Hexenverfolgung: „Die Walpurgisnacht macht mich sauer“

Fröhlich um das Feuer in den Mai tanzen – Historiker Kai Lehmann findet das problematisch: Man vergesse die Hexenverbrennungen. Für einen der größten Massenmorde der europäischen Historie fehle die Erinnerungskultur. Deshalb sammelt er seit Jahren Daten.

Von Marina Weishaupt
Veröffentlicht am 28. Apr. 2023, 15:52 MESZ
Brockenhexen

Die Brockenhexen zeugen als beliebte Mitbringsel von einer regelrechten Tourismuskultur im Harz, deren Höhepunkt die Walpurgisnacht vom 30. April auf den 1. Mai darstellt. Viele Menschen vergessen dabei jedoch die grausame Geschichte hinter dem heute so bekannten Brauch. 

Foto von flori0 / Adobe Stock

Kai Lehmann ist Historiker und Leiter des Schlossmuseums Wilhelmsburg im thüringischen Schmalkalden. Seit über zehn Jahren befasst er sich mit der Aufarbeitung eines der düstersten Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte: der Hexenverfolgung. Das Wissen der Bevölkerung, sagt er, sei gespickt mit Vorurteilen und Klischees – und das sei gefährlich. 

Herr Lehmann, in der Nacht auf den 1. Mai feiern die Menschen in Deutschland die Walpurgisnacht. Sie kritisieren diesen Brauch. Warum? 

Weil die Menschen überhaupt nicht wissen, was sie da machen. Wir haben in Deutschland zu Recht für vieles eine Erinnerungskultur. Nicht aber für die Hexenverfolgung. Im Gegenteil: Im Harz lebt eine ganze Tourismusindustrie davon. 

Kann man das nicht losgelöst betrachten?

Ich bin alles andere als eine Spaßbremse, aber die Walpurgisnacht – also das Treffen mit dem Teufel – taucht in jedem Hexenprozess auf, den ich bisher ausgewertet habe. Die Menschen mussten unter unsäglichen Folterqualen gestehen, dass sie Hexen sind, obwohl sie keine waren. Und heute wird feuchtfröhlich um die Feuer getanzt. Entschuldigen Sie, aber das macht mich sehr sauer. Mir geht es dabei natürlich nicht nur um diese eine Nacht. Insgesamt fehlt hierzulande das Bewusstsein für den Teil der Geschichte.

Das wollten Sie ändern: Sie werten seit Jahren historische Prozessakten aus und haben eine Datenbank angelegt, in der Sie über 100.000 Einzelfälle der Hexenverfolgung gesammelt haben. Wie kamen Sie dazu?

Ich habe vor zehn Jahren eine große Ausstellung namens „Luther und die Hexen“ gemacht. Darin habe ich viele Fälle der Hexenverbrennung aus der näheren Umgebung vorgestellt, denn: Die Leute identifizieren sich erst mit einem Thema, wenn es sie betroffen macht – wenn sie von bekannten Namen lesen. Ich dachte mir, wenn das im südlichen Thüringen so gut klappt, wieso nicht für ganz Deutschland? Heute umfasst die Datenbank Fälle des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das schließt große Teile Europas mit ein. 

Wie gelangen Sie an diese Daten? 

Alte Unterlagen und Prozessakten gibt es überall: Selbst in den kleinsten Dörfern haben sich Dorfpfarrer oder Schulmeister mit der Hexenverfolgung beschäftigt. Wir sammeln provinzielle Literatur, ordnen sie und werten sie aus. 

Im beispielhaften Örtchen Schmiedefeld lebten Ende des 16. Jahrhunderts etwa 150 Menschen. Mindestens 20 Menschen kamen im Zuge der Hexenverfolgung zu Tode. Je nach Quellenlage liefert die Datenbank auch die jeweiligen Hintergrundgeschichten einiger Fälle.

Foto von Kai Lehmann, Ronald Füssel, Manfred Wilde

Man liest in vielen Quellen von europaweit drei Millionen Prozessen. Stimmt diese Zahl?

Nein, diese Zahl ist viel, viel zu hoch. Eine konkrete Zahl werden wir nie nennen können. Es gibt zwar viel Material, aber die Aktenverluste sind so immens, dass eine sehr hohe Dunkelziffer vorliegt. Nicht nur durch Kriege und Brände gingen Nachweise verloren: Viele Akten sind bewusst vernichtet worden. Als die Obrigkeiten irgendwann einmal gemerkt haben, dass es gar keine Hexen gibt, war ihnen das Handeln ihrer Vorgänger so peinlich, dass sie diese Daten verschwinden ließen. Aber ich bin kein Freund von Zahlen, sie malen ohnehin ein falsches Bild. 

Das müssen Sie erklären.

Ich kann ein Beispiel aus meiner Region nennen, bei dem acht Frauen aus einem Dorf hingerichtet wurden. Das nehmen Sie erst einmal so hin. Wenn ich Ihnen aber sage, dass diese acht Frauen innerhalb eines Jahr hingerichtet wurden – in einem Dorf mit 150 Einwohnern, dann relativiert sich das. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Bevölkerung damals deutlich geringer war. 

Welche Informationen können Sie sonst aus alten Dokumenten ziehen?

Die Hexenprozessakten geben uns seltene Einblicke in Alltagssituationen des einfachen Volkes. Die Zeugen erzählen reale Geschichten, die dann natürlich irgendwann in den magischen und mystischen Bereich abdrifteten. Aber der Kern basiert auf Realitäten. Was für uns erklärbar ist, war für die Menschen im 16. und 17. Jahrhundert ein absolutes Mysterium. Der Begriff Hexenschuss kommt nicht von ungefähr: Man dachte, man sei verhext worden, eine medizinische Erklärung gab es damals nicht. Und wenn etwa die Schweinepest über die Lande zog oder die Kleine Eiszeit für Ernteausfälle sorgte, dann wurde nach Schuldigen gesucht. Willkürliche Anschuldigungen aus Hass oder Rache gab es natürlich auch. Aber das war wirklich die Ausnahme. 

BELIEBT

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    Gab es Prozesse, bei denen die Frauen freigesprochen wurden?

    Es sind Prozesse dabei, die nicht auf dem Scheiterhaufen endeten, sondern mit einem Landesverweis oder einer Freilassung. Aber wenn man einmal mit dem Stigma der Hexe versehen war, kam man aus dieser Nummer nicht mehr heraus. Auch nach einem Freispruch wurde man gemieden und ausgegrenzt. Solche Geschichten gibt es viele.

    Können Sie ein Beispiel nennen?

    Hier in der Region Südthüringen gab es den Fall einer Frau, die nach einem Freispruch von einem aufgebrachten Mob gesteinigt wurde – weil man sie weiterhin als Hexe ansah. Eine andere Frau war 739 Tage eingekerkert in einem dunklen Verlies, überstand zweimal die Folter, ohne zu gestehen. Um den städtischen Frieden zu wahren, bestrafte man sie mit Landesverweis. Auf Händen und Füßen kroch sie – nach der Folter massivst beeinträchtigt – aus der Stadt und starb schließlich einsam in einer Laubhütte. Offiziell kamen sie beide mit dem Leben davon – entscheiden Sie selbst, ob diese armen Geschöpfe Opfer der Hexenverfolgung sind oder nicht. 

    Warum liegt Ihnen die Hexenverfolgung so am Herzen?

    Weil wir aus der Geschichte lernen müssen. Um den Äquator herum ist das Thema tödlich aktuell: Dort glauben große Teile der Bevölkerungen an Hexen. Jährlich verlieren tausende Frauen, Männer und Kinder ihr Leben wegen vermeintlicher Hexerei, werden Kinder für Krankheiten wie AIDS oder Covid-19 verantwortlich gemacht. Und auch hier ist das Thema heute so aktuell, wie es damals aktuell war: Die Mechanismen der Hexenverfolgung greifen nach wie vor. Wir verbrennen zwar nicht mehr, aber eine angsthabende Gesellschaft schreckt auch heute nicht vor Diffamierung und Ausgrenzung zurück. Eine Erinnerungskultur könnte helfen, das zu ändern. 

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