine Aufnahme der Bärenquell Brauerei in Ost-Berlin aus dem Jahr 2017. „Die Gebäude stehen seit 1994 leer und wurden seitdem oft von Street Artists aufgesucht, die teilweise sehr schöne Wandgemälde hinterlassen haben.“
Die Geschichte von UrbEx
Bei den ersten Gruppen, die sich auf Erkundungstouren an verlassene Orte begaben, handelte es sich im wahrsten Sinne des Wortes um eine Untergrundbewegung: Wie die Cataphilen in Paris zog es diese Pioniere größtenteils in unterirdische Tunnel, Höhlen und Bunker. Im Jahr 1977 gründete sich in San Francisco der Suicide Club. Die erste moderne Gesellschaft zur Stadterkundung traf sich zu Cocktailpartys auf den Dächern verlassener Gebäude und erforschte in Abendgarderobe das städtische Abwassersystem, bis sie Anfang der Achtzigerjahre in die Cacophony Society überging.
Davon unabhängig formierte sich im Jahr 1986 in Melbourne, Australien, der bis heute aktive Cave Clan. Ziel seiner Mitglieder war und ist es, Orte zu erkunden, die anderen nicht einmal in den Sinn kämen – einfach nur, um zu sehen, was man dort entdecken kann. Das können natürliche Höhlen sein, doch die meisten Ausflüge führen den Cave Clan in die Kanalsysteme unter australischen Städten.
Auch die Diggers of the Underground Planet, die Vadim Mikhailov im Jahr 1990 in Moskau ins Leben rief, waren unter der Erdoberfläche aktiv. Die Gruppe soll im Jahr 1994 Teile der Tunnel der mysteriösen Metro-2 gefunden haben, eine Bestätigung von offizieller Seite gab es dafür jedoch nicht.
Lost Places in Deutschland
In Deutschland kam es im Jahr 1997 zu der Gründung des Vereins Berliner Unterwelten e.V., nachdem seine Mitglieder schon seit den späten Achtzigern den Untergrund der Stadt erforscht hatten. Dietmar Arnold, Vereinsvorsitzender und Autor verschiedener Bücher zu dem Thema, war von Anfang an dabei. „Wir waren fast alle Berlinerinnen und Berliner und alle an der Geschichte der Stadt interessiert. Vom Historiker über den LKW-Fahrer bis hin zum Fotografen und Werkzeugmeister war alles dabei – eine bunte Mischung.“ Berlin eignete sich für die Erkundungstouren besonders gut: Es war die Zeit nach der Wende. „Die Plätze im Untergrund waren hier unbesetzt“, sagt Dietmar Arnold.
Dietmar Arnold vom Berliner Unterwelten e.V. im Jahr 1992 im Bunker des alten Hotel Adlon in Berlin. „Unsere Idee war es seinerzeit, für Gäste des Adlons dort Spezialtouren anzubieten. Die Idee hat bei Adlon leider niemand aufgegriffen.“ Der Bunker unter dem Pariser Platz sei immer noch zu Großteilen erhalten.
Jürgen Wedemeyer von den Berliner Unterwelten erkundet im Jahr 1998 den Flakturm am Humboldthain in Berlin.
Die Gruppen, die ihre und andere Städte auf unkonventionelle Weise erforschten, waren so vielfältig wie verstreut. Die Verbreitung des Internets in den Neunzigerjahren machte durch Webseiten und geheime Newsletter eine Vernetzung der internationalen Szene möglich, die nun einen Namen bekam: „Urban Exploration“ – also Stadterkundung, – kurz UrbEx.
Geprägt wurde der Begriff Mitte der Neunzigerjahre durch Jeff Chapman aus Toronto, der sich Ninjalicious nannte. Er war selbst leidenschaftlicher UrbExer und Herausgeber des Fanzines Infiltration – the zine about places you are not supposed to go. Als eine treibende Kraft der Bewegung stand er mit den meisten Gruppen in Kontakt, organisierte Events und veröffentlicht kurz vor seinem Tod im Jahr 2005 das Buch Access All Areas: a user’s guide to the art of urban exploration – ein Leitfaden für Urbexer auf der ganzen Welt.
Nachdem Julia Solis, Autorin und Organisatorin von Events an den unterirdischen und verlassenen Orten, als Kind mit ihren Eltern von Hamburg nach Los Angeles gezogen war, kam sie in den späten Achtzigerjahren über einen Bekannten in die UrbEx-Szene. 1998 startet sie – teilweise mit ehemaligen Mitgliedern des Suicide Clubs – eine eigene Gruppe und die Website Dark Passage.
„Aufgrund von Veränderungen in Gesundheitswesen und Wirtschaft wurden in den Neunzigerjahren viele Krankenhäuser, Einrichtungen und Fabriken geschlossen. Niemand wusste etwas mit den riesigen Baustrukturen anzufangen“, sagt sie. Im Jahr 1997, auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, konnte man überall in Europa und Nordamerika leerstehende Gebäude finden und erkunden. „UrbEx war noch eine relativ unbekannte Nischenbewegung, sodass die Orte damals wie unberührte Zeitkapseln waren.“
Die größte Gefahr: Vandalismus
Ein Zustand, der so heutzutage kaum noch vorzufinden ist. Bei den „Lost Places“, die die Community heute aufsucht, handelt es sich in erster Linie um oberirdische Gebäude, die naturgemäß verwaist und ungeschützt sind: Vandalismus ist somit das größte Problem, mit dem UrbEx zu kämpfen hat – und das, obwohl es dies betreffend in der Szene strenge Richtlinien und einen Ehrenkodex gibt.
„Man soll den Ort so verlassen, wie man ihn vorgefunden hat“, erklärt Nic. „Etwas aufzubrechen, mitzunehmen oder zu zerstören wird in keiner Weise geduldet. Leider ist es mittlerweile ein echter Kampf.“ Deswegen sei der Schutz der Adressen so wichtig: Man wolle es Leuten mit schlechten Absichten nicht zu einfach machen.
Ihm zufolge hat der Vandalismus mit der zunehmenden Bekanntheit des „Lost Places“-Hobbys zugenommen. Gerade die UrbExer auf YouTube sprächen eine sehr junge Community an, in der leichtfertig Adressen verlassener Orte weitergegeben würden. So passiere es heute schneller und öfter, dass in einem Gebäude randaliert, es ausgeraubt oder angezündet wird. Taucht in der Community ein neuer Ort auf, müsse man sich heute mit dem Besuch beeilen. „Nach drei Wochen sieht es dort definitiv nicht mehr so aus wie am Anfang. Manche Orte sind am Wochenende derart frequentiert, dass man sich die Klinke in die Hand gibt.“
Der Hof eines verlassenen Klosters. Besuche an verlassenen Orten werden heute fast immer mit Fotos oder Videos dokumentiert – anders als in der frühen Urb-Ex-Szene. „Ich kenne einige, die nach wie vor die Orte erleben, ohne Fotos zu machen,“ sagt Nic. „Das ist sehr puristisch und wird meist sehr lange schon so gemacht.“
Auch Dietmar Arnold, dessen Verein sich stark für die Denkmalpflege und Forschung einsetzt, sieht darin ein großes Problem. „Am Anfang gab es natürlich auch bei uns Lost-Places-Aktivitäten. Aber wir haben die Orte weder beschädigt noch zerstört, sondern in der Regel später für den Denkmalschutz gesorgt“, sagt er. „Da wir einen guten Namen zu verlieren hatten und haben, waren wir von Anfang an darauf bedacht, keine illegalen Aktionen durchzuführen.“ Man habe aber Sympathien für diejenigen, die ‚„Lost Places“ so belassen, wie sie vorgefunden wurden.
Vom Hotel bis zur Kegelbahn
Die verlassenen Orte, die die „Lost Places“-Community aufsucht, sind vielfältig: von Hotels und Krankenhäusern über Wohnhäuser bis hin zu Industrieanlagen. Zwar erfüllt nicht jedes alte Gebäude die Kriterien eines Denkmals, aber ob es das tut, ist Randalierern ohnehin egal. Das weiß auch Corinna Tell, Referentin des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz. „Dass nicht alle Denkmale so erhalten werden, wie sie sollten, ist uns Denkmalpflegern schmerzlich bewusst“, sagt sie. „Grundsätzlich ist es gut, wenn sich Interessierte mit verlassenen Denkmalen beschäftigen und auf deren Bedeutung hinweisen. Problematisch wird es, wenn sie sich dafür unbefugt Zutritt auf privates Gelände verschaffen und dabei etwas zerstören.“
Nicht immer würden die Schäden durch die Community selbst verursacht: oft sei die bloße Veröffentlichung von Bildern der Orte ein Fingerzeig für Randalierer und Diebe, die in die Gebäude einbrechen und wertvolle Kupferleitungen stehlen.
Doch nicht nur die Zerstörungswut Einzelner führt zu einem Verschwinden der Orte, auch Behörden und Stadtplaner tragen ihren Teil dazu bei. Gleichzeitig mit der Gründung von Berliner Unterwelten e.V. veröffentlichte Dietmar Arnold in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Ingmar und dem Fotografen Frieder Salm das Buch Dunkle Welten – Bunker, Tunnel und Gewölbe unter Berlin. Viele der unterirdischen Anlagen, die seit den späten Achtzigerjahren für das Buch dokumentiert worden waren, waren laut Dietmar Arnold zu dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung bereits verschwunden oder zerstört. „In Berlin hat man sich seinerzeit – überall bauten die Investoren – für unterirdische geschichtsträchtige Orte nicht interessiert. Daher benötigten diese Bauwerke eine Lobby. Das wurde dann unser Verein.“
Für Julia Solis ist der größte Unterschied zwischen UrbEx damals und heute der schwindende Zugang zu verlassenen Baustrukturen, die man erforschen könnte. „Fast alle verlassenen Orte, die ich in Deutschland besucht habe, wurden inzwischen zerstört, permanent abgeriegelt oder saniert“, sagt sie.
„Lost Places“ suchen und finden
So stellt sich die Frage, wie UrbExer heutzutage überhaupt noch unberührte „Lost Places“ finden. Nic zufolge gibt es eigentlich nur einen Weg: aktives Suchen. „Luftaufnahmen, Stöbern in Archiven, Zeitungsartikel und der Austausch mit Kontakten, die sich über die Jahre entwickelt haben, sind meistens meine Wege – und wenn ich unterwegs bin, halte ich dauerhaft die Augen offen und entdecke so sehr viel.“
Doch das Betreten eines verlassenen Orts ist nicht ungefährlich: Erst im Dezember 2021 verunglückte ein „Lost Places“-Fotograf beim Erkunden eines verlassenen Betriebsgeländes in Eschweiler tödlich. „Es ist grundsätzlich ratsam, nicht alleine loszuziehen“, sagt Nic. Wichtig sei außerdem eine Prüfung der Bausubstanz, bevor man ein Gebäude betritt.
Aus rechtlicher Sicht stellt jedes unrechtmäßige Betreten eines umfriedeten Geländes außerdem mindestens einen Hausfriedensbruch dar, verschafft man sich gewaltsam Zutritt, gilt das sogar als Einbruch. Nic rät dazu, eine Erlaubnis einzuholen und den geplanten Besuch bei Behörden oder zumindest den Nachbarn anzumelden.
Ein verlassenes Schwimmbad irgendwo in Deutschland. Bei Nics Besuch lag noch der Geruch von Chlor in der Luft. In der neuen „Lost Places“-Community, die in den letzten Jahren entstanden ist, bestehe oft ein Gegeneinander im Wettbewerb um die besten Orte, sagt er.
Die meisten UrbExer reizt aber nicht die Gefahr, sondern das Wandeln auf den Spuren einer mysteriösen Vergangenheit. Bei großen, bekannten Gebäuden sei es natürlich leicht, mehr über ihren Hintergrund zu erfahren, „bei kleinen verlassenen Häusern kann man über das Schicksal oft nur Vermutungen anstellen“, sagt Nic.
Dunkle Flure, in denen sich die gemusterte Tapete von der Wand schält, verstaubte Möbel, auf denen Gegenstände liegen, als hätte sie eben gerade erst jemand dort zurückgelassen oder der große Saal eines alten Krankenhauses, in dessen Mitte eine vermooste Liege steht – diese Bilder beflügeln die Fantasie. Für Julia Solis sind verfallene Räume kein Stillleben, sondern der Einstieg in eine Geschichte, die nicht immer gruselig sein muss, sondern auch lustig, mysteriös oder poetisch sein kann. „Sie sind Portale zu Erzählungen aus anderen Welten.“
Ein Trend mit Potenzial
Dank der von UrbExern erstellten Fotos und Videos, die im Netz kursieren, muss man heute nicht unbedingt selbst „Lost Places“ erkunden, um diese faszinierenden Welten zu betreten. Es gibt deutschland- und weltweit unzählige Foren und Plattformen, auf denen Erfahrungen geteilt werden – und das Veröffentlichen von Bildern ist ein fester Bestandteil des Hobbys.
„Natürlich mache ich die Fotos auch, um sie anderen zu zeigen“, sagt Nic. „Der dokumentarische Teil ist für mich wichtig. Ich fotografiere viele Objekte manchmal sehr kurz vor dem Abriss und möchte auf meinen Bildern Gebäude mit historischem Wert für die Nachwelt festhalten.“
Würde die aktive „Lost Places“-Community diesen Ansatz weiterverfolgen, könnte sie aufgrund ihrer Größe und guten Vernetzung einen unerwarteten Beitrag zur Denkmalpflege leisten. „Wir freuen uns sehr, wenn Bürger ihre Lieblingsdenkmale und Kulturlandschaften fotografieren und diese Fotos einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen“, sagt Corinna Tell. Sie vermutet, dass der ein oder andere Denkmalpfleger die Bilder der Community schon genutzt hat, um auf den Zustand schützenswerter Baustrukturen hinzuweisen und Schritte zur Sicherung einzuleiten.
Ob sie nun den neuen UrbExern im Internet folgen oder erfahrene Pioniere der Bewegung wie Julia Solis auf ihren Rundgängen begleiten: Die Zahl der Menschen, die von verlassenen Orten fasziniert sind, steigt nach wie vor. „Im Jahre 2000 haben wir mit 3.000 Gästen auf unseren Touren in die Berliner Unterwelten angefangen, 2019 konnten wir insgesamt mehr als 365.000 Gäste aus der ganzen Welt begrüßen“, sagt Dietmar Arnold. „Ich denke, diese Zahlen sprechen für sich.“